Antwort auf: Ornette Coleman

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Gestern lief u.a. auch noch das einzige RCA-Album, das Ornette Coleman 1967 machte, The Music Of Ornette Coleman – es fehlt in den meisten Diskographien oder Karriere-Überblicken, weil es noch mehr als „Skies of America“ ein „klassisches“ Album ist. Das Philadelphia Woodwind Quintet sowie das Chamber Symphony of Philadelphia Quartet spielen drei Stücke von Coleman. Im ersten, „Forms and Sounds“, das die ganz erste LP-Seite einnimmt, spielt Coleman improvisierte Trompetenintermezzi zwischen dem notierten Material für das Bläserquintett (Oboe, Flöte, Klarinette, Fagott und Horn), das wiederum allen Stimmen regelmässig offen lässt, in welchem Register sie spielen wollen und daher auch die komponierten Teile eine gewisse Variabilität zulassen. An der Trompete tritt Coleman – in neun Intermezzi zwischen den zehn notierten Teilen – in einen Dialog mit dem Ensemble, das sonst nach zweiter Wiener Schule klingt. Das ist alles ziemlich toll! In der zweiten Hälfte dann Musik für Streichquartett, wobei auch hier das erste Stück schon LP-seitenfüllend wäre, „Saints and Soldiers“, es dauert fast 20 Minuten und ist von einem Tag in Rom inspiriert, an dem Coleman viele Kirchen besuchte und überall die Gräber von Heiligen wie auch von Kriegern sah. Als Coda folgt dann noch das kurze „Space Flight“. Die beiden Ensembles sind off shoots des damals schon berühmten Philadelphia Orchestra, das zu den „big five“ gehörte, wie man wohl ab den Fünfzigern sagte (New York Philharmonic, Boston Symphony Orchestra, Chicago Symphony Orchestra, Philadelphia Orchestra und Cleveland Orchestra).

„Forms and Sounds“ war übrigens das Stück, das Coleman in England (beim Konzert in Croydon vom 29. August 1965, das auf „An Evening with Ornette Coleman“, „Ornette Coleman in Europe“ oder „The Great London Concert“ dokumentiert ist) im Gepäck hatte, damit er auch mit seinem Trio (David Izenzon und Charles Moffett) auftreten durfte (er umging so eine der Einschränkungen/Regelungen der britischen Musikergewerkschaft). Damals wurde es vom englischen Virtuoso Ensemble gespielt und enthielt noch keine Trompeten-Intermezzi. Da fehlt mir ja immer noch die alte Doppel-CD, auf der das auch komplett drauf ist, überall sonst scheint „Forms and Sounds“ um ca. zehn Minuten gekürzt, auch bei der Ausgabe von 2010, die Angaben bei Discogs sind falsch, die CD ist nämlich hier und ansonsten auch sehr schmuck).

Gestern guckte ich dann noch etwas nach Ornette Coleman in der Tube … die Zeit um 1970 herum ist ja spannender, als die damaligen Platten glauben lassen. Die ganzen Science Fiction-Sessions, gebündelt auf der Doppel-CD von Columbia/Legacy, bieten viel tolle Musik, die so vermutlich besser funktioniert als auf den damals gestückelten LPs („Broken Shadows“ war die zweite). Von der Tour im Herbst 1971 mit Dewey Redman (leider ohne Bobby Bradford oder Don Cherry) gibt es ein paar Mitschnitte (Belgrad, Berlin, Paris) … und irgendwo in den Zeitraum fällt das Jazz Anthology-Bootleg Stating the Case, vermutlich am 22. September 1972 im Artists House, Prince Street, NYC aufgenommen, mit Ornette Coleman (as), Don Cherry (t), Dewey Redman (ts), Charlie Haden (b) und Ed Blackwell (d). Auf der Platte stehen nur die Fantasietitel „Ornette’s Suite“ Parts I und II, es gibt wenigstens zwei Digitalisate auf YT, das obige klingt etwas dumpfer, das andere hat viel zu viele Höhen und man hört vom Bass noch viel weniger. Eine Tracklist bietet es auch an:

1. The World Became Music
2. Uncnown Races
3. Love Eyes
4. The Good Live
5. Skies of America
6. Stand by for the News

Beide Transfers hat dieselbe Person eingestellt, und auf einen Nörgelkommentar, dass der Transfer nicht komplett sei (die LP dauert ca. 55 Minuten), so geantwortet: „Side two is identical to side one, minus one piece.“ – haha, Qualitätsarbeit halt, wie bei so einem Label nicht anders zu erwarten. Die Musik ist jedenfalls toll – für mich grad quasi die Heranführung ans Jahr 1973, als sich alles änderte.

EDIT: Datum und Trackliste kommen von der anderen Ausgabe dieses Materials („J for Jazz Presents Ornette Coleman Broadcasts„, sieht wie ein Boris Rose-Bootleg aus – aber da weiss man ja nie, ob immer Rose dahinter steckt oder andere, die ihre Platten ähnlich aufgemacht haben) – denke ich … ich kenne das alles ja nicht wirklich und eine richtig seriöse Diskographie scheint es bisher nicht zu geben (nicht jazzdisco.org, sondern eine, bei der jemand auch alles in den Händen gehalten und selbst überprüft hat, so wie bei Fitzgerald oder Evensmo oder solchen Leuten.

Noch eine Heranführung ist Ornette Colemans Solo-Auftritt beim Jazzfest Berlin am 4. November 1972 – er spielt erstmal Klavier, bevor er ans Altsax wechselt – das ist richtig schön! Die obige Version wird auch digital von einem shady „Label“ zum Kauf angeboten, das wohl den ziemlich gut klingenden Transfer (von wo auch immer … SFB-Ausstrahlung oder jemand machte mal heimlich eine Kopie aus dem Archiv?). Es gibt davon auch eine kürzere Fassung mit Bewegtbild:

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