Antwort auf: Ornette Coleman

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In der Diskographie gehört dazwischen dieser Mitschnitt – 4. Mai 1974 in Padua anscheinend (oder auch Valenza, s.u.), teils mit Fantasietiteln (der Opener ist wieder „School Work“) – und mit einem Line-Up, das es leider nirgendwo auf offiziellen Veröffentlichungen gibt: Ornette Coleman (as, t, v), James Blood Ulmer (g), Norris „Sirone“ Jones (b) und Billy Higgins (d). Von der Gitarre kriegt man leider oft wirklich kaum zu hören (sie setzt aber auch mal ganz aus), wie schon im entsprechenden Post von @vorgarten aus dem Ulmer-Thread steht – ich hole den sehr informativen Text einfach mal hier rüber:

1974: pre-prime-time mit ornette coleman

Ulmer soon moved into Coleman’s loft and studied „harmolodic“ theory. Harmolodics is Coleman’s term for an ensemble style that combines harmony, movement, and melody. As Down Beat’s Safane put it, „Each instrument … is both a melody and a rhythm instrument; players abandon their traditional role and, for example, instruments such as bass and drums that ordinarily accompany now share as lead voices in musical creation.“

Harmolodics jibed with Ulmer’s atonal explorations in Detroit, where he was seeking a new expressive range for the jazz guitar. Indeed, Ulmer was integral to Coleman’s harmolodic theory, as he taught the saxophonist the potential for guitar in an electrified, free jazz setting. Their work in the decade was marked by appearances at the Ann Arbor Jazz and Blues Festival in 1974, at New York’s Five Spot in 1975, and at the Newport Jazz Festival in 1977. Ulmer also spent time in the studio with Coleman’s band Prime Time, recording a set of then-unreleased performances.

ob es tatsächlich studio-aufnahmen gibt, wüsste ich gerne, bislang ist da noch nichts aufgetaucht.

im interview mit jason gross schildert ulmer die zusammenarbeit sehr wertschätzend:

PSF: Since we’re talking about harmolodics, could you talk about your work with Ornette and how you each may have influenced each others‘ music?

JBU: Well, when you’re working with someone close, like the way me and Coleman was, the thought is never what you’re doing for each other. The thought is what what you’re doing for what you’re trying to do. Coleman always worked on something specifically and tried to take it to the highest level there is. So when you get through doing that, you ain’t got time to be thinking about influencing somebody. You’re trying to finish that piece of work.

One time I was writing the music to this play and he was into just directing it. He wanted to know every beat on the whole score. He puts everything to music and it was just incredible because (it was like) going through a needle and thread without leaving the hole. Just knitting it. It was amazing! Working with a person like that is just so amazing so you really don’t think about who’s influencing who. You’re just thinking ‚let’s find out a way to get this.‘ He’s definitely made me aware of harmolodic by making me aware of certain things. The coolest thing he told me (was) that I was a natural harmolodic player. He was one of the persons who could make you feel like what you were doing was so important. That’s another thing that I got from Coleman- it’s like someone who makes you feel that what you do is good. That’s what he done.

in einem späteren interview (2017) mit peter margasak kritisiert ulmer die abhängigkeit colemans von klassischen akkorden und skalen, kontextualisiert seine neu gefundene gitarrenstimmung als befreiung von diesem system (und auch von dem, was ein klavier anbieten kann):

That motherfucker would rehearse me for eight hours a day, and all he did was take his horn and call out chords: ‘Blood, play B flat, Blood, play E flat, go to F, F sharp, F minor, go to diminished,’ go to everywhere in the world, and I would spend my days tracking whatever he said. He wore me out with that shit. He was trying to find out how the guitar went for his own music. After six months of that, I had this dream about this tuning, where I tuned all of the strings to the same note. I tuned to E, but the gauge of the strings made them sound different. I went to Coleman’s room—he was sleeping—and I said, ‘Wake up, listen to this.’ I started playing, and he got his horn and started playing. He said, ‘Give me C,’ and I said, ‘I ain’t got no C, I ain’t got no F, I ain’t got no G, I ain’t got none of them chords—I can’t make chords because I ain’t got but one note, really.’ That tuning freed me. Odyssey was the first record I made with that tuning. That freed my life. I could play without following or copying anybody. It was great. I knew how to play in a regular tuning, but that tuning was freedom. Ornette loved the way my guitar sounded then. He knew I was free. We played one song on Tales of Captain Black in that tuning, it was called ‘Woman Coming.’

