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SPACE IS THE PLACE
sun ra, akh tal ebah, hadi, allen, davis, [northington], gilmore, thompson, omoe, patrick, humphries [andere quelle: wright, richards, underwood], atakatun, odun, tyson, wright, banks, holton, michel, abraham, bigsby (19.& 20.10.1972)
1972 unterrichtete sun ra in berkeley, kalifornien. ein film entsteht, der eigentlich nur musik und band und ein planetarium in szene setzen will, aber die hauptfigur mischt sich ein, geht ins kino, hat ideen. es reicht sun ra nicht, allein in einem von musik angetriebenen raumschiff unterwegs zu sein, er sieht ein, dass er die schwarze bevölkerung der erde retten muss. aber kann sie überzeugt werden, mit ihm zusammen eine diaspora auf einem fernen planeten zu gründen, wenn gleichzeitig FBI, CIA und die NASA intrigieren und der militante flügel der schwarzen bürgerrechtsbewegung ihn zum „faker“ erklärt? ein regisseur hilft aus, durch ihn kommen gangster-motive und sexszenen in die geschichte (für sun ra ein graus, aber er erinnert sich an szenen in chicago, als er sich orte mit dieser szene geteilt hat). szenen werden gedreht, mit ihm und ohne ihn. erst später kommt ein drehbuchautor dazu, der das zusammenfügen soll, was schon gedreht wurde. sun ra lässt die sexszenen wieder hinausschneiden, später möchte er, dass der film schöner und poetischer wird, aber nachgedreht wird nicht; noch viel später, da ist der film längst ein undergroundklassiker, findet er es in ordnung, die dreckigen, weltlichen elemente wieder einzufügen. die afrofuturistische idee wird ja dadurch nur komplexer.
1972 ist auch herbie hancock nach kalifornien gezogen und nimmt dort HEAD HUNTERS auf. parallel entsteht ein musikalischer nachklapp zum sun-ra-film (zu dem es vorher schon einen veritablen soundtrack gab), als projekt von ed michel, das arkestra für impulse aufzunehmen. das klappt erstmal nicht – sun ra nimmt sich den vertrag mit nach hause und tauscht bei den positionen einfach „el saturn“ und „ABC“. aber irgendwie entsteht SPACE IS THE PLACE für blue thumb. zwei weltraumfluchten mit irdischem chaos dazwischen, von baker bigsby luzide aufgenommen – immer wieder wird der klangraum geöffnet, das dirigat des leiters durch den fokus im mix unterstützt, die eigenartige instabilität der band als agiler organismus inszeniert. farfisa-impulse glissieren nach oben weg, eine flexible percussion (es hört sich an, als würde immer gerade jemand anderes die beiden drumkits übernehmen, wenn die hände frei sind) swingt leicht durch den raum, die vier sängerinnen machen sich unbeirrte vier reime auf die eine textzeile und werden dabei von musikern kommentiert, stoisch hält das baritonsax das komplizierte grundmotiv aufrecht, manchmal vom e-bass (pat patrick) unterstützt. die space-orgel kriegt immer wieder stoff, um einen sprung zu machen. „space is the place“ ist dabei kein dadaistisches wortspiel, sondern eine sanfte anwerbung der community: kommt mit! euer ort ist woanders!
auf der zweiten seite dann was ganz anderes – eine swingnummer, ein dunkler marsch, eine freie kaskade. wieder passt alles nur so gerade eben zusammen, was programm ist, denn geübt haben die ja miteinander unablässig und hätten das wahrscheinlich auch so exekutieren können wie das rias tanzorchester. aber die instabilität ist das benzin, mit einem bein sind alle schon woanders, der rhythmus hält sie nicht am boden, aber aus eigener kraft kommen weder das terror-altsax-duo allen/davis, noch der manchmal frei drehende gilmore aus der umlaufbahn. erst mit der rakete nummer 9 klappt das, und da sind auch die selbstbewussten stimmen wieder da, die lecture ist verdaut. der wind verrät nicht, wo er hinweht, schreibt sun ra in berkeley auf – und genausowenig mach ich das auch. ich überrede nicht, ich führe nicht: „you need wings to ride with the spirit of the air!“
ich hatte gerade großen spaß, SPACE IS THE PLACE im nachgang von HEAD HUNTERS zu hören. clavichord-ostinato hier, das die soli anstößt, das von der space-orgel angestoßene baritonsax-ostinato dort. beides sind aushandlungen von luft und boden. und im film, den ich mal als queeres musical in einem uniseminar anmoderiert habe, sind beide ansätze sichtbar und verstehen sich. aber hildesheim 2021 war halt nicht berkeley 1972.
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