Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Gestern im Kino noch einen der für den Schweizer Filmpreis nominierten Dokumentarfilme gesehen: Prisoner of Fate (Mehdi Sahebi, CH 2023). Sahebi drehte über Jahre mit Menschen, die aus Afghanistan und dem Iran in die Schweiz geflüchtet sind. So konnte der im Alter von 20 Jahren selbst aus dem Iran in die Schweiz geflüchtete Regisseur (*1963) ein erstes Mal einer seiner Filme in seiner Muttersprache Farsi drehen. Er begleitet junge Männer und eine Familie, deren älteres Kind bei der Flucht aus dem Iran in die Türkei geschnappt wurde und das sich über Jahre um den sogenannten „Familiennachzug“ bemüht. Zurück in den Iran könnten die Eltern nicht, da sie afghanische Staatsangehörige sind, die aber im Iran geboren wurden und überhaupt keinen Bezug zum Land haben, dessen Bürger*innen sie sind.

Sahebi hört zu, filmt die Menschen in ihrem Alltag, stellt kaum Fragen, greift fast nicht ins Geschehen ein – er studierte Ethnologie mit Schwerpunkt visuelle Anthropologie, Geschichte und Völkerrecht an der Universität Zürich und arbeitet auch als Filmemacher eher wie ein Ethnologe. Wie er nach dem Film erzählte, lebte er über Monate, Jahre, immer wieder mit den Geflüchteten zusammen, kochte und ass mit ihnen in den Flüchtlingsunterkünften, in denen sie untergebracht waren, begleitete sie manchmal zu Amtsterminen (einen sogar zu seiner „Anhörung“, siehe dazu mein letzter Post hier, ein paar Seiten zurück) oder auch zu einem Podiumsgespräch, in dem ein satter Exponent der rechtspopulistischen SVP selbstgerechte „Wahrheiten“ verkündet, bis dann mal jemand auf die Idee kommt, auch die anwesenden Geflüchteten zu Wort kommen zu lassen (dabei ist die Mutter der Familie und schildert ihre bis dahin vergeblichen Bemühungen, ihren kleinen Sohn in die Schweiz holen zu können – ein Brief direkt an die zuständige Bundesrätin brachte dann später den Wandel; dass auch im Iran Schikane und Paternalismus des Systems greifen, bis der Bub ausreisen darf, verschweigt der Film auch nicht. 280 Stunden Material hat Sahebi zu 100 Minuten zusammengestellt. 100 Minuten, die berühren, bewegen, aufrütteln, wütend machen, zum Lachen bringen, erstaunen – und vor allem Empathie für die Geflüchteten wecken, Verständnis für ihr Menschsein, ihre Traumata, ihre Verlorenheit, ihren dennoch vorhandenen Lebenswillen, den Humor, den sie sich bei aller Bitterkeit, bei allen Rückschlägen nicht nehmen lassen.

Um den Bogen zum Film „Die Anhörung“ zu schliessen: keine*r der im Film gezeigten Geflüchteten wurde als Flüchtling anerkannt und aufgenommen, sie alle wurden aber – bis auf einen, der im Lauf des Filmprojekts in den Iran zurückkehrte und dann erneut via Türkei in die Schweiz gelangte, dabei auch Gewalt und Folter durch die türkische Armee einfangend – provisorisch aufgenommen, haben inzwischen im Berufsleben Fuss gefasst usw., das ihnen hoffentlich erlauben wird, hier zu blieben.

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