also: wenn man alle gitarrenseiten (die ja durch die verschiedene dicke, z.t. auch durch verschiedenes material andere sounds produzieren) auf den gleichen ton stimmt, ergibt sich ein völlig anderer klang, eine wand, wenn man sie durchstreicht, verschiedene qualitäten des einzeltons, im wesentlichen aber eine völlig andere philosophie, denn man muss ja quasi alles im spiel neu denken. ulmer gehört ja – wie sharrock – zu den gitarrenskeptischen gitarristen, wollte eigentlich saxofon spielen, mag die rolle der klassischen begleitung im westlichen harmoniekonzept nicht. andererseits bleibt er ja bei klassischen spieltechniken, die auf wes montgomery referieren (kein plektron, gleichberechtigung von akkord- und einzeltonspiel, das eine schält sich aus dem anderen oder führt wieder hinein). und: auch die skordatur bleibt ja auf die klassische stimmung bezogen, im zusammenspiel mit anderen, im wissen, dass es sie gibt und das man dagegen arbeitet.

die dokumente der zusammenarbeit mit coleman sind problematisch. es gibt den bootleg ORNETTE COLEMAN IN CONCERT, darauf befinden sich konzertaufnahmen aus valenza (mai 1974), auf denen ulmer im mix quasi gar nicht zu hören ist.

und ein tv-mitschnitt des auftritts in rom (gleiche tour, auch mit sirone und billy higgins), auf dem ulmer viel zu laut zu hören (und selten im bild zu sehen) ist:

ich persönlich finde, dass das nicht so toll zusammengeht. coleman geht überhaupt nicht auf die gitarre ein (anders als die bläser im ali quintet), spielt darüber hinweg, während higgins vergleichbar autark seinen recht klassischen swing durchspielt (sirones vermittlungsarbeit lässt sich leider auch nur erahnen). und 1978, als ulmer & coleman TALES OF CAPTAIN BLACK aufnehmen, ist das konzept (und auch das material) schon völlig anders.

Darüber hinwegspielen ist ja meines Erachtens schon auch irgendwie Teil des harmolodischen Konzepts – da funktioniert das „alle solieren ständig“-Konzept von Ornette Coleman für meine Ohren irgendwie anders als das von Ulmers Bands, wo vielleicht auch mehr ausgearbeitet wurde (z.B. was für einen Beat es in welchem Stück gibt, welche Eckpunkte der Bass zu beachten hat, wann das Sax im Ensemble, wann als Solostimme auftritt … sowas kann man ja besprechen, ohne dass das zu relevanten Einschränkungen in der Freiheit der Performance führen muss). Ich finde das stellenweise richtig super, auch wo es eher in den Free abdriftet, sich alles öffnet auch dafür ist Higgins nicht die optimale Besetzung, aber Blackwell hatte grad um die Zeit herum lebensbedrohliche gesundheitliche Probleme und stand für eine Tour sicherlich nicht zur Verfügung. Es scheint Schnitte zu geben, ein paar technische Probleme beim Transfer, aber alles in allem finde ich das hörbar – und echt hörenswert. Ich komme allerdings jetzt nicht von Ulmer her sondern von Coleman (der in meinem Olymp schon viel länger eine bedeutsame Rolle einnimmt) – und denke, man kriegt von diesem hier eine Facette zu hören, die trotz suboptimalen Sounds und Drummers eine wirklich gute und wichtige Ergänzung zur offiziellen Diskographie ist. Es mag etwas seltsam klingen, aber so frei – und in so langen Stücken – kriegt man Ornette selten zu hören.

Im September 1974 wurde die Band im Keystone Korner erneut dokumentiert, jetzt mit David B. Williams am Bass, etwas dumpfem, aber ziemlich gutem Sound – man hört die Gitarre und es gibt auch ordentlich Bassfrequenzen. Die Verzahnung von Gitarre und Bass ist recht gut, Higgins klingt auch etwas offener, zumindest streckenweise. Lustigerweise ist hier der unnatürliche Basssound, über den ich mich anderswo ärgern würde, dem ganzen Bandsound dienlich. Musikalisch würd ich das alles irgendwie als Übergangsphase zur Prime Time-Musik, wie sie ab 1975 zu hören ist, betrachten – freier, offener, variabler … dieser Keystone Korner-Mitschnitt gefällt mir jedenfalls richtig gut!

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