Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Lucerne Festival 2025 (1/5)

Luzern, KKL, Konzertsaal – 16.08.2025 – Lucerne Festival Orchestra 2

Lucerne Festival Orchestra
Andrés Orozco-Estrada Dirigent
Isabelle Faust Violine

ANTONÍN DVOŘÁK (1841–1904): Die Mittagshexe op. 108
Violinkonzert a-Moll op. 53 (E: Nicola Matteis Jr.: Fantasia con discrezione)

MODEST MUSSORGSKY (1839–1881) / MAURICE RAVEL (1875–1937): Bilder einer Ausstellung

Der Einstieg beim Lucerne Festival … fünf Besuche stehen an, drei davon eintägig, dieser erste zweitägig und am letzten August-Wochenende ein dreitägiger. Hin bin ich eigentlich nur, weil ich am Vortag ans Alpentöne-Festival und am Sonntag dann zu Boulez/Stroppa bin und eine Heimkehr irgendwie nicht sinnvoll schien. Also eine viel zu teure Karte gekauft und wieder einmal die tolle Isabelle Faust gehört. Doch zuerst gab es das Tongedicht von Dvorák, eine etwas alberne Geschichte – aber unglaublich nuanciert musiziert. Ich habe die letzten Jahre viel zu oft die grossen Gastorchester gehört und dabei wunderbare Konzerte erlebt (mit den Berliner und den Wiener Philharmonikern, dem Gewandhausorchester, dem Boston SO usw.) und das Festivalorchester oft etwas vernachlässigt. Orozco-Estrada kannte ich bisher erst dem Namen nach – und ich war von beiden, Orchester und Dirigent, vollkommen überzeugt. Das kammermusikalische Musizieren können die Leute auch in grosser Besetzung (an den ersten Pulten sass die halbe Familie Christ, die ich davor direkt neben mir beim späten Mittagessen vor dem KKL gesessen hatte), aber noch schöner war das dann mit Faust in etwas kleinerer Besetzung (die grosse waren 16-14-12-10-8 Streicher, beim Violinkonzert glaub ich je zwei weniger, zumindest bei den drei tieferen, Violinen hab ich nicht geachtet – die sassen, für mich inzwischen dank Paavo Järvis Aufstellung in der Tonhalle eher ungewohnt, nebeneinander auf der linken Bühnenhälfte). Und Faust spielte das Konzert ebenso nuanciert und fein, wie das Orchester aufspielte – ich kenne es nicht so gut, muss ich gestehen, hatte es auch vorgängig nicht mehr angehört, aber war sehr beeindruckt. Nach dem beschwingten Ende des Konzerts führte die Zugabe zum innerlichen Mittelsatz – dem Kern von Dvoráks Konzert? – zurück und war bezaubernd schön, auch wenn das Publikum allmählich unruhig wurde (die erste Konzerthälfte war lang, denn es hatte davor noch eine Viertelstunde Ansagen von drei Radio-Leuten gegeben, da das Konzert kommenden Samstag in allen drei Landessendern/-sprachen ausgestrahlt wird, Orozco-Estrada demonstrierte seine hervorragenden Deutschkenntnisse).

Nach der Pause dann die ganz grosse Besetzung und Ravels mich live zum ersten Mal so richtig packende Bearbeitung der „Bilder einer Ausstellung“ – unglaublich, welche Farbenpracht hier zu erleben ist. Das Orchester und der Dirigent überzeugten mich jetzt noch mehr als davor, das alles unendlich nuanciert gespielt, es gab das leiseste Pianissimo bei der grössten Anspannung, und es gab natürlich die wuchtigen Fortissimo-Momente, die aber immer fein wirkten, schlank und pointiert. Toll! Darauf war ich gar nicht vorbereitet – und umso erfreuter über den rundum gelungenen Einstieg. (Und gestern guckte ich die am Wochenende eingetrudelten Karten für mein Tonhalle Wahlabo 2025/26 zur Kontrolle durch und merkte, dass ich im nächsten Frühling im Anschluss an Hadelich, der Beethoven aufführen wird – was grossartig wird, das ist eh schon klar! – Mussorgsky/Ravel wieder hören werde, mit Marie Jacquot am Pult, die beim Orchester debütieren wird.).

