Antwort auf: Vanguard Jazz Showcase (1953–1958)

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Joe Newman and His Band ist im März 1954 entstanden – sein Debut als Leader, die Band auch wieder mehrheitlich aus Basie-Leuten zusammengestellt, aber moderner als bei den meisten Vanguard-Sessions: Matthew Gee, Frank Wess (fl/ts), Frank Foster, Johnny Acea, Eddie Jones und Osie Johnson. Frank Foster hat den Opener „Close Quarters“ arrangiert, in dem neben dem Leader u.a. der Komponist und Gee glänzen. Osie Johnson hat mit Newman beim Opener mitgeschrieben und ohne Foster haben die zwei „Jose Beguines“ gemeinsam konzipiert, und Johnson hat das Stück sowie das nächste, Aceas „Blues for Slim“, arrangiert. Den Closer „The Sleeper“ steuerte dann Ernie Wilkins bei. Das ist wirklich von A bis Z toll hier: Arrangements, Soli, der Groove der Rhythmusgruppe … und der Mann an der Posaune mag nicht halb so bekannt sein, wie der Rest, aber das würde man nie denken, wenn man seine exzellenten Beiträge hier hört. Osie Johnson prägt das alles nicht nur als Komponist und Arrangeur sondern auch als sehr wacher Begleiter, der – wir hatten’s gerade bei David Murray mal davon – auch die Kunst beherrscht, ein Stück zu strukturieren, jedem Solisten einen etwas anderen Beat zu legen usw. Der beste Drummer der NT-Band von Count Basie, ohne Zweifel (und überhaupt der beste neben Jo Jones und Shadow Wilson[ > siehe unten]).


The Brooklyn Masonic Temple at 317 Clermont Avenue at the corner of Lafayette Avenue in the Fort Greene neighborhood of Brooklyn, New York City was built in 1906 and was designed by Lord & Hewlett in association with Pell & Corbett, in the Greek Revival style. It is located in the Fort Greene Historic District. (Source: „Fort Greene Historic District Designation Report“) (Bildquelle)

Ein Exkurs zu der Art, wie die Aufnahmen gemacht wurden: Cunniffe erläutert das recht detailliert, inklusive Vanguard war ein Off-Shoot der Bach Society und wurde dann zum „Dach“ der verschiedenen Label/Reihen (es ist also dasselbe Vanguard, bei dem z.B. Joseph Szigetis Aufnahmen der Partiten und Sonaten für Solo-Violine von Bach erschienen sind, auch gab es in den frühen 50ern Kantaten-Einspielungen, die vermutlich immer noch lohnen würden … ich kenne diese leider nicht). Los geht es in den Dreissigern mit John Hammond einerseits und Seymour und Maynard Solomon andererseits – die Wege kreuzten sich erst im November 1953, sechs Wochen bevor Hammond für Vanguard die erste Jazz-Session (mit Vic Dickenson) produzierte. Hammond wurde im Januar 1946 aus der Army entlassen, kehrte zu Columbia zurück, wo er aber bald kündigen musste, nachdem er auch für Keynote zu arbeiten begonnen hatte, während sich auch noch seine Frau von ihm scheiden liess. Er heuerte als Produzent für Majestic an, scheiterte kläglich beim Versuch, Ella Fitzgerald und Count Basie für das Label unter Vertrag zu nehmen. Er wurde dann Präsident von Keynote, das bald Bankrott ging. In der Zeit produzierte Hammond ein paar Klassik-Aufnahmen, u.a. 1947 Stravinskys „Dumbarton Oaks“. Als Mercury Keynote übernahm, wurde Hammond dort vice resident und verfolgte denselben Weg wie bei Keynote weiter: er suchte hochwertige Klassikaufnahmen, die er in Lizenz in den USA herausbringen konnte, besonders welche von Telefunken. Das Label hatte seine Master nach Prag gebracht und nach Kriegsende war die Regierung der CSSR im Besitz der Aufnahmen. Hammond zeichnete im September 1947 einen Vertrag, im Januar 1948 erschienen wieder Telefunken-Aufnahmen in den USA – doch der Staatsstreich im Februar änderte alles, die neuen kommunistischen Machthaber hatten kein Interesse an einer Zusammenarbeit mit den USA, erst recht nicht, wenn es um Schätze wie Aufnahmen von David Oistrach ging. Dazu kam, dass Capitol behauptete, die US-Rechte an Telefunken-Produktionen zu besitzen – obwohl die Mercury-Alben besser klangen und sich besser verkauften, zog das Label sie nach ein paar Jahren vom Markt zurück.

Die Solomons hatten in derselben Zeit in New York City ein neues Tonbandgerät gekauft und eine Firma gegründet, die 1950 mit Aufnahmen von Bach-Kantaten startete: Bach Guild. Ende des Jahres kam mit Vanguard ein zweites Label, auf dem klassische Musik, die nicht von Bach komponiert stammte, veröffentlicht wurde, ebenso wie Folk Songs. Die Solomons wollten Hi-Fi-Aufnahmen (eben wie z.B. Telefunken) mit den besten europäischen Musikern herausbringen, aber nicht in Lizenzausgaben sondern mit eigenen Produktionen. Auch Oistrach stiess bald zum Label, der österreichische Dirigent Felix Prohaska wurde mit dem Orchester, dem Chor und Solisten der Wiener Staatsoper zu einem wichtigen Vanguard-Künstler. 1951 brachte die Bach Guild eine exzellente Aufnahme des Oster-Oratoriums heraus, aufgenommen mit einem einzigen Overhead-Mikrophon, dabei eine hervorragende Balance zwischen Solisten, Chor und Orchester erzielend. Die Seymours machten sich in der Folge auf die Suche nach einem passenden Raum und US-Musikern, um auch daheim solche Aufnahmen produzieren zu können.

Diese minimalistische Produktionsweise verband Hammond mit den Solomons. Einer ihrer wichtigsten Exponenten war C. Robert Fine, der die „Dumbarton Oaks“-Aufnahme angefertigt hatte. Hammond hatte dabei zugeguckt, wie Fine während der Orchesterproben sorgfältig alles so eingerichtet hatte, dass die lautesten Stellen gerade knapp an die Toleranzgrenze der Mikrophone gelangten. Als alles eingerichtet war, wurde nichts mehr an der Anordnung der Musiker verändert für den Rest der Session – und die Dynamik der Aufnahme bildete die Dynamik der gespielten Musik und auch den Raum ab, in dem gespielt wurde. Als Keynote dichtmachte, wechselte Fine zu Mercury, wo er die berühmten „Living Presence“ Aufnahmen begründete, für die maximal drei Overhead-Mikrophone eingesetzt wurden. Ende 1952 hatte Hammond Mercury verlassen und schrieb im folgenden Jahr gelegentlich Platten-Rezensionen für die New York Times. Am 22. November publizierte er dort eine Tirade zum seiner Ansicht nach schlechten Stand, was die Aufnahmetechnik bei Jazz-Veröffentlichungen anging. Eine typische Session mit der Sauter-Finegan Big Band verlange zwei Konsolen, weil bis zu zehn Mikrophone eingesetzt würden, um Instrumente wie eine Piccolo-Flöte einzufangen – was zu einer völlig unnatürlichen Balance führe. Hammond war zwar kein Fan von Bebop, pries aber diverse Aufnahmen von Dave Brubeck, Shorty Rogers, dem MJQ usw., weil sie gut klingen würden und auch musikalisch gut seien. Er schliesst den Artikel mit einer Art Stellenbewerbung: „There is an enormous opportunity for real high-fidelity disks of jazz and popular music. Just as English Decca and London led the way in the classical field with FFRR (Full Frequency Range Recording) the opportunities are enormous in the popular market.“ – Ausser eine Aufnahme der englischen Ted Heath-Band gäbe es noch nicht mal eine Big Band-Aufnahme, die das Potential demonstrieren könne.

Die Solomons meldeten sich tatsächlich bei Hammond, und bloss sechs Wochen später fanden im Masonic Temple in Brooklyn die ersten Aufnahmen für die Reihe Vanguard Jazz Showcase statt. Seymour Solomon hatte in der Halle den perfekten Ort gefunden und hing ein Mikrophon 30 Fuss über Boden an die Decke, die Instrumente wurden im Raum verteilt, bis die Balance passte, der Raum mit seinen Holzwänden und -böden spielt dabei natürlich mit, gehört zum tollen Sound bei den meisten dieser Aufnahmen dazu. Und Mosaic hat sie tatsächlich allesamt ab den Master-Bändern, die heute der Concord Music Group gehören, neu transferiert.


At the December 30, 1953 session. L to R: Maynard Solomon (foreground, back to camera), Herbert Corsack, Seymour Solomon, Nat Hentoff (seated), Sir Charles Thompson, Benny Powell (seated at piano), Gene Ramey, John Hammond, Osie Johnson, Pete Brown. (Bildquelle)

Ich finde bloss ein einziges Foto von einer Vanguard-Session, auf Seite 1 im Booklet der Mosaic-Box und netterweise auch auf der Website.

Dazu kam, dass mit dem Tonbandgerät lange Stücke möglich wurden … was bei manchen Stücken auch eher lustige Folgen hat: es gibt zwischendurch mal eine Themenrekapitulation und eine zweite Runde Soli, wenn ein Stück 10 Minuten oder länger werden sollte: die Musiker waren sich sowas im Studio schlicht noch nicht gewohnt (und in den Big Bands natürlich auch auf den Bühnen eher nicht).

Hier sieht man Filmmaterial mit von C. Robert Fine platzierten Mikrophonen bei einem Orchester:

(Der Recording Truck, mit dem C. Robert Fine ab 1951 unterwegs war schaffte es bis nach Moskau … faszinierende Fotos und Lektüre hier. Im Studio setzte auch Fine später mehr Mikrophone ein, hier mehr faszinierende bebilderte Lektüre.)

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