Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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redbeansandrice

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Hans-Günther Wauer & Günter Sommer – Verschränkte Konstruktion

Fun fact: Günter kann man im Deutschen sowohl mit „t“ als auch mit „th“ schreiben / finde ein Album mit Umlaut im Titel, bei dem alle beteiligten Musiker einen Umlaut im Namen haben… „Hätten Sie das gerne in einer Tüte verpackt?“ fragte mich der Verkäufer vorhin in seinem besten Deutsch, als ich die Platte auf dem Weg in den Supermarkt noch eben mitnahm… wir schreiben das Jahr 1986, der experimentierfreudigste Kirchenorganist der DDR trifft auf ihren führenden Free Jazz Schlagzeuger… die Kooperation der beiden bestand zu der Zeit bereits 10 Jahre, sie hat auch im Trio mit Ernst Ludwig Petrowsky oder John Tchicai gespielt… mit Louis Moholo hat Wauer aber auch zusammengearbeitet… ich hatte vor sehr vielen Jahren in Behrendts Jazzbuch von dieser Kombination aus Kirchenorgel und Schlagzeug gelesen und das damals schon als interessant abgelegt… und als ich dann vorhin das fantastische Cover gesehen hab, war ich direkt überzeugt…

Wie nimmt man sowas auf? Ich hab tatsächlich vor vielen Jahren recht viel mit Orgel in Kirchen zusammengespielt und es ist immer eine Herausforderung, gefühlt ist die Zeitverzögerung zwischen der Orgel, einem selbst und dem was die Leute hören in alle Richtungen immer eine knappe Sekunde, man kann also eigentlich gar nichts richtig machen… Wie nimmt man so ein Orgel/Drums Duo also auf? Wenn man drüber nachdenkt, ist es eigentlich klar: Quasi aus Sicht des Schlagzeugers, man hört alles so, wie Sommer es gehört hat und drauf reagiert hat, und wie viel früher die Orgel irgendwas gespielt hat, ist völlig egal… und den Raum kann man sich beim nächsten Besuch im Merseburger Dom selber erfühlen, das kann diese Platte nicht auch noch leisten.

Ich find das Album über weite Strecken wirklich super.. Wauer hat auch das Orgelwerk von Franz Liszt aufgenommen und weiss, wo die Knöpfe sitzen, mit denen man ein bisschen mehr aus der Orgel herausholt… eine Ladegast Orgel fwiw … (meine Mutter organisiert Kulturveranstaltungen in Ostdeutschland, „die Ladegast Orgel“ kommt dann und wann in Erzählungen vor, es gibt etwa 100 von ihnen, die meisten in der ehemaligen DDR – generell sagt das Album schon auch etwas darüber aus, wie lebendig manche protestantischen Traditionen in der späten DDR noch waren – sag ich als jemand, mit dem diese Traditionen wahrscheinlich sterben werden, also, ich geb sie nicht weiter)… Wauers neunminütige Solo-Eigenkomposition „Partita über den Choral ‚Nun bitten wir den heiligen Geist'“ hätt es wegen mir nicht gebraucht, aber sowas muss man in der DDR erstmal aufnehmen dürfen + seine Duos mit Sommer sind durchgängig Klasse… mal klingt es wie Orgeljazz, mal als hätte im Schulgottesdienst jemand am Schlagzeug kommentieren dürfen… Free Jazz ist nicht immer unterhaltsam und er erinnnert nicht immer sowohl an Bach als auch an elektronische Tanzmusik… aber hier absolut, das eine wie das andere. Bert Noglik vergleicht in seinen Liner Notes die intensive Phase am Ende mit Ascension… und zunächst mal würd ich sagen: ganz so schlimm ist es nicht… Then again, vielleicht war Ascension auf irgendeiner Ebene auch einfach der gescheiterte Versuch, mit 7 verrückten Blasinstrumenten eine Kirchenorgel nachzubauen, und das hier ist der real deal. Recommended.

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