Luzern, KKL, Luzerner Saal – 16.08.2025 – Portrait Boulez & Stroppa 1

Arditti Quartet: Irvine Arditti | Ashot Sarkissjan | Ralf Ehlers | Lucas Fels
Marco Stroppa Klangregie

PIERRE BOULEZ (1925–2016): Livre pour quatuor (Vierter Satz rekonstruiert von Philippe Manoury und Jean-Louis Leleu im Auftrag der Daniel Barenboim Stiftung und der Philharmonie de Paris / Schweizer Erstaufführung der vervollständigten Fassung)
MARCO STROPPA (*1959): La vita immobile für Streichquartett (Schweizer Erstaufführung)
Spirali für in den Raum projiziertes Streichquartett (Schweizer Erstaufführung)

Kurz war auch das zweite Konzert nicht – und leichte Kost erst recht nicht. Es gab eine Stunde davor eine Einführung mit Irvine Arditti, Marco Stroppa und den beim Festival vermutlich zum letzten Mal für die Neue Musik zuständigen Mark Sattler (dem ich sehr dankbar bin für alles, was er da auf die Beine gestellt hat). Arditti erzählte, wie er Boulez über Jahre bearbeitet hat, das Streichquartett doch noch fertig zu stellen, bis er irgendwann aufgeben hatte, begreifend, dass für Boulez die Überarbeitung anderer Werke viel wichtiger waren. Obwohl, so Arditti, mit dem Streichquartett bei Boulez‘ Komponieren eine neue Phase begonnen habe. Stroppa erzählte über seine Begegnung mit Boulez, wie der ein erstes Stück von ihm gehört habe und es „nicht gehasst“ habe, ihn später ans IRCAM eingeladen habe, als die ganze Elektronik und Computertechnik noch Pionierarbeit war und nur wenige sich damit auskannten. Dann erzählte Stroppa noch ein wenig was zu den zwei Werken, die an sich als Teil 1 des Konzerts angekündigt waren, doch das hat man – zum Glück – umgestellt.

Los ging es dann mit Boulez, fast eine Stunde lang – und davor noch die Begrüssung (durch den scheidenden Intendanten Michael Haefliger) der diesjährigen Akademist*innen, die vermutlich zum grössten Teil im Publikum sassen. Mit dem von Philippe Manoury rekonstruierten, bisher fehlenden vierten Satz ist das „Livre pour quatuor“ jetzt komplett (und vom Diotima Quartet auch bereits früher im Jahr bei Pentatone veröffentlicht worden). Dieser Satz, so erzählte Stroppa, sei der virtuoseste des ganzen Werkes (schon in der Anlage – ich weiss nicht genau, was es da von Boulez gibt und was Manoury genau gemacht hat) und es sei daher auch sehr nachvollziehbar, dass Boulez keine Lust hatte, sich Jahre später noch einmal in sein „Livre“ einzudenken und diese sehr aufwändige Arbeit vorzunehmen. Arditti meinte auch, irgendwann habe er aufgehört, Boulez zu drängen. Und er erzählte auch von Proben: Boulez sprang wohl kurzfristig für einen indisponierten Klemperer ein und dirigierte – erstmals, anscheinend – Beethoven. Nach sechs Stunden Orchesterproben habe Arditti ihn abgeholt und dann hätten sie bei ihm noch vier Stunden am „Livre“ geprobt, eine ganze Woche lang. Jedenfalls war es nach den Ausschnitten mit dem Jack Quartet im Frühling sehr toll, das Ding komplett zu hören, aber das war zugleich eine Zumutung, eine Überforderung, durch die Länge, die Komplexität, die gefühlte Strenge der Musik. Meine Aufmerksamkeit war nicht immer so hoch, wie ich mir selbst das gewünscht hätte. Dennoch höchst faszinierend, die unterschiedlichen Teile am Stück zu hören, wie aus dem oft pointillistischen Vorgehen immer wieder verteilt auf mehrere Stimmen Melodiefetzen auftauchen, sich plötzlich Bögen zu spannen beginnen, die aber selten länger tragen. Pause war dann nach 80 Minuten oder so …

