Antwort auf: ROLLING STONE im August

#12128907  | PERMALINK

bullschuetz

Registriert seit: 16.12.2008

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krautathaus Es verlangt auch niemand die Schere im Kopf vor dem erstellen einer Liste. Trotzdem ist @bullschuetz Beobachtung richtig und er fragt sich halt, warum Musik von POC/Frauen vergleichsweise so selten im Ergebnis zu sehen ist.

Jemand versteht mich, ich danke!

Hiermit bekräftige ich noch einmal, dass jeder hören darf, was er will, ohne – hiermit hoch und heilig versprochen! – mit der Todesstrafe rechnen zu müssen.

Was mich daran beschäftigt, ist ausdrücklich nicht der persönliche Geschmack eines einzelnen, sondern die Frage, wie Kanonbildung sich intersubjektiv vollzieht. Da geht es ja per definitionem genau nicht um eine individuelle Bestenliste, sondern darum, was eine im Idealfall kenntnisreiche Mehrheit per Schwarmintelligenz und Statistikvotum für herausragend hält.

Und bei diesen RS-Listen ist das Betrachtungspanorama ja explizit breit angelegt – es geht nicht um eine Genre-Liste, sondern quasi um „alles außer Klassik“, von Soul bis Metal, Jazz bis Electro, Hiphop bis, nun ja, Pop (per se schon ein Sammelbegriff).

Und wenn sich da nun rein empirisch (ohne, dass dem eine politische oder moralische Bewertung hinterlegt werden muss) zeigt, dass „das Beste“ in deutlicher Mehrheit von weißen Männern vor Pi mal Daumen einem halben Jahrhundert eingespielt worden sein soll, ergeben sich daraus in aller Nüchternheit eben Fragen. Zum Beispiel:

– Machen Frauen weniger und/oder schlechtere Musik?

– Sind tendenziell als „schwarz“ geltende Genres wie Soul, Hip-Hop oder zum Beispiel Fela Kutis Afrobeat halt einfach albenmässig nicht so gut?

– Ist die große Zeit der Popmusik vorbei, weshalb die alten Sachen halt immer noch die besten sind?

– Liegt es am befragten Panel? Ist der vorgelegte Kanon überzeugend, oder vermittelt er den Eindruck, dass das auswählende Panel zu manchen Spielarten und Epochen der Popmusik einfach weniger Bezug, emotionale Nähe und auch Wissen hat als zu anderen?

Und und und.

Ich persönlich finde, dass das interessante Fragen sind. Anderes erscheint mir hingegen weniger spannend, weil mir da die Antworten offensichtlich zu sein scheinen. Dass zum Beispiel englische und amerikanische Alben überwiegen, ist erwartbar: Das sind halt die Hauptländer der Popmusik. Ein paar polnisch- oder finnischsprachige Popklassiker würde ich nur im polnischen oder finnischen RS erwarten, falls es den gibt – und dass im deutschen RS ein paar mehr deutsche Alben als im US-RS auftauchen, erscheint mir auch logisch. All das zeigt ja schlicht, dass Kanonisierungsprozesse stark mit Sozialisierungserfahrungen zu tun haben. Und deshalb ist die aktuelle Liste auch deutlich anders als frühere (interessanter, anregender, zumindest nicht ganz so berechenbar wie frühere, finde ich, aber natürlich darf man da verschiedener Meinung sein).

Das Interessanteste überhaupt ist aus meiner Sicht sowieso nie der einzelne Kanon, sondern der Veränderungsprozess, dem die Kanonbildung unterliegt. Hier spiegeln sich sehr schön die jeweiligen Zeitumstände mit ihren je eigenen Sensibilitäten und blinden Flecken. Warum hat dieses Bestand, warum ist jenes verschwunden, warum ist heute manches vorne, während es früher nicht vorkam?

Und wenn es gelänge, all das zu reflektieren, ohne dass sich gleich jemand angegriffen fühlt, könnte man, glaube ich, über solche Kanonlisten, ihre Stärken, Schwächen, Chancen und Grenzen noch anregender und erkenntnisbringender diskutieren als bisher.

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