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Lucerne Festival (3/5)
KKL, Luzern – 27. August 2025 – «räsonanz» – Stifterkonzert
Netherlands Radio Philharmonic Orchestra
Netherlands Radio Choir
Karina Canellakis Dirigentin
Liv Redpath Sopran
Bertrand Chamayou Klavier
PIERRE BOULEZ (1925–2016): „Le Soleil des eaux“ für Sopran, Chor und Orchester
UNSUK CHIN (*1961): Klavierkonzert
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ROBIN DE RAAFF (*1968): L’Azur. Kantate für gemischten Chor und Orchester nach dem Gedicht L’Azur von Stéphane Mallarmé
(Uraufführung – Auftragswerk von Lucerne Festival und NTR/ZaterdagMatinee mit Unterstützung der Fondation Pierre Boulez)
PIERRE BOULEZ: „Don“ aus „Pli selon pli“ für Sopran und Orchester
Das jährliche räsonanz-Konzert (hab ich in den ersten Jahren meiner Luzern-Fahrten nicht immer im Auge gehabt und öfter verpasst – inzwischen weiss ich es besser. Gestern stand wieder Pierre Boulez im Zentrum, einerseits mit den Stücken, die dem Konzert den Rahmen gaben, andererseits insofern, als er ein früher Förderer von de Raaff war und dessen beeindruckende neue Chor-Kantate auch eine Hommage an Boulez ist – und Chin, so sagte sie in der Einführung (da war meine Handykamera mit dem Licht hoffnungslos überfordert, im Konzertsaal die meiste Zeit auch, aber nicht so stark), hat Boulez zumindest im Hinblick auf seine Gedankenwelt und intellektuelle Welt sehr bewundert. Dazu kommt, dass es in ihrem Klavierkonzert Gamelan-Anklänge gibt, Marimbas, Vibraphon, Gongs, Glocken … und da durchaus eine klangliche Parallele gezogen werden kann zu einigen von Boulez‘ Werken.
Los ging es also mit den zwei Orchesterliedern nach René Char, die er schon 1948 in einer ersten (und erneut 1950 und 1958) Fassung fertiggestellt hatte, bevor das Stück 1965 seine finale Form fand. Liv Redpath sang den Solopart souverän und auch in der hohen Lage, wenn es etwas schriller wird, sehr klangschön. Etwas weniger überzeugend vielleicht der Chor – aber das hat wohl mehr mit Boulez‘ Stück zu tun, der Rolle, die er er dem Chor darin gibt, als mit dem später ganz vorzüglich auftretenden Niederländischen Rundfunkchor. Danach kurze Umbaupause … und ein paar Minuten Wartezeit. Allem Anschein nach fehlten die Noten des Solisten, die nach ein paar Minuten einer der Bühnenleute auf den Flügel legte. Danach Auftritt Canellakis und Chamayou, grinsend als hätten sie was ausgefressen (ich weiss nicht, wo im KKL die Künstlergarderoben liegen, aber man kann da problemlos ein paar Minuten durch Gänge und Treppenhäuser eilen). Chin (die 2024 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet wurde, den heuer Simon Rattle kriegt – die NZZ handelt ihn nach dem Schostakowitsch/Mahler-Konzert von neulich bereits als neuen Mann im Feld der Kandidat*innen für die Nachfolge von Chailly als Leiter des Festivalorchesters – das wäre toll!) war davor in der Einführung, sprach ein wenig über Boulez – das Dauerthema bei der Neue-Musik-Schiene, links auf dem Foto ist Mark Sattler zu sehen, der diese programmiert – und über ihr Stück.
Dieses Klavierkonzert entstand 1996/97 und war ihre erste Gelegenheit für einen grossen Auftritt (ein Auftrag der BBC, vom BBC National Orchestra of Wales mit Rolf Hind uraufgeführt). Sie habe daher alles reingepackt, was sie damals drauf hatte, zu sagen hatte, ausdrücken wollte. Generell scheint es ein Credo zu sein, dass sie nicht will, dass ihre Werke bei einmaligem Hören auch gleich verstanden oder wirklich erfasst werden können. Sehr dichte Musik ist das, in der das Klavier – anscheinend irre schwierig, stellenweise sah das ziemlich akrobatisch aus, ich sass leider zu mittig, um die Hände sehen zu können – immer wieder vom Orchester verschluckt wird, in dem Harfe, Celesta, Mandoline oder das erwähnte Schlagwerk immer wieder in den Dialog mit dem Solisten treten. Das Stück ist relativ klassisch in der Form, kommt aber mit vier Sätzen daher – und mit einem Schlusssatz, in dem der Pianist dann, wie Chin sagte, doch noch zeigen kann, was er drauf hat: sprich die Solostimme kriegt mehr Raum und einige glänzende, längere Passagen. Riesiger Applaus danach – nicht nur für Chamayou sondern auch für das tolle Orchester mit seiner hervorragenden Dirigentin (sie hat fing beim Radio Filharmonisch Orkest in der Saison 2029/20 an und hat anscheinend inzwischen bis 2031 verlängert). Und natürlich für die Komponistin, die danach auch noch rasch auf die Bühne kam.
