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Bei mir gab’s gestern im Kino – bei der „Woche der Nominierten“* – den nächsten krassen Film: Die Anhörung (Lisa Gerig, CH 2023). Hier werden mit vier Asylsuchenden, vier (ehemaligen) Beamt*innen des Staatssekretariats für Migration, vier Dolmetscherinnen, vier Protokollführerinnen, vier (stummen) Vertreter*innen von NGOs und in einem Fall einer Rechtsbeiständin unter realistischen Bedingungen die „Anhörungen“ nachgestellt, die den Kern des schweizer Asylaufnahmeverfahrens darstellen. Die Beamt*innen sind gemäss den Auskünften in der anschliessenden Fragerunde oft auch diejenigen, die entscheiden (manchmal sind es Kolleg*innen, die nur das Protokoll lesen). Krass! Völlig unbedarft wird hier mit traumatisierten Menschen umgegangen, eine massive Retraumatisierung tiefenentspannt in Kauf genommen (keine psychologische Betreuung, die Befragten torkeln am Ende alleine raus – „Für sie ist das ein Fall, für uns das Leben“. Es wird quasi nach plotholes gesucht, die dann angeblich beweisen, dass die Geschichte nicht stimmt, was zu einem negativen Asylentscheid führt. Es wird ohne Rücksicht herumgestochert (die verpfuschte „geschlechtsangleichende“ Operation in Tamilnadu: Spritze in den Rücken, Geschlechtsteile ab – check … die Dolmetscherin kann das Wort „Penis“ nicht aussprechen, sie kichert, trinkt einen Schluck Wasser, eiert herum von den „Dingern“ …).
Die Übersetzungen sind oft so schlecht, dass sie zwar nicht völlig am Wortlaut vorbei zielen, aber dennoch sinnentstellend sind, eine ganzen andere Gesamtlesart oder Tonart wiedergeben als das, was – zumindest bei den Französisch und Englisch sprechenden (Tamil und was immer für eine Sprache der geflüchtete Afghane sprach, verstehe ich natürlich nicht) – die Asylsuchenden sagen. Die Selbstsicherheit und -gerechtigkeit zumindest zweier der Beamt*innen ist kaum zu fassen (das mögen Masken sein, klar). Der Film bleibt eng bei dieser Situation, bricht sie kurz bei einem gemeinsamen Essen, bei dem auch eins der Kamerateams ins Bild gerät.
Und dann, für die letzte Viertelstunde, dreht er den Spiess um: die vier Geflüchteten befragen die Beamt*innen: Wie kam es, dass sie sich diesen Job aussuchten? Denken sie, dass sie die Wahrheit erkennen können? Haben gute Geschichtenerzähler*innen bessere Asylchancen? Wie gehen sie mit ihrer Verantwortung um? Dass derjenige, der am reflektiertesten wirkte, das SEM inzwischen verlassen hat, ist ein kleiner Trost – denn wie einer der Geflüchteten lapidar feststellt: Irgendwer muss den Job ja machen. Alle vier Gesuche wurden abgewiesen, die Rekurse führten zu zwei provisorischen Aufnahmen, ein Fall blieb lange hängig und wurde dann erneut abgewiesen, inzwischen läuft ein Härtefallgesuch – dem Asylsuchenden, der u.a. im Auftrag von Behörden anderen Asylsuchenden Sprachkurse gibt, ein Buch über seine Erfahrung geschrieben hat, damit auftritt und Lesungen veranstaltet (in gutem Hochdeutsch notabene), Freiwilligenarbeitet leistet etc pp. wurde beschieden, er sei nicht genügend „integriert“.
Fazit: Es ist unfassbar, wie das ganze abläuft! Dass die Schwäche dieses Systems eben System hat, dass das ganze Verfahren systemische Probleme hat: Das ist natürlich genau die Absicht dahinter. Auch spielt die Politik massiv rein: die Stimmbevölkerung votiert immer wieder für Verschärfungen, wählt Politiker*innen, die einen harten Kurs fahren (das geht wie in DE bis weit in die Sozialdemokratie hinein). Es werden zwar z.B. auch Beamte des SEM in die betreffenden Herkunftsländer (z.B. Eritrea) gesendet, aber deren Berichte haben wenig Auswirkungen auf die Verfahren – weil die Politik das gar nicht erst zulässt. Die Hilflosigkeit dieser (Ex-)Beamt*innen im Film, ihre Unbeholfenheit, ihre Unbedarftheit, ihre Verstecken hinter „dem System“: es ist wirklich beelendend!
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*) für den Schweizer Filmpreis, der am Freitag vergeben wird, Sa/So laufen dann alle Gewinnerfilme nochmal, kostenlos, bis dahin kostet der Eintritt 1/4 des hier üblichen, es kam gestern fast etwas Festivalstimmung auf, der Saal war gut gefüllt – schön!
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