Antwort auf: David Murray

#12438123  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,341

Jack DeJohnette Special Edition | Das ist ja eigentlich eine Band wie geschaffen für mich – aber es dauerte bis zum Touchstones-Reissue dieses Albums (2008) und der 4-CD-Box (2012), bis ich die Alben wirklich kennenlernen konnte. David Murray spielt im ersten und vierten der vier für ECM aufgenommenen Alben der Gruppe mit, zum Einstieg an der Seite von Arthur Blythe und Peter Warren (eine Enja-Entdeckung!). Warren blieb für das erste der zwei folgenden Alben mit Chico Freeman und John Purcell als neuen Bläsern, Rufus Reid und Baikida Carroll sind auf dem dritten dabei, bei der letzten Runde ist Murray zurück, neben Purcell, Reid und Howard Johnson.

Was @vorgarten schreibt, nämlich dass die zwei Bläser ihr Spiel nicht etwa glätten oder weniger krawallig als üblich aufspielen, das Ergebnis aber dennoch runder, eleganter ist, passt auch für mich. Der andere Kontext, das andere Material (bis auf die Coltrane-Stücke alles vom Leader), die anders agierende Rhythmusgruppe, macht einen entscheidenden Unterschied. Besonders Warren ist verspielter, lyrischer, weicher, obertonreicher als die wichtigen Murray-Bassisten, und DeJohnette hat auch eine andere Vorstellung von Time, die ich vielleicht als flüssiger bezeichnen möchte? Im Opener „One for Eric“ ist Murray an der Bassklarinette unfassbar toll. Blythe klingt in dem Kontext danach wirklich fast etwas konventionell (und Dolphy als Bezugspunkt für sein Altsax ergibt schon auch irgendwie Sinn). Dann die ellingtoneske „Zoot Suite“, wo Blythe den Lead hat und Murray aus dem Untergrund – er spielt ungezähmte Begleitungen hinter Blythe – auftaucht, während der Groove so quasi „Rockin‘ in Rhythm“-mässig zugleich ständig ruckelt (das Bass-Lick) und total smooth durchläuft (die Drums, die aber auch durchaus zickig sind). Dass Warren hier am Ende ein Solo kriegt – aus dem er eine Art ganz tolles Nicht-Solo macht – ist hochverdient. Eigentlich könnte das Stück auch mit dem letzten, verklingenden Basston kurz vor der Neun-Minuten-Marke enden. Dann folgt das Coltrane-Segment, statt eines Zehn-Minuten-Tracks zwei kürzere: „Central Park West“ als Durchspiel mit Blythe im Lead, Arco-Bass, der Leader an der Melodica, Murrays Tenor hinter dem Vorhang als Wildcard – was für ein tolles Stück das doch ist! „India“ ist die zweite Coltrane-Komposition – DeJohnette zunächst am frei mäandernden Klavier, später an durchaus an Elvin Jones erinnernd flächig am Schlagzeug, Warren mit Orgelpunkt für den Groove zuständig, Murray an der Bassklarinette, Blythe singend und strahlend –, die die zehn Minuten voll macht, bevor „Journey to the Twin Planet“ das Album beschliesst. Nach einem frei-schwebenden Intro werden die Ärmel hochgekrempelt und alle stellen sich breitbeinig hin, damit die kollektive Wucht sie nicht von den Füssen haut. Blythe ist wieder im Lead und Murray grummelt, brummt und faucht im Untergrund, und mit dem rasenden Bass von Warren wird das zu einem dichten Geflecht, das dann in der Mitte wieder aufgebrochen wird: die Bläser spielen allein einfache Linien und Figuren, DeJohnette an der Melodica und gestrichener Bass gesellen sich dazu. Darüber erhebt sich dann Blythe wieder – und obwohl Murray superb aufspielt, ist Blythe hier schon die Stimme, die am meisten Raum zu glänzen kriegt. Tolles Album, exzellente Band … Als Gedankenspiel würde mich die Enja-Version dieses Albums interessieren … weniger aufgeräumt im Klangbild, „grittier“, vielleicht noch mit ein paar Outtakes, die damals aus Platzgründen weggefallen sind, zum Beispiel das lockere Stück, mit dem die Session begonnen hat. Aufgenommen wurde das Album im März 1979 in den Generation Sound Studios in NYC von Tony May und später von Martin Wieland und Manfred Eicher im Tonstudio Bauer abgemischt.

