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friedrich
So, sitze im Zug von Berlin nach Südtirol. Nichts anderes zu tun als aus dem Fenster zu schauen, belegte Brötchen zu essen und Kaffee aus der Thermosflasche zu trinken. Und Musik hören und etwas dazu schreiben.
sehr schön, vielen dank, dass du dir dafür die zeit nimmst. ich hocke gerade am niederrhein, stapfe an graugänsen und störchen vorbei und komme vielleicht auf der weihnachtlichen rückfahrt dazu, meine motivation hinter diesem bft etwas auszuführen.
friedrich01.03 – Poor old Johnny Ray erkenne ich natürlich am ersten Ton. He moves my heart in mono. Zurückhaltung ist nicht seine Sache. Unglaublich prononciert, in beide Richtungen, mal fast geflüstert, dann wieder voller Inbrunst heraus geschmettert. Ich weiß nicht ober das Kitsch ist oder Kunst. Jedenfalls ganz große Oper!
Bei Vokalmusik neigt man dazu, der Gesangstimme die größte Aufmerksamkeit zu schenken, während die Instrumentalbegleitung in den Hintergrund rückt. Aber was soll neben Johnny Ray auch existieren?
wie bist du denn erstmals auf johnnie ray gekommen? ich habe ihn erst durch die beschäftigung mit wilder kennen gelernt, er hat von ihm eigene songs komponiert bekommen („love me“), der hasste aber rock and roll, aber wohl nicht, wenn er so gekonnt gesungen wurde. das ist ja wirklich erstuanlich, was ray hier aus jeder einzelnen silbe herausholt, immer anders, mit großen kontrasten (wie du ja schreibst). zum arrangement mit den four lads im background kann man wohl einiges schreiben, aber vielleicht nicht nur gutes…
friedrich01.04 – Der Titel ist meines Wissens ein Shakespeare-Zitat. Oder? Ich habe in der Auflösung inzwischen gelesen, dass der Autor dieser Stücke Alec Wilder ist. Ich kannte einige Stücke von ihm, ohne dass mit bewusst war, wer sie geschrieben hat. Hatte Alec Wilder eine Neigung zu Melodramatik? Und zur Melancholie? Bis jetzt höre ich hier eigentlich nichts als Sorgen, Sorgen, Sorgen – auch wenn Dinah Washington das Elend ihre Situation offenbar noch nicht begriffen hatte.
Hier auch wieder nichts als Elend und Verzweiflung. Aber diese klare feine Stimme suhlt sich sehr schön darin.
dafür gibt es ja ein genre, die sogenannten „torch songs“, und jedes genre hat seine konventionen. billie holiday hat ja ihr ganzes leben kaum was anderes gesungen. hier ist die tragödie aber besonders ausgestellt und tatsächlich literarisch unterfüttert. die referenz ist der erste satz aus RICHARD III., mit dem kleinen unterschied, dass richard in seiner ganzen hybris „our discontent“ sagt, obwohl es nur seines ist (das volk lebt ja eigentlich gerade in frieden und atmet auf, langweilige zeiten für einen schurken wie ihn). bei wilder/berenburg ist es „my discontent“ und hier wird eher subjektiv beschrieben, wie die ganze welt in dissonanz wahrgenommen wird, nur weil man sein eigenes liebesleben nicht in den griff bekommt.
friedrich01.05 – Lady Sing The Blues ist nicht von Billie Holiday geschreiben worden? Hätte ich geschworen! Oder ist das hier ein anderes Stück? Offenbar. Hat mich erst mal verwirrt. Aber ist auch etwas ähnlich. Ist natürlich etwas schwierig, mit so einem Songtitel anzutreten, wenn die meisten Hörer dabei gleichzeitig ein anders Lied im geistigen Ohr haben. Dieses Stück klingt dagegen schon etwas brav.
