Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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friedrich

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redbeansandrice

friedrich

redbeansandrice VA – The Changing Face of Harlem RIP Dan Morgenstern (der für die Liner Notes hier einen seiner acht „beste Liner Notes“ Grammies bekommen hat)

Ach, den hatten wir hier schon mal erwähnt, oder? Friede seiner Seele! Eine dieser eigenartigen Biografien: 1929 in München als Sohn eines jüdischen Vaters geboren und über Umwege 1947 in die USA gelangt. Ich stelle mir vor, wie er den (etwa eine Generation älteren) Alfred Lion in Lower Manhattan im Deli trifft und bei bagel with lox und Kaffee mit ihm auf Deutsch über Jazz fachsimpelt. Was ist denn das genauere Thema dieser „The Changing Face Of Harlem“-Compilation und was hört man darauf?

für mich hat die Biografie extra Gewicht, weil Morgensterns Vater Soma ein enger Freund meines Lieblingsschriftstellers Joseph Roth war, und der kleine Dan tatsächlich Roth noch knapp vor seinem Tod im Juli 39 im Pariser Exil kennenlernen durfte… es ist also auch einer der letzten gegangen, die Roth noch getroffen haben… von Roth gibt es dieses Zitat, seine Kinder würden keine Europäer mehr sein sondern nach seiner Flucht als echte Amerikaner weiterleben… für Roth hat sich das nicht erfüllt, er schaffte es selbst nicht mehr nach Amerika, oder bis zum zweiten Weltkrieg… aber man kann sich einbilden, dass sich die Prophezeiung quasi im Sohn seines besten Freundes erfüllt hat… [da ich selber ein Kind grossziehe, dessen Muttersprache wahrscheinlich nicht deutsch sein wird, spricht so ein Zitat natürlich sehr direkt zu mir… zu Deutschland hatte ich nie ein besonderes Verhältnis, zu der Sprache irgendwann schon] und so setzte sich eine grosse Geschichte aus dem Osten der KuK Monarchie quasi in New York fort… und die Musik dazu hätte nicht besser sein können… ein anderer absoluter Fixpunkt in meinem Universum ist Tony Fruscella at the Open Door mit liner notes von Dan Morgenstern, der in den 50ern dabei gewesen war, als Fruscella im Open Door auftrat (gibt auch youtube videos, wo er davon erzählt)… für mich wirklich ein der Alben, das mich vor ca 20 Jahren zurück zum Jazz brachte (allerdings mit der andorranischen CD, nicht der Spotlite LP)… und ja: Morgenstern, Lion und Wolff werden sich was zu erzählen gehabt haben… (…)

Das liest sich sehr interessant, anregend und auch berührend. Danke dafür!

Ich bin leider etwas lesefaul, bzw. nehme mir nicht oft die Zeit fürs Lesen. Eins von Joseph Roths Themen ist offenbar der Niedergang der k.u.k. Monarchie und die Folgen. Obwohl: Gerade historische Themen finde ich oft faszinierend. Wie ist das alles überhaupt passiert? Wenn man so will, hat Hitler nicht nur das rosa Kaninchen gestohlen, er war auch dafür verantwortlich, dass zwei deutsche Juden in NYC ein bedeutendes Jazzlabel gründeten und dass der Österreicher Dan Morgenstern den Jazz entdeckte und das Schreiben darüber zu seiner Lebensaufgabe machte. Und die Gebrüder Czyz hatten auch gute Gründe, Polen in Richtung Chicago zu verlassen und haben dort dem Blues (und dem Jazz) auf die Sprünge geholfen. Noch langfristiger betrachtet, muss man eigentlich Kaiser Franz Joseph I dafür verantwortlich machen.

Ob sich die alle mal getroffen haben? Lion, Wolf, Morgenstern und die Chess Bros.? Voneinander gewusst haben sie sicher, drei davon hätten sich in ihrer Muttersprache miteinander verständigen können, die Chess Bros. hätten es mit Jiddisch zumindest versuchen können. Vielleicht wäre man dann aber doch besser auf die Sprache der neuen gemeinsamen Heimat ausgewichen.

Die Interviews mit Dan Morgenstern scheinen interessant zu sein. Dafür müsste ich mir mal 2 Wochen Urlaub nehmen. ;-)

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)