Antwort auf: The Sound of Japan

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peterjoshua

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Nach einer Weile mal wieder ein Blog von mir zum Plattenleben in Tokio:

On Track – Keanu Reeves, der Martin, der junge Takeda, Martha und ich

Und wenn es sonst keinen Grund gäbe, nach Tokio zu ziehen: Ich täte es wieder wegen Keanu Reeves, dem Martin, dem jungen Takeda und Martha. Und vor allem wegen Wataru Fukuyama. Der betreibt nämlich in Tokio drei sogenannte Listening Bars: Bar Track, Bar Martha und Bar Nica. Track und Martha sind zu meinen weiteren Wohnzimmern geworden, so gerne und häufig verbringe ich dort Zeit.

Listening Bars gibt es zahlreiche in Tokio. Sie etablierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Möglichkeit, Musik in ansprechendem Ambiente und guter Qualität zu hören. Denn Schallplatten waren für breite Bevölkerungsschichten in den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren ebenso unerschwinglich wie Musikanlagen. Das Phänomen dieser auch Jazz Kissa genannten Lokale hat sich bis in die Gegenwart erhalten, wenn auch über die Jahre modifiziert. Sie haben ohnehin nie ausschließlich Jazz gespielt, sind aber heute in ihrer musikalischen Ausrichtung noch weiter ausdifferenziert. Ihnen allen gemein ist, dass die Musik nicht nur akustische Kulisse ist, sondern im Mittelpunkt steht und aktiv genossen werden soll — und mancherorts: muss.

Wenn man etwa in Bar Track oder Bar Martha zu laut redet, wird man erst höflich ermahnt und im Wiederholungsfall rausgeschmissen. Und womit? Mit Recht. Denn Listening Bars sind eben keine Speak Easies und schon gar nicht analoges Tinder. Hier geht es um die Musik, die über edles McIntosh-Equipment von sonderangefertigten Plattenspielern auf hochwertigen Tannoy-Lautsprechern zu Gehör gebracht wird.

Fukuyama-sans Konzept gemäß lauscht man den einzelnen Stücken, die von ihm oder seinen Vertreterinnen und Vertreten im Amte sehr autonom ausgewählt und erfreulicherweise nicht übergeblendet oder gar gemixt abgespielt werden. Musikwünsche äußert man tunlichst nicht, man fordert ja auch Gerhard Richter nicht auf, bitteschön das dunklere Grün zu verwenden. Sämtliche Musik ist gefällig im schönsten Sinne: Ob westliche Klassiker oder japanischer Pop, Jazz oder Independent, ob bekannt oder obskur: Dem Ohr wird geschmeichelt. Die schönsten Momente sind jene, wenn ein Stück begeistert, das man noch nie gehört hat, von Künstlern, die einem noch unbekannt waren. Entweder liest man den Namen vom Cover ab, das vor dem ausufernden Plattenschrank für die Dauer des Stücks ausgestellt ist, oder sucht verschämt mit Shazam nach Titel und Künstler. Und bestellt dann im akustischen Rausch den Tonträger hopplahopp über Discogs – wenn es sich nicht um absurd teures, weil rares Vinyl handelt, von dem Fukuyama-san so manches vorhält.

In der kleineren Bar Track stehen nahezu immer die drei selben Herren hinter dem Tresen und wechseln sich abendweise beim Auflegen der Platten und dem Mixen und Servieren der übrigens erstaunlich moderat bepreisten Getränke ab: Keanu Reeves, der (sic!) Martin und der junge Takeda. So heißen sie natürlich nicht wirklich. So habe ich sie getauft. Der größte der dreien sieht ein wenig aus wie der japanische Keanu Reeves und ist ähnlich ruhig und rätselhaft. Der Martin heißt bei mir so, weil er einen recht großen Mund hat und mich (nur) deshalb an „Maddin“ Schneider erinnert – Nachgeborene googlen bitte, oder ist der in Deutschland noch präsent?

Und dann ist da noch der junge Takeda. Ich nenne ihn so, weil ich mir Inspektor Takeda wie seinen älteren Bruder vorstelle. Takeda der Ältere ist ein japanischer Polizist, der als Gast bei der Hamburger Polizei ermittelt. Nicht im wirklichen Leben, sondern in den Büchern von Henrik Siebold (der eigentlich Daniel Bielenstein heißt, aber Henrik Siebold klingt natürlich viel verruchter und charismatischer). In Tokio lebt er – also Kommissar Takeda, wo Siebold absteigt und unter welchem Pseudonym, weiß ich nicht – in Meguro. Das ist der Stadtteil, in dem auch wir wohnen. Wenn Siebold seinen Takeda über Hamburg, Tokio, deutsche und japanische Lebensart und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede sinnieren lässt, erkennen wir uns und unsere Lebenswirklichkeiten wieder. Tolle Bücher! Worüber der junge Takeda sinniert, weiß ich nicht. Ich spreche mit den Track-Jungs nur das Nötigste, eben weil man zum Musikhören da ist – und weil, auch das, mein Kneipenjapanisch nicht gut genug ist.

Man kennt mich trotz oder vielleicht auch ob meiner Schweigsamkeit. Gerade Fukuyama-san, der Boss, der freitags in Bar Martha auflegt, scheint zu schätzen, wenn man sich ganz der Musik hingibt. Er stört sich augenscheinlich nicht daran, wenn Pärchen zur Beziehungsanbahnung oder -vertiefung einander anschmachten und darob den Musikgenuss aus dem Auge oder vielmehr aus dem Ohr verlieren. Gruppen von Männern, die sich akustisch gehen lassen und allzu bollernd mit- oder übereinander lachen, werden hingegen erst deutlich und dann drastisch in den Senkel gestellt. Da wird dann Fukuyama-san auf eine Art laut, wie man sie aus klischeehaften Samurai-Filmen kennt. Sein Ärger über die akustischen Hooligans wird flankiert durch eine Choreographie seiner Mitarbeiter, die sofort herbeieilen, um den Chef von Tätlichkeiten abzuhalten. Oder jedenfalls so tun, als drohten solche. Denn ich bin mir sicher, dass Fukuyama-san seine Aufregung nur spielt, das aber sehr gut. Haben die Rüpel den Laden unter wüsten Beschimpfungen verlassen, kehrt Fukuyama-san unverzüglich breit grinsend hinter seine Plattenteller zurück und scherzt mit den braven Gästen über die jüngste Inszenierung.

Ich habe mir still Fukuyama-sans Anerkennung und die seines Teams erworben. Auch wenn andere Gäste noch Schlange stehen, um platziert zu werden, lotst man mich in der Regel zu einem Barhocker in der Nähe des Plattenauflegers (DJ klingt viel zu sehr nach Dienstleister). Mitunter werde ich recht unvermittelt aufgefordert, einen Platz nach rechts oder links zu rücken. Anfangs fragte ich mich dann regelmäßig, ob ich etwas falsch gemacht hatte oder meinen Nebenleuten mein Duftwasser nicht behagte (auf das man in Japan ohnehin weitgehend verzichten sollte, denn Parfümierung gilt als aufdringlich). Doch dann merkte ich, dass ich durch die Umplatzierung genau in die Mitte zwischen den imposanten Lautsprechern positioniert wurde, um so meinen Hörgenuss zu maximieren. Hach, die Wonnen des japanischen Perfektionismus.

Dass es selbst in Japan ganz anders gehen kann, musste ich in der Listening Bar JBS in Shibuya erfahren. JBS steht für Jazz, Blues und Soul und befindet sich im ersten Obergeschoss (dem japanischen zweiten Stock) eines nichtssagenden Gebäudes in einer Durchgangsstraße etwas abseits des eigentlichen Nachtlebens. Dem Vernehmen nach dienen der Laden dem Betreiber Kobayashi-san, wohl ein ehemaliger Trader, als Lager für große Teile seiner umfangreichen Plattensammlung und die überschaubaren Getränkepreise dem Bezahlen der Miete.

Im Unterschied zu Fukuyama-san, in dessen Läden man nicht fotografieren darf und der Social Media rigoros ablehnt, lässt sich Kobayashi-san gerne von dahergelaufenen Influencern und Instagram-Süchtigen der Millennial-Kohorte vor seinen Platten ablichten und zu ihnen befragen. Nun habe ich den Fehler gemacht, kein Millennial zu sein und kein Smartphone im Anschlag zu haben und/oder aber gerade derjenige zu sein, der Kobayashi-san einmal zu viel die doofe Frage nach der Zahl seiner Platten hören ließ. Dabei hatte ich eben diese Frage eingeleitet mit „I know you hear this stupid question all the time“ und eingebettet in Fragen nach seinen Vinylbezugs- und musikalischen Inspirationsquellen usw. Doch Kobayashi-san ließ sich nicht davon abhalten, auf meine Fragen hin ausschließlich und ausdauernd „I am sick of silly questions“ vor sich hin zu sagen. Auch der Einwand meines Begleiters, ich sei als Mitinhaber eines Plattenladens und pathologischer Plattensammler doch eigentlich ein satisfaktionsfähiger Gesprächspartner, beschwichtigte Kobayashi-san nicht.

Ich zog schwer gekränkt, gedemütigt und einer Illusion beraubt von dannen. Wieso musste ich gerade in einer Listening Bar Opfer von Ruppigkeit werden? Die erfährt man in Japan sonst eigentlich nur von alten, meist buckligen, griesgrämigen Mütterchen, die den ignoranten ausländischen Schmutzfinken nicht die hier sonst übliche Toleranz entgegenbringen und einen mitunter recht unvermittelt anpampen, weil man irgendeinen obskuren Comment nicht beachtet hat.

Ich bin seither nicht mehr in JBS gewesen. Egal, bei Fukuyama-san und seinen zugewandten und kundigen Mitauflegern und Barleuten wohnt und lauscht sich’s ohnehin besser. (Auf Wunsch teile ich gerne einen Link zu meiner Playlist, in der ich meine akustischen Trouvaillen aus Bar Track und Bar Martha sammle.)

zuletzt geändert von peterjoshua

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