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Kommentare Teil 1
So, sitze im Zug von Berlin nach Südtirol. Nichts anderes zu tun als aus dem Fenster zu schauen, belegte Brötchen zu essen und Kaffee aus der Thermosflasche zu trinken. Und Musik hören und etwas dazu schreiben.
Ich habe bis hier kaum mitgelesen, aber @vorgarten s Auflösung mal überflogen. Da sind für mich ein paar Überraschungen dabei. Ich finde es schön, das dieser BFT ein übergeordnetes Thema hat – und mit der Gegenüberstellung von Vokal- und Instrumentalstücken ergibt die Teilung in zwei Teile Sinn.
01.01 – Sehr schön intim und gleichzeitig abgeklärt wirkender Gesang, die Instrumentalbegleitung bleibt sehr im Hintergrund (mit Ausnahme des kleine Piano-Solos), was hier auch passt. Die melancholische Nachdenklichkeit des Textes wird schön in die Musik übersetzt.
01.02 – Beim vorherigen Stück hörte man eine reife und enttäuschte Frau, hier höre ich die Stimme eines verträumten Mädchens („… dada-dah-da-dadada-dah ..“) Sehr schön, sehr zart, aber auch unglaublich naiv. Dinah Washington habe ich nicht erkannt. Ich phantasiere, wie es wirken würde wenn ein Mann dieses Lied in Bezug auf eine Frau singt?
01.03 – Poor old Johnny Ray erkenne ich natürlich am ersten Ton. He moves my heart in mono. Zurückhaltung ist nicht seine Sache. Unglaublich prononciert, in beide Richtungen, mal fast geflüstert, dann wieder voller Inbrunst heraus geschmettert. Ich weiß nicht ober das Kitsch ist oder Kunst. Jedenfalls ganz große Oper!
Bei Vokalmusik neigt man dazu, der Gesangstimme die größte Aufmerksamkeit zu schenken, während die Instrumentalbegleitung in den Hintergrund rückt. Aber was soll neben Johnny Ray auch existieren?
01.04 – Der Titel ist meines Wissens ein Shakespeare-Zitat. Oder? Ich habe in der Auflösung inzwischen gelesen, dass der Autor dieser Stücke Alec Wilder ist. Ich kannte einige Stücke von ihm, ohne dass mit bewusst war, wer sie geschrieben hat. Hatte Alec Wilder eine Neigung zu Melodramatik? Und zur Melancholie? Bis jetzt höre ich hier eigentlich nichts als Sorgen, Sorgen, Sorgen – auch wenn Dinah Washington das Elend ihre Situation offenbar noch nicht begriffen hatte.
Hier auch wieder nichts als Elend und Verzweiflung. Aber diese klare feine Stimme suhlt sich sehr schön darin.
01.05 – Lady Sing The Blues ist nicht von Billie Holiday geschreiben worden? Hätte ich geschworen! Oder ist das hier ein anderes Stück? Offenbar. Hat mich erst mal verwirrt. Aber ist auch etwas ähnlich. Ist natürlich etwas schwierig, mit so einem Songtitel anzutreten, wenn die meisten Hörer dabei gleichzeitig ein anders Lied im geistigen Ohr haben. Dieses Stück klingt dagegen schon etwas brav.
01.06 – Da ich mich auf dem Weg in den Urlaub, von der lauten platten Stadt in die ruhige bergige Landschaft befinde, will ich diesen romantisch-naiven, eigentlich lustig wirkenden Text mal so stehen lassen. Der Sänger klingt so, als würde er lächeln. Hier ausnahmsweise mal keine Tragik. Heile Welt!
01.07 – Da sind Leid und Elend ja wieder! Tolles gehauchtes Saxophon am Anfang, die weibliche Gesangstimme, greift Ton und Stimmung ebenso toll auf. Musikalisches understatement führt hier zu größtem emotionalen Effekt. Auch sehr schöne Begleitung mit dem Vibraphon und der Gitarre. Ganz toll!
01.08 – Mir passiert es manchmal, dass ich mir eigentlich bekannte Menschen unerwartet in ungewohnter Umgebung treffe, sie zuerst nicht erkenne und denke, irgendwas passt hier nicht zusammen. Dauert dann erst mal ein Moment, bis ich sage“ „Mensch … äh … Dings … äh … was machst du denn hier?“
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich auch Marvin Gaye hier zunächst nicht erkannt habe. Es lag wohl am Kontext dieses BFTs, außerdem verbinde ich MG mehr mit seinen späteren Aufnahmen. Und dieses Stück ist ja nicht mal im typischen Motown-Sound. „Ah … Dings … äh … Marvin … äh… was machst du denn hier?“
Ein Lied vom selbstlosen geduldigen Opfer, vom Text eigentlich kaum zu ertragen, aber von Marvin Gaye und dem Orchester zuckersüß serviert.
01.09 – Zur Abwechslung hier eine ganz kleine Besetzung und auch mal ein gutes Stück Optimismus und Humor. Der Gesang klingt sehr charmant, die Gitarre mit dezenter Begleitung, sehr gelassen, fast beiläufig. Schöne Verdichtung und Steigerung der Intensität, als würde sich eine Blüte langsam entfalten. Sehr charismatischer Sänger, finde ich. Wunderbar!
01.10 – Little Jimmy Scott, nochmal das Lied vom geduldigen selbstlosen Opfer. Die Rolle scheint ihm hier sehr zu behagen und er überzeugt mich, obwohl oder weil er etwas weinerlich klingt. Hochglanzarrangement mit allem Pipapo, aber auch etwas generisch. Ich hatte das Album, von dem diese Aufnahme stammt, sogar mal. In sparsamer Dosis verabreicht mag ich Jimmy Scott sehr. Über die gesamte Spielzeit des Albums fand ich die Gleichförmigkeit der Arrangements, das fast (?) durchgegehende Balladentempo und Jimmy Scotts Stimme etwas ermüdend. Aber als einziges Stück in einem Mix ist das toll!
Jetzt Umstieg in München. Teil 2 folgt.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)