Nach der Pause die grosse Uraufführung – Robin de Raaff hatte 1995 Boulez bei einer Masterclass sein erstes Streichquartett vorstellen können, und erhielt dafür Lob. Er vertonte nun ein Gedicht von Stéphane Mallarmé für Chor und Orchester, nannte das Werk völlig zu Recht eine Kantate – und hier blühte der Chor (den Namen des Chorleiters muss ich später noch im Programmheft nachgucken und hier ergänzen) förmlich auf. Den Text mitzulesen gab ich schnell auf, so dicht war das alles, so eng verwoben. Die Besetzung war wohl die grösste des Abends (es gab für jedes Stück Umbaupausen), ähnlich wie bei „Le Soleil des eaux“ vermutlich? Das Orchester spielte, soweit ich sehen konnte, mit 14-12-10-8-6 Streichern, wenigstens doppelten Bläsern (inkl. Trompeten und Posaunen, Hörner konnte ich nicht sehen, zwei bis vier wohl, eine Tuba gab es auch mehrmals zu hören – auch bei Chin), bis zu drei Harfen und zwei Tastenleute (jeweils einfach besetzt, erst bei Boulez am Ende waren sie zu dritt bzw. zu zweit, und bei Boulez am Schluss kam zur Mandoline auch noch eine Gitarre dazu). Ich kann de Raaffs Stück nicht wirklich beschreiben, es ist sehr dicht, sehr reich an Klangfarben, nicht besonders schwierig fand ich – eine Musik, die oft irgendwie schwebt, mit orchestralen Zwischenspielen, deren erstes in der Hohen Lage liegt und die dann allmählich in die Tiefe streben … bis der Chor am Schluss zwei Zeilen flüstert, die de Raaff dem Poem von Mallarmé hinzugefügt hat. Das Orchester war einmal mehr toll, es gab da und dort kurze Solopassagen, die zentrale Harfe sass links an der Bühnenkante hinter den ersten Violinen. Der Applaus war hier etwas verhaltener, das Stück war wohl das herausforderndste des Abends – mir gefiel es sehr gut (am 31.8. wird es in Berlin aufgeführt, in Amsterdam wohl dann in der Saison 2026/27, da scheint ist das Datum noch nicht bekannt).
Am Ende dann der Anfang: „Don“ – auch auf einen Mallarmé-Text – ist das erste Stück aus Boulez‘ Zyklus „Pli selon pli“ für Sopran und Orchester – die Sängerin, die das Stück als letzte in Luzern aufführte, Barbara Hannigan, sass gestern wie Sattler – im Umbaugespräch mit de Raaff nach dessen Stück – erwähnte, im Saal. In der Einführung hatte er noch erwähnt, dass er Canellakis zunächst dazu habe bringen wollen, das Programm umzustellen, doch bei der Generalprobe habe er gemerkt, dass sie recht hatte und die Abfolge so wirklich gut sei. Das war sie denn tatsächlich auch. Redpath fand ich noch besser, das ungewöhnlich aufgestellte Orchester (Streicher inkl. Bässe in vierer bis sechser Reihen links, Bläser rechts, Harfen und Tasten und Saiten in der Mitte, dahinter viel Schlagwerk) war auch hier wieder hervorragend. Canellakis dirigierte beide Boulez-Stücke ohne Taktstock, mit äusserst präzisen Bewegungen. Auch sie hinterliess einen wirklich guten Eindruck.
Das Konzert dauerte mit einer Pause zwar Zweieinviertelstunden, aber die reine Spielzeit der vier Werke lag wohl irgendwo zwischen 75 und 80 Minuten. Dass es jeweils nicht nahtlos weiter ging (neben Stühlen mussten auch Mikrophone umplatziert werden, das Konzert wird die kommenden Tage im SRF ausgestrahlt) – und dann auch nochmal ein kurzes Gespräch mit de Raaff gab – fand ich sehr stimmig. Jetzt freue ich mich aufs Wochenende, wo ich u.a. das neue Hornkonzert von Esa-Pekka Salonen höre (Stephan Dohr als Solist, Salonen am Pult des Orchestre de Paris, es gibt noch den „Don Juan“ und die Fünfte von Sibelius), die zweite Aufführung vom Violakonzert von Dieter Ammann „No templates“ mit Tabea Zimmermann (uraufgeführt hat es Niels Mönkemeyer mit dem Basler Sinfonieorchester, das hatte ich zu spät mitgekriegt und sehr bedauert), dazu mehr von Boulez und Stroppa, ein Rezital von András Schiff und zwei grosse Orchesterkonzerte mit dem Concertgebouw unter Mäkelä. Im ersten spielt Janine Jansen das erste Violinkonzert von Prokofiev, sonst gibt’s u.a. Berios „Rendering“ nach Schubert, Bartóks Konzert für Orchester und die Fünfte von Mahler.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #165: Johnny Dyani (1945–1986) - 9.9., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba