Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

Startseite Foren Kulturgut Für Cineasten: die Filme-Diskussion Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II) Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

#12124441  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,343

Gestern im Kino Runde zwei der Satyajit-Ray-Retro: Three Daughters (IN, 1961), ein Episodenfilm zum 100. Geburtstag von Rabindranath Tagore. Auf drei seiner Erzählungen beruht Rays Drehbuch, und zum ersten Mal hat er hier – das war fortan üblich – auch die Musik komponiert. Weil die drei Episoden zusammen fast drei Stunden dauern, wurde für die internationale Verleihfassung die mittlere, die auch etwas aus dem Rahmen fällt, weggelassen. In den Neunzigern wurde diese internationale Fassung restauriert, aber es scheint gemäss Wiki inzwischen auch DVD-Ausgaben mit allen drei Episoden zu geben.

In der ersten – im Gewand einer neorealistischen Tragödie – wird ein Postbeamter aus Kalkutta in ein kleines, abgelegenes Dorf versetzt. Wir gewöhnen uns mit ihm an die Karge Behausung, den zunächst ungewohnten Alltag – die Männer des Dorfs sitzen bei ihm, um den Geschichten aus der grossen Stadt zu lauschen, er mag ihre Musizierabende nicht besuchen, weil er abends englisch lernt. Und doch scheint er allmählich anzukommen. Er beschliesst, seiner Hausangestellten, einem jungen Waisenmädchen, Lesen und Schreiben beizubringen. Es entsteht ein zartes Band zwischen ihnen, doch nachdem er an Malaria erkrankt ist und seine Versetzung abgelehnt wird, kündigt er die Stelle und verlässt das Dorf. Für ihn nur ein Zeitvertrieb war, wird sein Fortgehen für das Mädchen zum Verrat. Sie begegnen sich ein letztes Mal, als er weggeht, doch sie geht wortlos an ihm vorbei.

Episode drei ist dann eine Art Romcom. Ein Sohn aus bestem Haus (ein Brahmane) kommt nach dem Schulabschluss in der grossen Stadt heim in sein Dorf. Seine Mutter hat eine Braut ausgewählt, doch er geht nur widerwillig zum Treffen mit ihn und ihrer Familie. Schon bei einer Ankunft war er beobachtet und verspottet worden von einem anderen Mädchen, das wie ein Junge lebt, auf Bäume klettert usw. Der angehende Jura-Student setzt sich in den Kopf, sie zu heiraten. Seine Mutter akzeptiert widerwillig, doch sie verbringt schon die Hochzeitsnacht wieder draussen. Danach zerlegt sie ein Zimmer, schmeisst seine Bücher herum. Er geht fort, sie solle ihm schreiben, wenn sie möge. Ein Trick der Mutter – sie sei krank, schreibt sie – bringt ihn Monate später zurück. Der Schwindel fliegt rasch auf, doch als er wieder gehen will, findet er auf seinem Bett einen ungelenken Brief seine Frau. