Antwort auf: Culture Wars, Kulturelle Aneignung, Identitätspolitik, Wokeism …

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#12306013  | PERMALINK

bullschuetz

Registriert seit: 16.12.2008

Beiträge: 2,141

Ich grüble jetzt schon länger, was dran sein könnte an der Behauptung von @bullitt, dass aus den USA importierte universitäre Wokeness hinter den Pro-Palästina- bzw Anti-Israel-Protesten stecke. Mein Zwischenergebnis: Das haut nicht hin.

Denn dass viele Gesellschaften in Nordafrika und im Nahen Osten den Israel-Palästina-Konflikt vor dem Hintergrund ihrer eigenen kolonialistischen Unterdrückungsgeschichte deuten (und dazu keine Vordenker aus US-Unis brauchen), ist ja nun wirklich ein marderaltes Phänomen. Dass sich dieser antikolonialistische Drive gegen westliche Unterdrückung ideologisch oft mit islamistischen Bewegungen gegen westliche Lebensart schlechthin und gegen Israel verknüpft, ist ebenfalls alles andere als neu. Dass sich in Ländern wie Frankreich obendrein die sprengkräftige Erfahrung krasser sozialer Abgehängtheit in postkolonialen Zuwanderermilieus draufsattelt, ist auch schon lange zu beobachten. Dass Teile der Linken im Westen sich mit all dem identifizieren, kennen wir seit fast 60 Jahren (schon die radikale Linke der späten 1960er-Jahre, geprägt vom Impact des Vietnamkriegs, begrüßte antikoloniale Aufstands- und Befreiungsbewegungen rund um die Welt mit romantisierender Kritiklosigkeit und ordnete den Nahostkonflikt in genau dieses Deutungsraster ein, war pro-palästinensisch und anti-israelisch). Und dass all das mal mehr, mal weniger stark grundiert ist von Antisemitismus, bedarf kaum der Erwähnung, denn das toxische „Gerücht über die Juden“ durchzieht die Menschheitsgeschichte.

Insofern ist nichts von all dem, was wir derzeit wahrnehmen, neu.

Mag sein, dass bei der Auffrischung dieser Traditionen die „woke“ Postkolonialismus-Schule eine gewisse Rolle spielt. Wichtiger kommen mir aber die Überlegungen von @nail75 vor: Erstens schwindet das Bewusstsein für die maßstabslose Ausrottungsenergie, die sich im Holocaust ausdrückte. Zweitens spielt für viele, die demonstrieren, die dringende Kritikwürdigkeit der israelischen Regierung Netanjahu/Ben-Kvir und ihrer völkerrechtswidrig-aggressiven Siedlungspolitik im Westjordanland vermutlich eine wichtige Rolle.

Wie ich selber zu all dem stehe, habe ich im Nachbarthread „Israel“ zu beschreiben versucht. Kritik an Israel kann ich gut verstehen und teile sie. Was ich überhaupt nicht verstehen kann, ist die krasse Einseitigkeit dieser Kritik. Israel als Kolonialmacht? Unter Kolonialismus stelle ich mir nicht vor, dass sich eine durch ein vielmillionenfaches Ermordungsprogramm fast ausgerottete Religionsgruppe auf einem winzigen Wüstenstreifen ein neues Leben aufzubauen sucht. Der Holocaust ein Menschheitsverbrechen unter vielen? Wenn solch eine Relativierung dazu führt, Israel das Existenzrecht abzusprechen, fände ich das entsetzlich. Und Israel hat eine schlimme Regierung? Wer darauf hinweist, ohne die Hamas donnernd zu verdammen, hat einen irren Knick in der Optik.

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