Startseite › Foren › Kulturgut › Für Cineasten: die Filme-Diskussion › Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II) › Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)
Gestern im Kino wieder Satyajit Ray: Goddess [Devi] (IN, 1960). Was für ein grossartiger, verstörender Film! Ein Ehemann lässt seine sehr junge Frau zu zurück, um in Kalkutta zu arbeiten und Englisch zu lernen. Die beiden scheinen glücklich. In seiner Abwesenheit hat sein Vater im Traum eine Vision: die Ehefrau sei die Reinkarnation von Kali. Das Urteil. Es folgt: Gefängnis. Sie „heilt“ ein krankes Kind (oder macht es vor dem Sterben nochmal die Augen öffnen, wer weiss das schon so genau) und bald strömen die Menschen in das herrschaftliche Haus, um ihr zu huldigen. Sie schreibt ihrem Mann, er solle sofort kommen – was er tut und ihr den Irrsinn ausreden will. Er arrangiert die gemeinsame Flucht nach Kalkutta – in einer irren Szene gehen die beiden auf einem Trampelpfad mitten durch hohes Schilf zum Fluss (Murnau und all die anderen Expressionisten lassen grüssen) – doch bevor sie das Flussufer erreichen, überkommen die junge Frau Zweifel: was, wenn sie wirklich die Reinkarnation der Göttin sei?
Sie kehren ins Haus zurück, der Mann fährt wieder nach Kalkutta, die Pilgerschlangen sind jetzt hunderte von Metern lang, die Frau vereinsamt, auch ihr kleiner Neffe meidet sie, der davor lieber bei ihr war als bei seiner Mutter, der argwöhnisch das Geschehen betrachtenden Frau des zweiten Sohnes des Hauses. Als der Ehemann erneut zurückkehrt, hat die Katastrophe gerade ihren Lauf genommen: der Neffe erkrankte, sein Vater und der Grossvater schicken in ihrem Wahn den von der Mutter herbeigerufenen Arzt fort: die Göttin soll den Neffen heilen. Doch der stirbt. Der Ehemann findet seine Frau in voller Göttinen-Aufmachung, sie bittet ihn um Hilfe, um ein weiteres Geschmeide um ihren Hals zu binden. Er merkt, dass sie wahnsinnig geworden ist, gebrochen. Sie müsse „zum Wasser“. Sie reisst sich los, rennt davon – über ein düsteres Blumenfeld. Finis.
Eine düstere Parabel über den aussterbenden Landadel des 19. Jahrhundert (ein Milieu, das Ray auch anderswo beschrieb – nicht zuletzt im ähnlich meisterhaften „The Music Room“), über die Verführungskraft von religiösen Wirrungen. In dunklem Schwarzweiss gefilmt, mit präzisen, wunderschönen Bildern und immer wieder Überblendungen, die allmählich selbst eine Art Fiebertraum-Effekt auslösen. Dazu kommt eine Intimität, die an den Stummfilm gemahnt: der stumme Dialog der Augen der Eheleute, als der Mann zum ersten Mal zurückkommt und sie – von hinten im Raum – beobachtet, wie sie sich von den Gläubigen huldigen lässt. Da baut der Film eine Nähe und Zartheit auf, die wirklich verführerisch ist. Das erinnert an die glückliche Szene zu Beginn, in der die beiden gemeinsam im Bett liegen und über seine bevorstehende Abreise sprechen.
--
"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba