Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Gestern im Kino: Tár (Todd Field, US, 2022) – das folgende Gespräch mit der Cutterin Monika Willi wurde leider krankheitshalber durch ein von der Journalistin Hannah Pilarczyk (die mit Willi ein Vorbereitungsgespräch geführt hatte) moderiertes Publikumsgespräch ersetzt. Das funktionierte erstaunlich gut … und nachdem ich zunächst über das viele Herumgemeine und viele geäusserten Vermutungen etwas konsterniert war, kam am Ende doch einiges zusammen. Ein paar Einblicke ins Nähkästchen wurden versprochen, abgesehen von ein paar Details zur langwierigen Entstehungsgeschichte und dem Ablauf beim Erstellen des Schnitts in Schottland gab es nur einen für mich wirklich interessanten Punkt: Blanchett sei – natürlich – mit ihren geniekultartigen Ansprüchen am Set aufgetreten, im vollen Bewusstsein, dass es sie benötige, um den Film überhaupt zu machen, die Bilder auszufüllen – aber sie habe, ganz anders als viele andere Stars, in Sachen Kamera und vor allem danach beim Schnitt kaum Forderungen gestellt, den zuständigen Leuten ziemlich freie Hand gelassen (was ja schon zu Garbos oder Dietrichs Zeiten aussergewöhnlich war).

Ich kriege den Film (den ich zum ersten Mal sah) nicht wirklich fassen – er wirft zu viele Fragen auf, lässt zu vieles offen, unbestimmt … und ist darin vielleicht doch ein grosser Zeitkommentar (eine der diskutierten Fragen gestern war, ob es sich um einen #metoo-Film handle), indem er die ganzen Ambiguitäten und Ambivalenzen zeigt, ausbreitet – und stehen lässt. Dieses Aushaltenmüssen ist vielleicht der springende Punkt?

Ob der Film nun als Starvehikel (anders hätte er gar nicht funktioniert bzw. kaum Leute in die Kinos gelockt) als den Geniekult, den er darstellt, selbst portiert … ob er ein grossartiger Film ist oder doch eher äusserst gekonntes Handwerk? Wieviel Haneke drinsteckt (die Kälte, die Risse, die immer tiefer werden), wie es sich mit den „übersinnlichen“ Elementen verhält (wobei ich zu den Leuten gehöre, die von einem Geräusch aus einem Kühlschrank ebenfalls schier in den Irrsinn getrieben werden können), ob die zu dick aufgetragen sind (ich finde: ja, eher – der Film wird mir da etwas zu plakativ) … ist das ein Geisterfilm? Wie ist das mit dem Slapstick (Tár stürzt die Treppe hoch – Schnitt: sie schlägt mit Nudelholz auf Eis in einem Küchentuch und fertig sich eine völlig aus der Zeit gefallene Kühlpackung für ihr zerschlagenes Gesicht – die Risse sind jetzt sichtbar, Tár ist gezeichnet.

Die Ausbreitung der ganzen Cancel/Woke/Identitäts-Debatte am Anfang des Films in der Szene an der Juilliard (aus der später dieses gedokterte Filmchen auftaucht) war mir vielleicht auch eine Spur zu platt. Da wird quasi eine trockene Auslegeordnung von Argumenten und Sensibilitäten gemacht – und das kippt mit der Figur des nonbinären pansexuellen bipoc-Studenten schon ins Lächerliche … oder: ist auch das wieder eine Art Slapstick-Szene? Die Frage des Universalismus kommt am Ende mit dem Bernstein-Video, das Tár in der Enge ihres Kinderzimmers auf VHS wieder schaut, nochmal in den Film. Untermauert quasi die Argumente, die Tár an der Juilliard brachte – und liegt halt, wie wir inzwischen wissen könnten, wenn wir es wollten (westliche Musik ist schlicht nicht universell, und mit der „Zivilisation“ ist es ja eh nicht so weit her), doch daneben. Dieses Fass mag der Film aber – soweit ich ihn verstehe – nicht auch noch öffnen, bleibt in der Sache bei seinem Star.

Die Szene mit Adam Gopnik als sich selbst – das Gespräch vor Publikum in New York am Anfang des Films – könnte man auch noch besprechen: Satire auf die Klassikwelt? Spielt Gopnik sich distanzlos selbst? Das geht dann weiter mit der Buchpräsentation, als die Welt von Tár schon dahinbröckelt.

Und nochmal die Slapstick-, die Horrorszenen: im Keller in Berlin (einem imaginierten Berlin, das die Berlinerin Pilarczyk wohl auch als eine Art Satire deutet – sie sagte leider nicht viel, stellte fast nur Fragen, um das Gespräch in Gang zu halten) mit dem plötzlich auftauchenden Hund/Wolf … überhaupt die Schauplätze, die klinisch sauberen, fast sakral anmutenden Parkhäuser und Tunnels, in denen Luxuskarossen geräuschlos herumcruisen … in Berlin gibt’s natürlich noch den Schmuddeltunnel (eine Bahn-Unterführung?) an der Jogging-Strecke von Tár, und bei einem ihrer morgendlichen Trainings hört sie im Park auch Schreie einer Frau und versucht erfolglos, sie zu orten – noch so ein beklemmendes Horror-Element … auch das könnte man wohl abendfüllend bereden oder zerreden.

Es gab im Gespräch auch Nebenschauplätze, die ich sehr seltsam fand … Versuche, die offen gelassenen Missbrauchsgeschichten auszudeuten (was lief mit dem ehemaligen Schützling, die sich das Leben nimmt? woran ist Tár am Ende überhaupt gescheiter bzw. was führte zu ihrer Entlassung?), die Frage, warum die fünfte Symphonie Mahlers als „Five“ und nicht „Fifth“ bezeichnet werde (was jemand als Ironie betrachtete – aber „Mahler five“ zu sagen ist doch im Englischen völlig normal?)

Dass der Film solide recherchiert ist, fand ich einen klaren Pluspunkt. Es gibt ordentlich Name-Dropping und einige schöne Episoden (z.B. die mit Leon Goossens, dem Oboisten, der mit seinem weiten Vibrato das A zum Stimmen vorgab … und Dirigent Thomas Beecham lakonisch zum Orchester meinte „take your pick“). Auch nicht fehlen darf Antonia Brico, über die ich in der Klassik-Ecke vor ein paar Wochen ein paar Zeilen geschrieben hatte, anlässlich des in Bologna gesehen Dokumentarfilms „Antonia – Portrait of a Woman“ (Judy Collins/Jill Godmilow, US, 1974) – den Film gibt’s auch (in der gezeigten restaurierten Fassung) in der Tube:

Zuletzt fand ich Nina Hoss in dem Film echt stark. Überhaupt ein rundum gelungenes Casting, fand ich: Noémie Merlant, Sophie Kauer
Julian Glover … jedenfalls unbedingt sehenswert, auch wenn ich einige Frage(zeichen) habe.

PS: Ein Punkt, den ich vergessen habe ist, ob man dem Film (seiner Erzählposition; dem, was er uns als Zuschauer*innen erzählt) eigentlich trauen kann? Es gibt, dünkt mich, genügend Anzeichen dafür, dass man das nicht unbedingt tun sollte.

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