Leichter war dann Teil zwei des Konzerts mit zwei Werken von Marco Stroppa. „La vita immobile“ besteht aus vier Miniaturen (1-3 Minuten), die auf Kurzgeschichten eines Verlegers (von Ricordi, glaub ich?) beruhen, die dieser in frühen Jahren verfasst habe und die durch formale Strenge glänzten – ganz wie die Stücke von Stroppa, die allerdings in kleinen Form nach dem Marathon von Boulez geradezu leicht wirkten (das Werk ist anscheinend – wie vieles bei Stroppa – auch unvollendet, sieben Teile waren wohl mal geplant … und beim IRCAM-Eintrag steht bei der Dauer „13h“, was aber wohl einfach ein Fehler ist? „13 Min“ wären allerdings auch schon ein paar zu viel – komponiert wurde das Stück für Witten 2014). In „Spirali“ wurde Stroppa dann am Mischpult aktiv. Er hatte im Vorgespräch erzählt, wie er eigentlich für dieses Stück gerne das Publikum geschrumpft und in die Mitte des Streichquartetts gesetzt hätte, um einen Raumklang erlebbar zu machen. Da das nicht möglich ist, suchte Stroppa nach anderen Umsetzungsmöglichkeiten und entwickelte ein Konzept mit sechs „Räumen“. Die Musiker sassen auf vorbereiteten Stühlen etwas weiter hinten auf der Bühne und mit grösseren Abständen (und irgendwo Mikrophonen), damit sie auch einzeln in verschiedene dieser „Räume“ projiziert werden konnten. In den 22 Minuten, die das Stück ungefähr dauert, war also alles in ständiger Bewegung: Motive werden reihum von einer Stimme zur nächsten geschoben (die Violinen sassen jetzt aussen, die zweite Geige hatte mit der Viola den Platz getauscht), also ergab ein sehr schönes, sich ständig – spiralförmig – bewegendes Gefüge, die räumliche Erfahrung funktionierte an meinem Platz direkt hinterm Mischpult super – und die Technik störte das Hören keineswegs, zumal man immer auch die live gespielten Töne vorn auf der Bühne mitkriegte, dazu die Räume, die von sehr distanziert bis sehr nah fluktuierten. Das war dann tatsächlich Musik von grosser Schönheit und Zartheit.

Weiter geht es kommenden Samstag mit einem langen Konzerttag … Fujikura/Boulez mit Nott und dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra; dann das grosse Abendkonzert, bei dem Rattle beim LFO debütiert (am Festival war er schon oft, ich hörte ihn auch schon), mit der ersten von Schostakowitsch und dem „Lied von der Erde“ (mit Clay Hilley und natürlich Magdalena Kožená); und danach nochmal das LFCO, dieses mal mit dem IRCAM und Musik von Boulez, Stroppa und anderen, dirigiert von Teilnehmer*innen des Contemporary-Conducting Program. Da verpasse ich die Einführung, finde ich ungut programmiert (bei anderen dieser Stroppa/Boulez/Academy-Konzerte gibt es die Einführung direkt im Konzert, hier eine Stunde davor, wenn ich mitten im Mahler sitze … ich hoffe, der Wechsel in den kleineren Saal klappt dann überhaupt rechtzeitig, ich sitze zuoberst zuhinterst, da dauert’s, bin man raus kommt).

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #165: Johnny Dyani (1945–1986) - 9.9., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba