Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Lucerne Festival 2025 (2/5)

KKL, Luzerner Saal – 23.08.2025 – Lucerne Festival Academy 1

Solist*innen und Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)
Jonathan Nott Dirigent
Augustin Muller/IRCAM Elektronik, Sylvain Cadars/IRCAM Klangregie

Einführung im Konzert: Dai Fujikura und Jonathan Nott im Gespräch mit Mark Sattler (in Englisch)

DAI FUJIKURA (*1977): Ritual für Elektronik und Ensemble (Uraufführung – Auftragswerk von Lucerne Festival und IRCAM-Centre Pompidou mit Unterstützung der Fondation Pierre Boulez, der Hong Kong Sinfonietta und der Pacific Philharmonia Tokyo)
PIERRE BOULEZ (1925–2016): Répons für sechs Solist*innen, Kammerensemble, Computerklänge und Live-Elektronik

Mein zweiter Tag in Luzern war sehr lang – und sehr toll. Los ging es um 11 Uhr mit einer Uraufführung von Dai Fujikura (von dem ich im Januar schon in Winterthur was gehört hatte). Die Crew um Mark Sattler aus Luzern und das IRCAM in Paris fragte ihn an und er habe sofort gesagt, er wolle etwas machen, was „the opposite of Boulez“ sein würde. Allseits grosses Gelächter im Zoom-Call und die Frage, ob er „Anti-Boulez“ machen werde … die Sache war geritzt. „Répons“ sei sein absolutes Lieblingsstück, so erzählte der seit langem in London lebende Fujikura vor der Aufführung. Während seines Studiums habe er es oft jeden Morgen gehört und sei deshalb manchmal zu spät zur Vorlesung gekommen. Das Stück sei komplett und perfekt und benötige nichts, was ihm vorangestellt würde. Statt Elektronik in der Komposition selbst zu verankern, wie Boulez es tat, ging Fujikura einen anderen Weg: er platziert Lautsprecher im Orchester und gibt Anweisungen, wie das Klangbild in Echtzeit manipuliert werden soll. Diese lauten dann z.B. so, dass an einer Stelle mehr, an einer anderen weniger „Fische im Orchester schwimmen sollen“, oder auch „fast keine Fische“, oder dass ein „durchsichtiger Wal langsam und sanft über dem Orchester schwimmt“. Ein Kontinuum von 20 Minuten mit flirrender Musik vom Orchester und einer abstrakten elektronischen Klangkulisse dazu mit Spuren, die ein- und ausgeblendet werden (und sonst nichts, keine weiteren Manipulationen), dazu werden Zuspielbänder auf mehreren Spuren eingesetzt, die ohne Puls auskommen und abstrakt klingen: nach blubberndem oder einfach fliessendem Wasser, nach Strassengeräuschen oder nach Sirren und Gurren – eine Art abstrakte, künstliche Volière. Wie das alles mit dem Ensemble auf der Bühne verschmilzt, fand ich sehr bezaubernd. Das hatte Flow und eine bestechende Leichtigkeit, eine zarte Klarheit obendrein, obwohl die Elektronik das Klangbild stört, „verschmutzt“, wenn man so will. Mit Boulez pulsierender, strenger Musik – auch mit seinem „Rituel“ für Bruno Maderna (das mich letzten Sommer in Luzern begeistert hatte) – hatte das alles wenig zu tun. Anti-Boulez halt, natürlich augenzwinkernd und voller Respekt.

Vor der Aufführung von „Répons“ wandte sich dann auch Jonathan Nott (in hervorragendem Deutsch) ans zahlreich erschienene Publikum, das im flachen Saal auf drei Seiten der etwas nach vorn gerückten Bühne sass. Rundherum waren sechs Podeste für die Solist*innen aufgebaut: links und rechts vom Orchester die Klaviere (das eine mit einem zusätzlichen Tasteninstrument daneben), hinter dem Orchester das Cimbalom, ihm gegenüber hinter dem Publikum die Harfe, und links und rechts vom Hauptteil des Publikum einmal Vibraphon und ihm gegenüber Glockenspiel und Xylophon. Hier gab es nun sehr viel Rhythmik, einen genauen Plan – und manchmal irre Tempi. Nott erzählte, wie er einst der erste war, dem Boulez das Stück überhaupt anvertraut habe, wie er bei der ersten Aufführung 2002 in Luzern mit dem Ensemble intercontemporain darauf fokussiert war, unbeschadet durchzukommen, und wie er seither anders an das Stück herantrete, es freier gestalte und lebendiger werden lassen wolle. Dabei beachte er die Vorgaben der Partitur viel stärker, nehme die Tempo-Angaben – anders als Boulez, der manches viel gemächlicher anging – beim Wort. Das Stück besteht aus einem fortlaufenden, sich ständig neu gestaltenden Dialog nicht nur zwischen den Soloinstrumenten und dem kleinen Orchester sondern auch innerhalb von diesem, das quasi dreigeteilt wird: links die Streicher, rechts das Holz, in der Mitte und hinten das Blech. Zwischen den Soloinstrumenten sind jeweils Lautsprecher platziert, auf denen die elektronischen Spuren zu hören sind, die dem Dialog noch eine weitere Ebene hinzufügen. Durch die räumliche Distanz ergeben sich ständig leichte Verschiebungen, die die eh schon intensive Rhythmik verstärken. Motive und Melodien werden durch die Register gereicht, die Solist*innen streuen Einwürfe ein, wuchtig oder verspielt, manchmal fast jazzig. Auf diese Einwürfe wiederum reagiert die Live-Elektronik, die natürlich von zwei Leuten vom IRCAM gesteuert wurde. Eine Bemerkung aus Notts einleitenden Sätzen ging mir beim Hören immer wieder durch den Kopf: egal, wo man bei dem Stück (oder bei Boulez allgemein?) abbreche, wenn man einen Augenblick zurückgehe, habe man immer einen wunderbaren Klang. Wie Klangschön das alles ist, hätte sich mir ohne diese Aussage vielleicht nicht so unmittelbar erschlossen. Riesiger Applaus jedenfalls – und ein grossartiges Erlebnis, dieses Werk live hören zu können.

Nach dem „Livre pour quatuor“ vor einer Woche und dem Boulez-Programm des Collegium Novum Zürich mit „sur Incises“ und „Éclat/Multiples“ schon das dritte in diesem Boulez-Jahr … und es geht noch weiter: nächstes Wochenende gibt es u.a. die erste Aufführung von „Poésie pour pouvoir“ seit der Uraufführung (1958) – ein Stück, das Boulez später aus seinem Werkkatalog gestrichen hat, eine echte Rarität also. Nott, der das Konzert äusserst souverän leitete, ist dem Lucerne Festival zwar eng verbunden, war u.a. 2007 „artiste étoile“ und führte 2013 die erste Luzerner-Gesamtaufführung von Wagners „Ring“ auf – aber das war nach mehreren Versuchen, die wohl an den Terminkalendern gescheitert sind, sein erster Auftritt im Rahmen der einst von Boulez begründeten Academy.

KKL, Luzern – 23.08.2025 – Lucerne Festival Orchestra 4

Lucerne Festival Orchestra
Sir Simon Rattle Dirigent
Clay Hilley Tenor
Magdalena Kožená Mezzosopran

DMITRI SCHOSTAKOWITSCH (1906–1975): Sinfonie Nr. 1 f-Moll op. 10

GUSTAV MAHLER (1860–1911): Das Lied von der Erde

Nach einer sehr langen Pause mit Museumbesuch ging es um 18:30 ins grosse Abendkonzert – und auch das war ein halbes Debut: auch Simon Rattle war seit 1996 oft in Luzern, aber bisher nie am Pult des Festivalorchesters (stattdessen u.a. mit dem CBSO, dem BR-Symphonieorchester oder 2019, als ich dabei war, mit dem London Symphony Orchestra). Das Orchester fand ich ja schon die Woche davor beeindruckend, und das wiederholte sich. Rattle hatte sich ein Programm von Lieblingsstücken zusammengestellt, die erste von Schostakowitsch dirigierte er ohne Partitur und Pult – und das war so mitreissend, dass er noch ein oder zweimal mehr zurück auf die Bühne gerufen wurde, als vor der Pause üblich. Danach Mahler in der Maximalbesetzung und da und dort mit kleinen Balanceproblemen, was die Gesangssolist*innen anbelangt – aber das lässt sich im Konzertsaal wohl nicht vermeiden, wenn man nicht auf die Wucht verzichten will, die diesem Werk innewohnt. Clay Hilley konnte den Glanz und die Flexibilität in der Höhe, aber es war Kožená, die je länger desto beeindruckender wurde. Am Ende, im grossartigen „Abschied“, war wirklich alles vorbei, gespielt, alles gesagt. Da bleibt eine immense Leere und zugleich, nach so einem Konzert, ein grosses Glück. Eine abgrundtiefe Wärme vielleicht? Das Orchester war einmal mehr phantastisch (dieses Mal mit Raphael Christ als Konzertmeister, er und Gregory Ahss tauschen wie es scheint regelmässig den Platz, sitzen aber stets beide zusammen am ersten Pult).

