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Die letzten Tage im Urlaub, am kleinen Bildschirm, mehr von Jia Zhang-ke:
Unknown Pleasures (Ren xiao yao) (CN 2002)
Dong (CN 2006)
Hier zu finden: https://vimeo.com/433545872
The World (Shijie) (CN/JP/FR 2004)
Ash Is Purest White (Jiang hu er nü) (CN 2018)
Ich bin sehr beeindruckt, weil gerade diese Filme helfen, das sich das Gesamtbild noch einmal verändert bzw. neu zusammensetzt. „Dong“ ist ein Dokumentarfilm in zwei Teilen, deren erster sehr eng mit „Still Life“ verbunden ist – die Filme wurden gleichzeitig gedreht, der Unfall (oder Anschlag) des jungen Kollegen bei den Abbrucharbeiten im Spielfilm ist in „Dong“ real: hier folgt Jia dem Freund und Maler Liu Xiaodong, der in Fengjie ein Bild von einem Dutzend oder so Abbrucharbeiter malt, die er in ihrer Freizeit auf einem Dach fast unbekleidet drapiert, woraus am Ende ein mehrteiliges, grosses Gemälde entsteht. In diesen 35 oder 40 Minuten sind teils genau dieselben Szenen drin, wie sie in „Still Life“ auch auftauchen – aber anders kontextualisiert, und am Ende besuchen Liu und Jia die echten Verwandten des Toten, bringen Fotos und Geschenke für die Kinder. In Teil 2 fährt das Duo dann nach Thailand, wo Liu ein weiteres grosses Gemälde von Sexarbeiterinnen anfertigt. Die Reise nach Fengjie scheint der Auslöser gewesen zu sein für ein Thema, das Jia danach nicht mehr loslassen solle – seine erste Fahrt in die Gegend.
„The World“ fand ich eine Spur schwächer – aber gut, ich müsste die Filme wirklich alle nochmal ungestört im Kino sehen können (wo „Dong“ nicht gezeigt wurde). Am Ende jedenfalls taucht dort ein Verwandter eines ebenfalls auf dem Bau tödlich verunglückten Verwandten einer der Hauptfiguren auf, und das ist Han Sanming, der dann in „Still Life“ die grosse Hauptrolle spielen sollte. Zu „Still Life“ schlägt auch „Ash …“ wieder eine Brücke. Auch hier scheinen die Bilder teils (fast?) identisch zu sein, aber sie beziehen sich auf die andere Suche in „Still Life“, die von Zhao Taos Figur, in „Still Life“ eine Krankenschwester, die ihren seit zwei Jahren verschwundenen Mann Guo Bin sucht, der im Baugewerbe tätig ist (und vielleicht den jungen Kollegen von Han Sanming auf dem Gewissen hat). Genau die zwei sind in „Ash“ die Hauptfiguren, Bin aber von einem anderen Darsteller gespielt, und dieses Mal ein Mafiaboss, der ins Baugeschäft gewechselt hat – was der Geschichte von „Still Life“ noch nicht widerspricht, aber Zhao Tao ist hier seine Gangsterbraut, die nach einem Überfall, bei dem sie ihm das Leben rettet, für längere Zeit ins Gefängnis muss und ihn, der nach seiner Schmach ein legales Leben in dieser entfernten Gegend führt, nach ihrer Freilassung sucht – in Fengjie, mit demselben Schiff anreisend, dieselbe Bluse tragend, dieselbe Tasche und denselben stets vorn getragenen Rucksack (eben: vermutlich aus demselben Filmmaterial, das ein Dutzend Jahre früher entstanden ist?).
„Ash“ hat drei Teile – und ist in mancher Hinsicht auch eine Art Fortsetzung von „A Touch of Sin“: die Kriminalität, die Episoden – die alle um Zhao Tao herum aufgebaut sind: im ersten das aufsteigende Gangsterpaar in Datong, in der Mitte dann nach einer kurzen Episode im Gefängnis die anschliessende Suche (und „Still Life“-Vorgeschichte oder Alternativgeschichte), am Ende dann die Rückkehr (mit abschliessendem Verschwinden) von Guo Bin nach Datong (die Szene dort am Bahnhof gibt es so ähnlich ebenfalls schon davor einmal, aber in welchem Film kann ich gerade nicht mehr erinnern – oder ist es danach, in „Caught by the Tides“?), wo Zhao Tao inzwischen den ärmlichen Spielsalon leitet, in dem der Film seinen Anfang nahm … nachdem Zhao aus Fengjie abreist – Bin will nicht mit ihr zurück, er wird in Datong nicht mehr respektiert und hat dort keine Zukunft – trifft sie im Zug einen Typen, der erzählt, er werde in Xinjiang ein neues Tourismusprojekt zum Thema UFO-Sichtungen aufbauen. UFOs sah Zhao Tao in „Still Life“ ja tatsächlich schon (und den tollen brutalistischen Betonturm auf dem Hügel als startendes Raumschiff) – und sie sieht dann, nachdem sie sich davonstiehlt (und damit ihre Rückkehr nach Datong in die Wege leitet) nochmal eines.
Jia Zhang-ke baut sich in seinen Filmen seine eigene Welt, die immer wieder ergänzt und ausgebaut wird, in der die Figuren und Handlungsstränge sich ergänzen, fortspinnen und umeinander herum zu kreisen scheinen. Es entsteht ein Panorama von China in den letzten 25-30 Jahren, natürlich im rasanten Wandel, aber – nicht nur in den ersten drei unabhängigen Filmen – von den Rändern her erzählt und von einer Vielschichtigkeit, die mich sehr beeindruckt. Einen letzten Dokumentarfilm habe ich noch, „Useless“ von 2007, der sich mit der Textilindustrie beschäftigt. Den schaffe ich aber frühestens übermorgen, und ich wollte hier mal abschliessen, bevor mir all die Fäden im Kopf verschwimmen. Und klar, den aus Material von 20 Jahren zusammengestellten, „Caught by the Tides“ müsste ich jetzt, am Ende, direkt noch einmal sehen. Aber ich fand ihn ja auch ohne das gesponnene Netz so gut zu verstehen schon sehr toll.
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