Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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MACHINE GUN

brötzmann, parker, breuker, van hove, kowald, niebergall, bennink, johansson, brötzmann, zipelius (5/1968)

mai 1968. ich habe viel sympathie für das wegbrettern von heuchelei, kleinkariertheit, anpassung, verharmlosung, autoritarismus, restauration. gesellschaften erproben das freie sprechen, den freien ausdruck. an sehr vielen orten auf der welt. aber man kann auch mit der musik anfangen, die durchaus arrangiert, geordnet, konzipiert ist, setzungen vornimmt: ausgeschriebene themen, vorgegebene solo-ordnungen, kontraste, konstellationen. das ist kein wildes alles-auf-einmal, hier reicht das spektrum vom überblasenen krawall bis zum einzelnen angerissenen ton auf dem daumenklavier. nichts davon ist ohne FREE JAZZ und ASCENSION zu denken (die hier noch anstehen), aber neu ist die schnelligkeit, das stop-and-go, das hauruck von aktion, impuls, stille und reaktion. da liegen schon punk und zorn (john) in der luft, und noise in den welligen soundbewegungen: keine wand, vor der man steht, an der man apprallt, sondern ein dynamisches wechselbad, und man ist mittendrin, wenn man sich darauf einlässt.

was auch auffällt, ist, dass sich diese musik in der welt verortet, sich nicht lokal abschließt wie andere improvisationsszenen. die tänzerischen figuren, die r&b-bläsersätze, das südafrikanische thema, beides am ende von zwei stücken, hat die ohren weit offen zu den erfahrungen von anderen. außerdem haben wir es hier mit einem transnationalen netzwerk zu tun, das sich nicht im aufstampfen in der vertrauten guten stube erschöpft: ein deutsch-niederländisch-belgisch-schwedisch-britisches spektrum des freistoßes, das gleichwohl männlich-mackerhaft anschlüsse sucht an eine größere bewegung.

es gab vor ein paar jahren überschneidungen dieses lauten ausdrucks mit „querdenkerischen“ anti-autoritären me-first-schreihälsen. da muss man natürlich differenzieren, und das hat vielleicht weniger mit den musikern selbst zu tun als mit ihren fans bzw. denen, für die sie auch über 50 jahre später den soundtrack liefern. der partner einen freundes von mir ist vor ein paar tagen an covid-19 gestorben – ja, es ist 2025, sowas passiert noch auf der welt, woanders. womit ich zum ausdruck bringen will, dass ich skepsis habe vor schreienden männern. aber auf MACHINE GUN höre ich auch witz, offenheit und einen feinen sinn für schönheit. und ich möchte diese erfahrung eines vollfrontalen wegbretterns auf keinen fall missen. ein stück auf MACHINE GUN heißt „responsible“.

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