Ich hatte mir schon nach dem ersten Konzert vorgenommen, künftig mehr auf das LSO und weniger auf die Gastorchester zu setzen – aber wie mein Luzern-Programm am Ende herauskommt, hängt in erster Linie davon ab, wann die Zeitgenössischen Dinge zu hören sind, was dann um die herum noch läuft (Rattle allein hätte ich z.B. nicht gebucht, auch eher nicht Rattle mit dem „Lied von der Erde“, aber weil ich wegen Boulez eh hin wollte …), aber auch vom Repertoire der Orchesterkonzerte, von den anderen Konzerten (z.B. denen in der Kirche über Mittag, die ich eigentlich nicht mag, weil die Kirche oft unangenehm heiss und unbelüftet und voller lärmiger, dabei sehr unbequemer Bänke ist – aber ich hab dort schon so tolle Konzerte gehört, dass ich sofort wieder hin gehe, wenn es was gibt, was ich sehen will und mit dem Rest der Pläne passt, was dieses Jahr eben nicht der Fall ist).

KKL, Luzerner Saal – 23.08.2025 – Lucerne Festival Academy 2

Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)
Teilnehmer*innen des Contemporary-Conducting Program: Dirigent*innen: Julia Cruz Carceller (Boulez, Louilarpprasert), Jasper Lecon (Regen), Molly Turner (Kwong), Leonard David Wacker (Lin)
??/IRCAM Klangregie, Carlo Laurenzi/IRCAM Elektronik

MARCO STROPPA (*1959): Far and Wee, in memoriam Pierre Boulez aus dem Zyklus The Enormous Room – Fassung für elektroakustisches Totem solo (Uraufführung)
PIERRE BOULEZ (1925–2016): Dérive 1 für sechs Instrumente
WEI-CHIEH LIN (*1982): Impulse. Hommage à Pierre Boulez für Orchester (Uraufführung)
ALYSSA REGENT (*1995): Ophélia für Orchester (Uraufführung)
CHARLES KWONG (*1985): Mnemosynic Moments für Orchester (Uraufführung)
PIYAWAT LOUILARPPRASERT (*1993): Dial-a-Boulez für Orchester und Mobiltelefone (Uraufführung)

Direkt – buchstäblich 10 Minuten (ich bin noch im Schlussapplaus raus, um nicht im Gedränge hängen zu bleiben) – nach Mahlers „Der Abschied“ nochmal Musik zu hören … depperte Idee, klar, aber es gab eben nochmal Boulez im kleineren Saal, dieses Mal nicht mehr annähernd so gut besucht, aber gut genug, dass er von der Bühne aus nicht leer gewirkt haben müsste. Hier gab es ein paar Umstellungen und deshalb ein paar Worte von Mark Sattler (der parallel zu Mahler schon eine Konzerteinführung mit den Komponisten und der Komponistin moderiert hatte – nicht so toll, dass das nicht alles aneinander vorbei passte, die Einführung hätte auch Distanz zu Mahler schaffen können … da gibt es ausgerechnet, am ersten Academy-Tag auch im Hauptkonzert nur 20. Jahrhundert – aber die Anzahl von Leuten, die wie ich direkt rüberwechselten, war wohl recht klein und wäre es vermutlich auch mit weniger straffem Zeitplan geblieben). Sattler hatte also anzusagen, dass das neue Stück von Stroppa nicht wie geplant mit Akkordeon gespielt werde, weil der Part für den Solisten Anthony Millet zu später fertig geworden sei, als dass noch geprobt hätte werden können, Stroppa daher eine Fassung für Totem solo eingerichtet hätte. Dann gab es eine Umstellung in der Abfolge der Uraufführungen (im Programmheft stand Regent noch vor Lin, aber die Umstellung war wirklich sinnvoll, wie sich zeigen sollte), und zuletzt war vom IRCAM nicht der angekündigte Carlo Laurenzi sondern eine junge Frau dabei, deren Namen ich nicht verstehen konnte – so viele sind es nicht, aber die Suche auf der IRCAM-Website blieb erfolglos und beim Eintrag zum Konzert dort steht auch der wohl ursprünglich vorgesehene Laurenzi).