Jack DeJohnette’s Special Edition – Album Album | Freie Grooves, elaborierte Arrangements (inkl. Remake der „Zoot Suite“), Cover mit Melodica (hier „Monk’s Mood“, Coltrane ist da quasi mitberücksichtigt – superbes Arrangement von Johnson, der am Barisax das Fundament legt), Piano-Overdubs von DeJohnette – das Album hat der Leader selbst produziert (Juni 1984 in der Power Station mit David Baker, gemischt wieder von Wieland/Eicher im Tonstudio Bauer), und er denkt offensichtlich in enger gefassten, elaborierteren Konzepten als Murray (bei dem ich bis dahin nicht denke, dass er an Produktion viel Gedanken verschwendet hatte, auch an Arrangements nicht halb so viele wie DeJohnette). Der tolle Opener „Ahmad the Terrible“ ist Jamal gewidmet, zwar einer der Pittsburgher-Pianisten (ich glaub es war Erroll Garner, der auf die Frage, warum die Stadt so viele herausragende Pianisten hervorgebracht habe, geantwortet hat, es müsse dort „gute Mütter“ gegeben haben?), der aber 1950 nach Chicago zog, in die Stadt DeJohnettes also, auch wenn man das bei ihm gerne mal vergisst (sein späteres ECM-Album „Made in Chicago“ hat es wieder in Erinnerung gerufen). Die Musik dieses Quintetts wirkt alles in allem fröhlich und bunt, aufgeräumt und doch ziemlich frei – innerhalb des Rahmens, den die Arrangements stecken. In „Festival“ gibt es eine Kollektiv-Impro der drei Saxophone (Purcell spielt Alt und Sopran, Murray nur Tenor, Johnson neben dem Bari auch mal Tuba), während DeJohnette eine Art Calypso-Beat spielt, sich dabei sehr viele Freiheiten herausnimmt. Mit dem „New Orleans Strut“ – ein endlos kreisender Shuffle-Groove wie von den JB’s aber mit New Orleans-Einschlag wie von The Meters, sattes Barisax, DeJohnette mit overdubbten Keyboards, die stellenweise wie Steeldrums klingen, Reid an der Bassgitarre, Purcell am singenden Alt und danach Murray in der Stratosphäre, aus der er ab und zu hinabsteigt – ist die Band dann wirklich in der Community angekommen … passend zum Cover des Albums. „Third World Anthem“ blickt dann nach Südafrika – ein Gedanke, auf den man hier aber auch anderswo kommen könnte. Johnson spielt hier vermutlich eine Tenortuba oder sowas (aber auch kein Euphonium, dafür ist der Sound doch zu gross und zu brüchig) … wie eine normale klingt das jedenfalls nicht, so unfassbar seine Technik auch war – ein erstes kurzes Solo, das mit der Band verschmilzt, und so ist das irgendwie auf dem ganzen Album: Es geht wirklich um die Band als Ganzes, weniger um die einzelnen Beiträge, so gut manche von ihnen auch sein mögen. Auch Murray fügt sich ein – und das gelingt ihm auch da, wo er zu Höhenflügen abhebt, wie in seinem phantastischen Solo in „Third World Anthem“. Auf diesen Höhenflug folgt dann noch einmal Johnson mit einem längeren Beitrag. Die neue „Zoot Suite“ ist nicht mal halb so lang wie die erste Aufnahme, es geht schneller zur Sache, Johnson ist hier am Barisax die Wildcard, der hier im ersten Teil über und unter den anderen hindurchspielt. Murray hebt später zu einem kurzen Solo ab, das in wenigen Sekunden sein ganzes Können auffächert: der tolle Ton, die Höhenflüge, der Punch, die verqueren Einfälle, der Flow, die Brüche … und Purcell glänzt dann auch nochmal – ein Musiker, der sich echt vor niemand zu verstecken braucht! Johnson schliesst vor der kurzen Wiederholung des Riffs den Solo-Reigen am ganz am Boden seines Baritonsaxophons, funky, funky, funky … und das perfekt passt zu dem Album. Das ist wirklich super – ich muss die 4-CD-Box mal in Griffweite behalten und öfter was daraus anhören!

David Murray & Jack DeJohnette – In Our Style | Fürs gemeinsame Album bei Murrays Label DIW bringt DeJohnette zwei Stücke vom zweiten Special Edition-Album (ohne Murray) mit, „Tin Can Alley“ und „Pastel Rhapsody“. Auch der Closer „Kalimba“ stammt von ihm. Murray bringt das tolle Titelstück sowie „The Dice“ von Butch Morris mit, und auf den beiden Stücke stösst Fred Hopkins am Bass zum Duo. „Both Feet on the Ground“ (auch auf „Solo Live Vol. 1) und „Great Place“ (auch auf „David Murray Big Band Live at Sweet Basil Vol. 2“) sind die zwei Murray-Originals, die zudem am 3. und 4. September 1986 im Sound Ideas aufgenommen wurden (David Baker/Kazunori Sugiyama). Ich bin froh, dass ich dieses Album nach mehreren missglückten Anläufen inzwischen doch hier habe. Es lief die letzten Wochen schon ein paar Male und gehört zu den Aufnahmen, auf denen Murray geradezu atemberaubend souverän unterwegs ist – allerdings auf recht stille Art und Weise, ohne die grossen Gesten, ohne Rampensau-Mackertum, sondern tief im Dialog mit DeJohnette, dessen tolles Spiel gerade in den Duo-Stücken sehr schön zur Geltung kommt und auch hervorragend klingt. Noch dichter wird der Dialog nach „Tin Can Alley“ auf dem dritten Stück, „Both Feet on the Ground“, mit Murray an der Bassklarinette – stellenweise in Dolphy-Stimmung. DeJohnette klingt dabei stets sehr transparent, auch die Beckenschläge decken selten etwas zu. Das zweite Trio-Stück von Morris steht in der Mitte des sehr gut programmierten Albums – quasi eine Rückkehr zum Einstieg. Danach setzt DeJohnette sich für seine „Pastel Rhapsody“ an den Flügel – und diese ruhige Performance dient vielleicht auch etwas der Besinnung, bevor mit „Great Peace“ noch ein dichtes ts/d-Duo folgt. Im Closer „Kalimba“ gibt es synthetische (?) Kalimba und einen Drum-Computer mit ziemlich tollen, äusserst artizifiellen Sounds … und darüber zum zweiten Mal die Bassklarinette von Murray. Das geht in so viele Richtungen, ist vielleicht auch eine Art Fortschreibung von manchen Ansätzen, die DeJohnette auf „Album Album“ umgesetzt hat. Musik von grösster Wärme und erstaunlichem Reichtum nach den Duos, die äusserlich eher karg und sehr konzentriert daherkommen.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #160: Barre Phillips (1934-2024) - 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba