Antwort auf: Ornette Coleman

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In All Languages heisst das nächste Album, anscheinend im Februar 1987 in New York aufgenommen und im selben Jahr bei Caravan of Dreams Production als Doppel-LP und CD erschienen (später von Harmolodic/Verve wieder auf CD herausgebracht, und die Ausgabe von 1997 habe ich schon sehr lange). Der Titel gibt schon einen Hinweis: Hier spricht Ornette die Sprache seines klassischen Quartetts ebenso wie jene von Prime Time – und diverse Stücke gibt es in Versionen beider Bands zu hören (sieben, wenn ich richtig gucke? Im Booklet der CD von 1997 steht acht, aber „Africa Is the Mirror of All Colors“, „Word for Bird“ und „Sound Manual“ gibt es nur vom Quartett, von Prime Time dann sechs exklusive Stücke – hab das jetzt dreimal geprüft, weil im Booklet von acht, zwei und fünf die Rede ist … keine Ahnung, vielleicht ist noch eins dasselbe Stück aber mit zwei Namen?). Das ganze ist wieder super kompakt, 23 Stücke in ca. 70 Minuten, also keine langen Ausflüge, erst recht nit bei Prime Time, von denen 13 der Stücke stammen. Zuerst ist das wiedervereinte Quartett dran, und da gibt es schon im zweiten Stück eine Überraschung, denn der grösste nicht-singenden Bluessänger aus Texas hat wieder einmal sein Tenorsaxophon dabei (dafür keine Trompete und Violine). Don Cherry, Charlie und Billy Higgins sind dabei – und spielen mit Coleman Musik nach dem harmolodischen Konzept … auch wenn sich das etwas relativiert, denn die Rollenverteilung ist klarer, Haden und Higgins keine routinierten Dauersolierer wie die Kollegen in der zweiten Albumhälfte, in der weiterhin die siebenköpfige Besetzung zu hören ist: Coleman (sax, t), Ellerbee und Nix (g), Tacuma und MacDowell (b), Weston und Denardo (d). Beim Quartett sit in „Space Church (Continuous Services)“ noch etwas mit dem Sound getüftelt: Hall, seltsame Post-Productions-Verzerrungen/Tonhöhenverschiebungen, Extra-Percussion. Als Produzent agiert Denardo Coleman und es würde mich nicht wundern, wenn diese Beigaben seine wären. Gary Lambert, der für die Ausgabe von 1997 Liner Notes schrieb, meint, das Ergebnis sei „the fulfillment of Ornette’s oft-stated wish to ‚remove the caste system from sound.'“

Im Quartett funktioniert die alte Magie noch immer ziemlich gut. Coleman und Cherry gehen sich solistisch die meiste Zeit aus dem Weg, das klingt oft gar nicht so weit weg von den alten Aufnahmen – ausser von den Feinheiten, dem Umgang mit Melodien und tonalen Zentren: die Stücke scheinen tatsächlich alle neu zu sein, jedenfalls sind keine früheren Aufnahmen davon zu finden. Das klingt anders, aber der verspielte Charme, der endlose Flow von melodischen Ideen, der Einbau von kleinen Figuren auch rhythmischer Art, das alles ist von den frühen Aufnahmen her bekannt. Und bei Prime Time ja auch eingeflossen, auch wenn es dort auf andere Instrumente übertragen wurde und sich dabei auch gewandelt hat. Es gibt auch einen karibischen Groove („Latin Genetics“) und im Titelstück „In All Languages“ übernimmt Haden am gestrichenen Bass tatsächlich fast eine zweite Stimme (Cherry spielt hier nur im Thema am Anfang und am Ende mit, Higgins punktiert ein wenig an den Becken und manchmal der Snare).

Der Bruch am Übergang zu Prime Time ist heftig – und mit den hier ebenfalls beigemischten Effekten (kreischende E-Drums, überhaupt immer prominentere E-Drums) klingt das ein wenig nach „Rockit“ oder sowas … und ganz ehrlich: ist die Quartett-Reunion nicht vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass das Prime Time Konzept inzwischen irgendwie ausgeschöpft ist? Jedenfalls wirkt der Opener „Music News“ eher kopflos chaotisch als faszinierend dicht, auch wenn die alle ihr Ding durchziehen – so gut sind sie natürlich, dass sie das stets hinkriegen, und irgendwie ergibt sich dann auch eine Art Groove, doch kaum ist der erreicht, sind die drei Minuten um und es folgt das nächste, wenige Minuten davor im Quartett gehörte „Mothers of the Veil“, auch hier irgendwie lyrisch, aber verschroben, mit ständigen Störmanövern aus allen Richtungen – und Ornette auch an der Trompete. Nach ein paar Minuten Eingewöhnung finde ich das dann doch wieder ziemlich faszinierend, wie Tacuma immer wieder zur zweiten Stimme wird, die Gitarren ihre Melodiefetzen und Akkord-Kürzel spielen, die stapfenden Grooves unerbittlich schreiten. Die ruhigeren Momente gibt es hier auch mehrfach wieder, in „Today, Yesterday and Tomorrow“ etwa, da schwebt Colemans Sax fast elegisch über der Band, zitiert nur um Haaresbreite keine Phrase aus „Cheek to Cheek“ (bei 1:22) und klingt überhaupt als würde er über Changes spielen). Ich kann mich hier also immer noch an diversen Orten festhören, finde es durchaus faszinierend – aber kriege auch ein wenig den Eindruck, dass ich das alles schon mal gehört habe – bis auf die Pop-Anbiederungen, die mich an Ornettes „You’re Under Arrest“ denken lassen, was jetzt erstmal wertfrei gemeint ist … ich hab die CD zwar schon eine gefühlte Ewigkeit (wie „Body Meta“), aber irgendwie fand ich früher selbst zur ersten Hälfte keinen richtigen Zugang und heute finde ich sie unter dem die letzten Tage gehörten eher im hinteren Bereich.

Mit dem nächsten Album, Virgin Beauty von 1988, findet Coleman sich auf Portrait wieder, einem 1976 gestarteten CBS-Sublabel, neben Cindy Lauper oder Sade. Das Label wurde 1988 neu ausgerichtet, neben Reissues von alten Epic-Alben (Phil Woods, Horace Silver), Compilations aus dem Backkatalog (Earl Hines, Duke Ellington, Red Norvo, Louis Armstrong) gab es auch andere neue Produktion von Jazzmusikern (Michel Camilo, Stanley Clarke … oder „Ming’s Samba“ von David Murray). Das Cover suggeriert Afrika – die Musik tendiert aber weiter in Richtung 80er-Synthetik, bei Denardo steht inzwischen „drums, keyboards and percussion“. Die Band hat sich leicht verändert, Ellerbee, Nix, MacDowell und Weston sind immer noch dabei, aber Chris Walker ist inzwischen der zweite Mann am Bass und auf drei Stücken verstärkt Jerry Garcia die Gitarrencrew, dem Opener „3 Wishes“, und den in der Mitte des Albums liegenden „Singing in the Shower“ und „Desert Players“ (er spielt wohl die solistischen Passagen hier, aber so bemerkenswert sind die nicht). Die Tendenz zum Pop zeigt sich auch darin, dass es hier mehr ausgearbeitete Grooves gibt – zwar immer noch mit viel Freiräumen, aber im Vergleich mit der Musik von 10-15 Jahren zuvor wirkt das schon ziemlich anders. Die Stücke sind auch hier wieder kurz, es gibt elf in einer Dreiviertelstunde, alles komponiert und arrangiert von Ornette Coleman. Er rifft immer wieder mit der Band mit – das Konzept ist nicht, ihm über den Riffs mehr Freiräume zu verleihen, sondern da hat sich insgesamt etwas verschoben. Es gibt auch hier wieder neue Sounds, etwa den Mix aus Kwela und Zydeco in „Happy Hour“ (hat jemand „Graceland“ gehört?) mit einem sehr wendigen E-Bass (Chris Walker? Das wäre früher Tacumas Part gewesen). Das Titelstück klingt dann wie eine halbwegs durcharrangierte Ballade – Colemans Sax im Ton weniger voll, etwas schattenhaft – fast ein wenig an die kühlen Sounds von Lee Konitz oder Paul Desmond erinnernd. Da mögen Details im Begleitteppich noch harmolodisch sein, aber als Ganzes geht das ganz woanders hin (und Overdubs gibt’s auch – oder kommt die Violine aus Denardos Keyboards?) – das ist irgendwie surreal, kriegt von den Gitarren einen leichten Hawaii-Touch … völlig irre! In „Healing the Feeling“ geht es ähnlich weiter, einfach über einen satten, sehr entspannten Groove mit Rhythmusgitarren und hintenraus einer immer aktiver werdenden zweiten Solo-Stimme wieder am E-Bass. Nach den Ermüdungserscheinungen vom Vorjahr scheint Coleman sich hier tatsächlich nochmal neu zu erfinden – das ist spannend, oft super schön („Desert Players“, das letzte Stück mit Garcia, ist wieder so ein Heuler) – und trotz der poppigen Settings ist der im Jazz so zentrale Cry in Colemans Saxophon so präsent wie zuvor länger nicht mehr. In „Honeymooners“ gibt es einen schönen Dialog der beiden Bässe – aber ich habe keine Ahnung, wer den höheren, agileren spielt … kenne beide Bassisten nur aus dieser Band. Kann da jemand helfen? Kurz vor dem Ende kommt mit „Spelling the Alphabet“ nochmal Schwung auf – aber auch der Closer „Unknown Artist“ ist wieder eine Art Ballade … und so ist Colemans Portait-Pop-Album auch eine Art Balladenalbum – tatsächlich oft bezaubernd.

https://www.bilibili.com/video/BV13z4y1V7NZ/

Am 6. Juli 1988 traten Ornette Coleman und Primetime mit dem Gast Pat Metheny beim Festival International de Jazz de Montréal im Théâtre St-Denis auf. Es gibt davon wenigstens drei Video- und eine Audio-Version und YT, die beiden längsten (einmal Video und einmal Audio) um die 58 Minuten – aber die beste scheint die oben verlinkte zu sein, die auf der chinesischen Seite Bilibili zu finden ist und von einem auf YT auch zu findenden Mitschnitt vom Polnischen Fernsehen stammt (der Stream wird bei mir alle 10 oder 15 Minuten durch ein QR-Code-Popup unterbrochen). Die Band hat sich inzwischen nochmal verändert: Ornette Coleman (as, t, v), Ken Wessel und Chris Rosenberg (g), Al MacDowell und Chris Walker (b), Denardo Coleman (d), Badal Roy (tabla) – und eben als Gast Pat Metheny (g). Walker ist wohl der Bassist im grünen Glitzeranzug mit linkshändigem Bass, Wessel der Gitarrist mit beigen Jackett und der schwarz-weissen (Fender?-) und akustischer Gitarre (beide links von Coleman, entsprechend MacDowell und Rosenberg rechts). Hier ist das Konzept, dass alle ständig solieren, wieder umgesetzt, es entstehen sehr dickte Geflechte und durch die teils stark verfremdeten Gitarren, die E-Drums und die Tabla eine breite Palette an Sounds. Auch der Funk ist zurück, die neue Pop-Sensibilität bleibt allerdings, die karibischen Rhythmen auch … die neuen Öffnungen von „Virgin Beauty“ finden also quasi Eingang ins längst bewährte Primetime-Konzept. Nach 35 Minuten taucht Pat Metheny auf – die beiden Gitarristen haben nur noch Augen für ihn, es gibt einen Rumpel-Polka-Groove, in den Metheny mit Störmanövern einsteigt (direkt aus dem Stimmen heraus?) und nach Colemans Solo dreht er frei, bis die Band zu spielen aufhört. Auch als die anderen wieder einsteigen, bleibt das eine Art Speed-Wettbewerb, Metheny grinst, Coleman verzieht keine Miene, scheint dann aber zu lächeln, als das Stück zu Ende ist. Einige Minuten später Schlussapplaus mit Metheny, der dann für die Zugabe „School Work“ auch wieder auf die Bühne kommt – und hier zeigt, wie er sich Coleman als ebenbürtiger Solist zur Seite stellen kann … was ja dank „Song X“ eh bekannt ist. Durch Metheny wird das Geflecht noch dichter als eh schon – und wenn er zu solieren anfängt (und Denardo wieder diesen Rumpel Zweiter-Beat anschlägt) wird es ziemlich schräg, gibt ordentlich Reibungen mit den anderen Gitarren. Doch hintenraus wird das etwas zum gar lärmigen Live-Jam.

Einen Monat früher schon trat die Band im Ost-Berliner Friedrichstadtpalast auf, Prime Time – Jazzbühne Berlin ’88 ist bei Repertoire erschienen, steht aber freundlicherweise auch in der Tube. Ob das angegebenen Line-Up (Coleman, Ellerbee, Nix, McDowell, Walker [„Wilker“ geschrieben], Weston, Coleman) wohl korrekt ist? Ich gehe nicht davon aus, zumal schon in den ersten Sekunden Tabla zu hören sind … denke also eher, dass hier schon dieselbe Band wie in Montréal zu hören ist (am 2. September spielte sie dann in Willisau und davor war das Intergalactic Maiden Ballet zu hören, das ich drüben bei Enja neulich wiederentdeckt hatte). Ich glaub ohne den Stargast – und auch ohne Bild – gefällt mir das am Ende besser. Aber der Sound ist auch besser, im Gegensatz zu Montréal bilde ich mir ein, stets alle Instrumente zu hören … und werde auf Kleinigkeiten wie den sehr toll verschleppten Beat von Denardo am Anfang von „Realing the Feeling“ (ein Fantasietitel mit Schreibfehler?) aufmerksam.

Auf dem Foto im CD-Booklet sind die neuen Gitarristen und Badal Roy zu sehen – alle mit falschen Namen angeschrieben:

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