Stroppa sass auch selbst wieder am Mischpult und steuerte seinen „Totem“. Dabei handelt es sich um einen wohl zweieinhalb Meter hohen Turm aus fünf Lautsprechern, die aufeinandergeschichtet die eingespeisten Impulse in unterschiedliche Richtungen von sich geben. „far and wee“ ist ein Teil aus dem Zyklus „The Enormous Room“, der seit 1995 als Work in Progress entsteht, und es war die erste Uraufführung des Abends, der als grosse Hommage an Boulez zu verstehen war. Neben dem diesjährigen Composer in Residence beim Festival vergaben dieses und die Fondation Pierre Boulez noch vier weitere Kompositionsaufträge an junge Komponist*innen, und gemeinsam mit „Dérive 1“ für sechs Instrumente von Boulez (1984) wurden diese neuen Werke uraufgeführt. Das elektroakustische Stück fand ich recht ansprechend, aber vielleicht am Ende etwas lang – wie üblich war überhaupt nicht klar, wie viel davon vorgespurt oder sogar fixiert war und inwiefern Stroppa am Mischpult ins Geschehen eingriff oder dieses beeinflusst hat (er war sehr beschäftigt, ich sass direkt daneben und konnte zugucken, was dann doch etwas interessanter war, als die aufeinandergebundenen Lautsprecher anzuschauen, die vorn am Platz des Dirigentenpodests standen. Das Stück von Boulez braucht man vermutlich nicht vorstellen – „eine fein ziselierte Polyphonie“ bietet es (Sattler im Programmheft), „bei der sich Linien überlagern, miteinander verschmelzen und wieder voneinander lösen. Trotz aller Komplexität bleibt die Musik transparent, pulsierend, französisch-elegant.“ Dem ganzen liegt die von Boulez einst für „Messagesquisse“ für Solo-Cello verwendete Tonfolge für Paul Sacher zugrunde, die Mistislav Rostropovich 1976 zum 70. des Mäzens und Dirigenten abgeleitet hatte: Es-A-C-H-E-D (D = „re“), und auf der auch „Répons“ und eben „Dérive 1“ aufbaut. Faszinierend, und wie immer, wenn die jungen Akademist*innen am Werk sind, mit grösstem Engagement gespielt.

„Impulse“, das erste der vier (aus 80 eingereichten und von einer Gruppe der Contemporary Leaders des LFCO ausgewählten) Auftragswerke, beruht wiederum auf „Dérive 2“. Lin schreibt im Programmheft (die vier stellen ihre Werke selbst vor bzw. Sattler hat wohl aus Zitate Texte erstellt), wie er in Basel in der Paul Sacher Stiftung 2011 beim Schreiben seiner Dissertation Manuskripte und Skizzen von Boulez studieren durfte, wie er dabei Einblick in dessen „kompositorische Prozesse, seine zahllosen Entwürfe und Überarbeitungen auf eine Weise nachvollziehen“ konnte, „die sich wie Kompositionsunterricht anfühlte“. Lin hat statt „der Periodizität dreier „Pulsationen“, auf denen „Dérive 2“ vollständig aufgebaut sei, deren 100 verwendet – und so hörte sich sein Stück auch an: wuchtig, voller sich stapelnder Rhythmen und Klanggebilde. Durch das Orchester gingen Echos, die leiser wurden, wie wenn Steine flach übers Wasser hüpfen. Je länger das Stück dauerte, desto dichter wurde es, die Schlagzeuger*innen hatten alle Hände voll zu tun.

Danach folgten zwei ruhigere Stücke – das der Plan mit der Umstellung der Abfolge, der diese definitiv stimmiger machte. Das erste von Alyssa Regent, die ebenfalls eine Hommage an „Dérive“ (1, nehme ich an) bot, und ihr Verfahren auch ähnlich wie das von Boulez beschreibt: „ständig verändere ich, schreibe um, finde neue Wege, die mich vielleicht zum Ziel führen.“ Die Instrumente agieren hier paarweise, schreibt sie: „So übernehmen etwa die Violinen 1 und 2 eine führende Rolle, während die Violinen 3 und 4 die ‚dérive‘ erzeugen – die ‚bewegte Textur im Hintergrund‘.“ – Das war wunderschön anzuhören. Nach dem wuchtigen, vielleicht zu dichten ersten Stück legte sich jetzt ein Ruhe über die Bühne, in der in kleinerer Besetzung ein zunehmend dissonanteres Stück entstand, das auch zunehmend mikrotonal wirkte (oder wurde, ich weiss es nicht).

Charles Kwon sagt über seine „Mnemosynic Moments“, Musik sei eine erinnernde Kunst und dieses Moment des Erinnerns, das nicht zuletzt unser Sprechen über Stil und Ästhetik präge, begreife er in seinem Stück „nicht bloss als einen Akt des Rückblicks, sondern als schöpferischen Prozess.“ Sein Stück „stützt sich auf frühe Harmonieübungen, die Boulez 1945 während seines Studiums bei Olivier Messiaen anfertige. Sie zählen zu seinen frühesten erhaltenen musikalischen Zeugnissen und stehen zugleich für die Weitergabe kollektiven musikalischen Denkens über Generationen hinweg: Messiaen verwies in seinem Harmonieunterricht oft auf Debussy, Fauré oder Strawinsky“. Kwon greift diese Fragmente auf, nicht um sie zu orchestrieren oder zu vervollständigen, „sondern [um sie] stattdessen in einen post-tonale, nicht-linearen Rahmen“ zu integrieren, in dem sie zu Ausgangspunkten werden: als klangliche Ereignisse, die widerhallen, sich entfalten und verändern und über die Zeit verschiedene Richtungen ausbreiten.“ Kwong verwendet diese Boulez-Fragmente als „Time Capsules“, die „im neuen Kontext […] andere Bedeutungen und Assoziationen“ entstehen lassen. Das Stück beginnt aus dem Nichts, erst allmählich entsteht etwas, die Blechbläser blasen tonlos Luft durch ihre Instrumente, es bilden sich Töne, Melodien, Harmonien, erweiterte Spieltechniken kommen zum Einsatz – ein Zauber, der aber auch Einblicke bietet, denn das wirkte auch manchmal zusammengesetzt, konstruiert, fast als würden disparate Teile zusammengefügt. Die Dirigentin bei diesem Stück, Molly Turner, überzeugte mich auch am meisten – vermutlich kein Zufall, dass sie bei einem meiner nächsten Konzerte in Luzern an der Seite ihres Lehrers an der Juilliard, David Robertson „Poésie pour pouvoir“ leiten (den anderen in der Kurzbiographie im Programmheft erwähnten höre ich am Vorabend auch noch Esa-Pekka Salonen, als Dirigent des Orchestre de Paris auch mit einem eigenen Hornkonzert, das zur Uraufführung kommen wird).

Den Ausklang machte dann nochmal ein wuchtigeres Stück, wieder mit der grösseren Besetzung (Streicher: 12-10-8-6-4) wie sie bei Lin schon zum Einsatz gekommen war, „Dial-a-Boulez“ von Piyawat Louilarpprasert, der Boulez nicht zitiert, sondern „versucht, Aspekte seines Schaffens aus meiner Perspektive neu zu beleben: Resonanz, Transformation, Fragmentierung, Oszillation“. Das Stück klang im Gegensatz zu dem von Lin für mich sehr klar und transparent, mit flirrenden Streichern, einer Art Vogelgezwitscher auch … und einem performativen Anruf bei Boulez: Klingeltöne, Vibrationen und andere Geräusche unseres längst wichtigsten Alltagsgegenstandes durchziehen das Stück, die Telefone zeichnen auch auf und spielen wieder ab; sie liegen auf allen Notenpulten und am Ende, wenn die Musik versiegt und das Licht im Saal bis zur Dunkelheit runtergedimmt wird, klingeln sie alle, bevor sie auch still werden und die Musiker*innen die Taschenlampen einschalten und im Dunkel des Saals eine Art Glühwürmchenballett aufführen – ein stimmiger performativer Ausklang.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #165: Johnny Dyani (1945–1986) - 9.9., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba