Antwort auf: Ornette Coleman

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In den Neunzigern wurde es keineswegs stiller um Coleman – aber Aufnahmen gab es nur wenige. 1996/97 überraschte er mit neuen Alben ohne elektrische Instrumenten: die zwei Sound Museum-Alben mit Geri Allen, der Duo-Mitschnitt mit Joachim Kühn … und danach wurde es auf Platte endgültig still, bis 2006 noch „Sound Grammar“ folgte (und 2014 „New Vocabulary“, was vermutlich als Bootleg zu betrachten ist). Doch bis zu den neuen akustischen Platten gab’s noch zwei andere: einen Film-Soundtrack und ein letztes Prime Time-Album. Der Filmsoundtrack gehört zu David Cronenenbergs Naked Lunch (1991, Trailer) und präsentiert Ornette als einsamen Saxophonspieler vor einem 77köpfigen Orchester, komponiert und dirigiert von Howard Shore. Da sind auch elektronische Klänge drin, es gibt Passagen, die wie diegetische Filmmusik klingen (in der längeren „Interzone Suite“ etwa, die ein wenig an Pierre Henry erinnert). Auch eingebettet ist Monks Stück „Misterioso“, das im Klavier hinter Shores „Simpatico“ als eine Art Quodlibet auftaucht. Von Ornette sind die Stücke „Bugpowder“, „Intersong“, „Ballad/Joan“, „Midnight Sunrise“ und „Writeman“ Teil des Soundtrackalbums. „The compact disc of the soundtrack has another form that allows the listener to experience a record format as if it could appear in that form with the dialogue“, schreibt Coleman in seinen Liner Notes. Er interpretiert den ganzen Film als „harmolodic“, „meaning all parts are equal. Its score and script are harmolodic. The actor’s sound, scenes, dialogue, objects and colors have equal relation to the art of NAKED LUNCH.“ Aufgenommen wurde die Musik an vier Augusttagen (1991 nehme ich an, die Angabe fehlt) mit dem London Philharmonic Orchestra in den CTS Studios in London. Neben Ornette, wirken auch Denardo (d), Barre Phillips (b), J J Edwards (sintir), Aziz Bin Salem (nai) sowie David Hartley (p auf „Misterioso“) mit. Erschienen ist das Album bei Milan, einem Label, das ich eigentlich nur kenne, weil es ab Mitte der Achtziger die Musik Astor Piazzollas veröffentlicht hat. Ornettes Spiel klingt manchmal wieder so zart wie bei den coolen Altsaxern der Fünfziger, er hat einen tollen Ton … und manches klingt fast klassisch, aber er rifft auch, lässt seinen Ideen freien Lauf. Das ganze bleibt Stückwerk, wofür die 48 Minuten dann doch etwas viel sind, aber es gibt echt viele schöne Sachen zu hören hier. Ganz toll sind Colemans drei längere Stücke im Trio mit Phillips/Denardo. Es gibt zart singendes Saxophon im „Intersong“ ein Quasi-Duo mit Phillips, Denarde Coleman nur leise an Trommeln punktiert. Ähnlich ist „Ballad/Joan“ angelegt, eine Rubato-Ballade mit gestrichenem Bass, Denardo wieder nur an den Trommeln. Im Closer „Writeman“ legt dann Denardo mit einem dichten Beat los, bevor Coleman und Phillips einsteigen.

https://youtu.be/hcXJDkpk_gw

Das ist ein kurzer Ausschnitt von einem unbekannten Auftritt – könnten Phillips/Denardo sein, aber leider steht da überhaupt nichts dazu und die Bildqualität ist sehr bescheiden. Das zu hörende Stück ist wohl wirklich „Naked Lunch“, das erste auf dem Album mit der Filmmusik. Das ist nur ein Fragment, aber es gibt auch den ganzen Soundtrack in der Tube.

https://youtu.be/46aR6YabwxQ

Live kann man Coleman auch in der Zeit etwas intensiver verfolgen – hier ist er mit Prime Time im Sommer 1991 beim Estival Jazz in Lugano, die Band wieder mit einer Veränderung: statt eines zweiten Bass ist neu Dave Bryant (p, keys) dabei. Zudem die bisherigen Ken Wessel und Chris Rosenberg (g), Al MacDowell (b), Denardo Coleman (d) und Badal Roy (tabla, perc). Das geht mit Roy solo los, dann stösst die Band dazu, einer nach dem anderen und mit namentlicher Vorstellung: Wessel, MacDowell, Bryant, Rosenberg, Denardo … ein ziemlich klassisches Warm-Up, das immer intensiver wird und den Teppich für den Boss ausrollt, der nach acht Minuten auf die Bühne kommt. Schön zu sehen bis dahin das jeweilige Equipment (die Gitarrensynthesizer-Einrichtung von Rosenberg, die elektronischen Pads von Denard, der Roland D-50 Synthesizer auf dem Flügel usw.). Ich hab mal die Setlist, die ich zu dem Mitschnitt habe, in den ersten Kommentar zu dem Video eingestellt (mein erster YT-Kommentar? Die Zeitangabe funktionieren nicht, die müssten ja additiv neu erstellt werden, dass daraus automatisch Links erstellt werden, sah ich erst, als es zu spät war). Musikalisch würde ich auch sagen, geht das etwas weg vom Funk und mehr zum Jazz zurück – was ja Ornettes Richtung war in den Neunzigern. Mittendrin (so um 33 Minuten herum) spielt Wessel einen Satz aus einer Cello-Suite von Bach, zunächst solo an der leider etwas hässlich klingenden eingesteckten akustischen Gitarre (Roy raschelt ein wenig und spielt später leise Tabla dazu), für den zweiten Teil stösst dann die ganze Band dazu und improvisiert, während Wessel weiter Bach spielt, was ziemlich irre Dissonanzen erzeugt. Das passt wohl zum Credo von Coleman: „remove the caste system from sound“. (Direkt danach gibt’s einen Schnitt und man sieht kurz die Adresse des Crownpropeller Blogs – die drei Einzelteile hatte ich auch gesehen, vermutlich hat sich beim oben verlinkten Post einfach wer die Mühe gemacht, sie zusammenzumontieren; bei Minute 44 gibt’s dann eine kurze Schweizerdeutsche Ansage und bei Minute 56 noch eine: La Scala in Mailand habe bei Ornette Coleman eine Oper bestellt, aber man sei sich noch nicht einig geworden, was das Libretto angehe … das ganze stammt vom Schweizer Fernsehen, das alte Logo kenn ich noch aus meiner Kindheit).

Von den kommenden Jahren finde ich weniger – das erste oben ist nur ein tolles kurzes „Spelling the Alphabet“ mit Prime Time (Denardo im Blaumann).

Das zweite kommt wohl vom selben Konzert in Tokyo, von dem schon das kurze „Naked Lunch“-Fragment weiter oben stammt: Interzone, Tokyo, 19. Juni 1992 – eine Playlist in acht Teilen… bei der mir unklar ist, was wir hier genau sehen und hören: am Anfang und später gelegentlich Orchester ab Konserve bzw. einfach Filmausscchnitte als Intermezzi mit Ton? Sonst stumme Filmausschnitte (und bunte bewegte Bilder mit abstrakten Farbstrukturen) auf den drei Leinwänden hinter der Band, die man im obigen Video sieht und die hier auch mal als Vollbid reingeschnitten werden? Eine Aufführung des ganzen Soundtracks (sicherlich nicht nur, da sind auch Ornette-Klassiker dabei, aber in Teil 5 – nach einem längeren Orchesterintermezzzo, das schon in Teil 4 beginnt, ist hinter – live – Ornette auch „Misterioso“ zu hören, vermutlich ab der Tonkonserve … hat man da echt eine Spur ohne Sax angefertigt, damit Coleman drüber live spielen kann … es bleibt rätselhaft)? Die Bildqualität ist so schlecht, dass das ziemlich psychedelisch aussieht, was alles andere als unpassend ist – zu hören ist jedenfalls ein Trio (as/b/d) und dann und wann Orchesterparts, zu sehen neben den Musikern Ausschnitte aus dem Film von Cronenberg. An den Übergängen ist entfernter Applaus zu hören. Der Kommentar via Google Translate: „Dies ist ein wertvolles Live-Video des mittlerweile legendären Ornette Coleman Trios im Shiodome Tokyo P/N. Ich lade dies zum Gedenken an Ornette hoch.“ (Shiodome ist ein Viertel Tokyos.)
Das Foto, das ich bei Getty finde, scheint Barre Phillips zu bestätigen (ich bin schlecht im Erkennen von Menschen, drum vorsichtig formuliert). Und musikalisch finde ich Phillips vollkommen plausibel. Musikalisch ist das erste Klasse und schade, dass das nicht besser präsentiert werden kann (Teil 5 bricht z.B. unvermittelt mittendrin ab). Auch das eine Formation, von der bitte bitte unbedingt was veröffentlicht werden sollte. Vielleicht müsste Zev Feldman mal Denardo ein paar Gallonen Honig um den Mund schmieren? Oder jemand macht einfach mal einen sechsstelligen Betrag rüber – könnte ja ins Programm von Kamala Harris aufgenommen werden, wo inzwischen bekannt ist, dass die u.a. Mingus schätzt.

1993 spielte Prime Time in Oakland als Opener für Grateful Dead, in „Three Wishes“ stiess Jerry Garcia als Gast dazu (wie schon auf „Virgin Beauty“). Leider gibt es hier nur Audio, die mögliche Line-Up-Veränderung wäre Brad Jones am zweiten Bass – Kontrabass, auch ein Schritt weiter auf dem Weg zurück zum „akustischen“ Jazz (ich setzte das in Anführungszeichen, weil alle Musik akustisch ist). Das ist offensichtlich aus dem Publikum aufgenommen (passierte bei den Dead ja ständig) – und macht Spass.

Tone Dialing von 1995 ist das letzte Prime Time-Album. Das Label wird zwar weiterhin als Harmolodic angegeben, aber inzwischen ist auch das Verve-Logo zu sehen und Jean-Philippe Allard ist in der langen Dankesliste im Booklet der erste Name. Die Aufnahmen entstanden im Harmolodic Studio in Harlem, New York, anscheinend bereits im Januar und (oder: vom/bis?) Juni 1993. Die Band hat sich nur leicht verändert – sie ist jetzt, am Ende ihres Laufes von zwanzig Jahren, zum Oktett geworden, das Coleman zu Beginn vorgeschwebt war: Ornette Coleman (as, t, v), Dave Bryant (keys), Chris Rosenberg und Ken Wessel (g), Bradley Jones (b), Al McDowell (elb), Denardo Coleman (d, prog), Badal Roy (tabla, perc), sowie auf „Search for Life“, dem zweiten Stück, Chris Walker (b, keys), Avenda „Khadijan“ Ali und Moshe Naim (spoken words). Es gibt 16 Stücke in 66 Minuten, darunter auch wieder die „Bach Prelude“, zu der hier vermerkt ist, dass das Arrangement von Coleman stammt, das Gedicht in „Search for Life“ stammt von Ornette und Ali. Produziert hat Denardo, Gregg Mann agierte wieder als Tonmeister und hat bei „Search“ noch „additional production“ beigesteuert.

Schon im Opener ist der bewegliche Kontrabass von Brad Jones eine starke Präsenz. Das Soundgefüge ändert sich also wieder ein wenig (Bryant finde ich übrigens nicht so ansprechend … dass Coleman sich fürs nächste grosse Projekte Geri Allen holte – und auch auf einem ihrer Blue Note-Alben vorbeischaute – kann ich schon sehr gut nachvollziehen). Mein Eindruck ist hier, dass im Studio wieder die Pop-Schiene obsiegt. Das macht Spass, klingt leichtfüssig, nach dem Rap-Poem an zweiter Stelle folgt mit „Guadalupe“ eine charmante Nummer, in denen die Tabla aus ihrer Haut schlüpfen, um den karibischen Beat zu unterstützen, den auch die Gitarren weben, eine mit semi-akustische mit Akkorden, eine elektrische mit schlängelnden Melodielinien. Dann folgt Bach, dieses Mal mit aktiveren Drums und von einer elektrischen Gitarre gespielt. Dicht wird das auch hier immer mal wieder, aber es bleibt leicht und durchhörbar – und irgendwie auch etwas leichtgewichtig, mag mich jedenfalls selten zu packen. Vielleicht ist das Konzept bzw. seine Umsetzung mit dieser Band inzwischen halt doch etwas ausgeschöpft?

Coda:




Als Coda hier ein paar weitere Links zu Mitschnitten von Coleman zurück bei der „akustischen“ Musik, aber mit einem letzten Auftritt mit Prime Time aus dem Jahr, in dem „Tone Dialing“ erschien … kann das teils einsortieren – alle nur Audio:
– mit Don Cherry, Charnett Moffett, Denardo Coleman beim Jazz Jamboree im Warschau, 23. Oktober 1993
– mit Geri Allen, Moffett und Denardo beim Jazz à Vienne in Frankreich, 17. Juli 1994
– vermutlich auch Allen, Moffett und Denardo, unbekannter Ort, 1994
– Teil 1: Allen, Moffett und Denardo / Teil 2: Prime Time, unbekannter Ort, 1995

Und zuletzt noch der Hinweis auf ein weiters Album, das ich mir noch besorgen muss: der 1939 in Ungarn geborene französische Saxophonist Yochk’o Seffer hat 1996 das Album „Ornette For Ever“ herausgebracht: mit Didier Levallet (b), Tony Marsh (d), auf drei Stücken der Tochter Déborah Seffer (v) … und auf dreien Ornette Coleman höchstselbst.

An eigenen Aufnahmen gab es nicht mehr viele – noch einmal ist Coleman offiziell ins Studio, Ergebnis waren die 1996er-Alben „Sound Museum: Hidden Man“ und „Sound Museum: Three Women“ (mit der Band von den obigen Live-Mitschnitten: Allen, Moffett, Denardo). Dazu kommen zwei offizielle Konzertmitschnitte: das Duokonzert mit Joachim Kühn von den Leipziger Jazztagen 1996 („Colors: Live From Leipzig“, 1997), das die letzte Harmolodic/Verve-Veröffentlichung bleiben sollte), und ein knappes Jahrzehnt später ein Mitschnitt der späten Coleman-Band aus Ludwigshafen („Sound Grammar“, auf einem eigens dafür auf die Beine gestellten Label, rec. 2005, rel. 2006, zu hören sind die beiden Colemans und die Bässe von Greg Cohen und Tony Falanga). Dazwischen fällt der Gastauftritt bei Seffer und danach gab’s 2011 auf dessen „Road Shows Vol. 2“ noch den Überraschungsauftritt mit Sonny Rollins von der grossen Geburtstagssause im Vorjahr, wo Coleman auf „Sonnymoon for Two“ mit dem ein halbes Jahr jüngeren Rollins in einen sehr hörenswerten Dialog tritt. Die Band mit Cohen und Falanga ist 2003-05 dokumentiert, von 2007 gibt es dann noch Mitschnitte mit Falanga und Rückkehrer Al MacDowell sowie mit Charnett Moffett als drittem Bassisten.

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