brav finde ich das nicht, aber tatsächlich sind das zwei unterschiedliche songs, die texte sind völlig anders und holiday/nichols arbeiten noch mit anderen elementen. das absurde ist aber, dass wilder „seine lady“ für holiday geschrieben hatte, die nahm den song aber nicht auf (sondern ging damit zu nichols, um ihn soweit zu verändern, dass die beiden einen eigenen credit verlangen konnten? das wäre meine erklärung). beide songs wurden auch noch gleichzeitig lizensiert (1955/56), cleo laine war die erstinterpretin des wilder-songs, von stan getz gibt es eine tolle instrumentalversion (angeblich hat er das stück auf der beerdigung seiner mutter gespielt und sich danach mit wilder angefreundet).
friedrich
01.07 – Da sind Leid und Elend ja wieder! Tolles gehauchtes Saxophon am Anfang, die weibliche Gesangstimme, greift Ton und Stimmung ebenso toll auf. Musikalisches understatement führt hier zu größtem emotionalen Effekt. Auch sehr schöne Begleitung mit dem Vibraphon und der Gitarre. Ganz toll!
ja, das ist ist eine ganz schöne ansammlung modernistischer individualisten, die hier einer gesanglichen eintagsfliege zuarbeiten (was gemein ist, man weiß nichts über die hintergründe, es gab aber ja schlimme fälle, in denen vielversprechende weibliche karrieren auf einen schlag zuende waren).
friedrich01.08 – Mir passiert es manchmal, dass ich mir eigentlich bekannte Menschen unerwartet in ungewohnter Umgebung treffe, sie zuerst nicht erkenne und denke, irgendwas passt hier nicht zusammen. Dauert dann erst mal ein Moment, bis ich sage“ „Mensch … äh … Dings … äh … was machst du denn hier?“
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich auch Marvin Gaye hier zunächst nicht erkannt habe. Es lag wohl am Kontext dieses BFTs, außerdem verbinde ich MG mehr mit seinen späteren Aufnahmen. Und dieses Stück ist ja nicht mal im typischen Motown-Sound. „Ah … Marvin … äh… was machst du denn hier?“
Ein Lied vom selbstlosen geduldigen Opfer, vom Text eigentlich kaum zu ertragen, aber von Marvin Gaye und dem Orchester zuckersüß serviert.
so liest du den text? ich finde ihn ambivalenter, vielleicht sogar ein bisschen creepy – da lungert jemand, der eigentlich keine chance mehr hat, weiterhin im leben der angebeten person herum und kann nicht verstehen, dass sie sich für jemand anderes (oder sogar immer wieder andere) entschieden hat.
marvin gaye ist hier natürlich eine überraschung, auch für mich, weil ich ja ganz offen nach interpret*innen von wilder-songs gesucht habe. dass gaye mit sowas mal ernsthaft angefangen hat, wusste ich vorher nicht. und ich finde es tatsächlich ziemlich hübsch.
friedrich
01.09 – Zur Abwechslung hier eine ganz kleine Besetzung und auch mal ein gutes Stück Optimismus und Humor. Der Gesang klingt sehr charmant, die Gitarre mit dezenter Begleitung, sehr gelassen, fast beiläufig. Schöne Verdichtung und Steigerung der Intensität, als würde sich eine Blüte langsam entfalten. Sehr charismatischer Sänger, finde ich. Wunderbar!
ja, den kannte ich tatsächlich auch vorher nicht, er spielt auch die gitarre. die bekannteste interpretation dieses songs ist diese hier von den beiden aus #1.4.
friedrich01.10 – Little Jimmy Scott, nochmal das Lied vom geduldigen selbstlosen Opfer. Die Rolle scheint ihm hier sehr zu behagen und er überzeugt mich, obwohl oder weil er etwas weinerlich klingt. Hochglanzarrangement mit allem Pipapo, aber auch etwas generisch. Ich hatte das Album, von dem diese Aufnahme stammt, sogar mal. In sparsamer Dosis verabreicht mag ich Jimmy Scott sehr. Über die gesamte Spielzeit des Albums fand ich die Gleichförmigkeit der Arrangements, das fast (?) durchgegehende Balladentempo und Jimmy Scotts Stimme etwas ermüdend. Aber als einziges Stück in einem Mix ist das toll!
das geht mir so ziemlich ähnlich, ich habe das album bisher nur gestreamt und scheue mich davor, es anzuschaffen.
friedrichJetzt Umstieg in München. Teil 2 folgt.
ich freue mich darauf und wünsche eine gute weiterreise!
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