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Bevor ich mich in den Urlaub verabschiede, komme ich noch mal auf diese verspätete Entdeckung aus dem Jahr 2024 zurück. Das Album habe ich nach dem Auftritt von Ronin im A-Trane erworben. Seither läuft es immer wieder.
Nik Bärtsch’s Ronin – Spiи (2024)
Es scheint mir fast einfacher zu beschreiben, was diese Musik nicht ist, als zu beschreiben, was sie ist. Es ist eigentlich kein Jazz, obwohl die Instrumentierung mit Alt-Sax + Bassklarinette, Piano, Bass und drums offenbar von da kommt. Es gibt kaum Soli, obwohl es auch improvisatorische Anteile gibt. Es gibt keine Songstrukturen oder gar AABA Strukturen, es gibt kaum Melodien. Was gibt es dann? Repetitive Patterns, verschachtelte Rhythmen, hypnotische grooves, große Spannungsbögen, dramatische Höhepunkte und Wendungen.
Manchmal scheinen hier verschiedene Rhythmen oder Metren gegeneinander zu laufen, so dass das ganze droht, zusammen zu brechen oder auseinander zu knallen, bis sich die innere Spannung scheinbar wundersam auflöst. Es gibt Passagen in diesen 5, nur in einem Fall unter 10-minütigen Stücken, die sich ziehen und dem Hörer Geduld abverlangen, aber dann auf einen Höhepunkt hinauslaufen, der die Durststrecke dramaturgisch sinnvoll und sogar schön erscheinen lässt. Es dauert etwas, bis der Knoten platzt, das Ereignis ist dann aber umso aufregender. Und beim nächsten mal weiß man schon – da kommt was auf einen zu! Eigentlich gilt das über die gesamte Laufzeit von Spiи. Jedenfalls stellt sich bei mir nach der knappen Stunde Laufzeit ein schönes Gefühl der Befriedigung ein.
Spannung und Entspannung, sowohl im Inneren, zwischen den Instrumenten, zwischen den Rhythmen als auch in der Zeit, Drehungen und Wendungen (daher auch der Titel Spiи) sind hier die Themen.
Ronin hat jahrelang auf ECM veröffentlicht. Das auf Nik Bärtschs eigenem Label veröffentlichte Spiи ist aber offen gesagt das erste Album von ihnen, das ich gehört habe. Ich hatte inzwischen auch ein paar ältere Alben gehört und angeschafft, die ich auch alle gut finde. Bei Spiи fällt jedoch auf, dass die Musik ein gutes Stück knackiger geworden ist, was zum einen an der Produktion liegt, die nicht den typischen ECM-Weichzeichner einsetzt. Hier und da gibt es sogar ein paar elektronische Effekte. Zum anderen betont Nik Bärtsch, dass der neue Bassist Jeremias Keller aus dem Rock kommt und damit mehr Druck in die Musik bringt. Vielleicht haben die Trennung von ECM und der personelle Erneuerung Ronin gut getan.
Ich habe Nik Bärtsch’s Ronin mit gut 20-jähriger Verspätung entdeckt. Aber besser spät als nie. Allein wenn ich daran denke, wieviele Musiker ich erst entdeckt habe, als sie schon tot waren. In meinen Ohren klingt das jedenfalls frisch und aufregend.
Edit: @ediski hatte dieses Album auch sehr lobend erwähnt. Volle *****, und da möchte ich auch nicht widersprechen. Den stuppse ich hiermit einfach mal an.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)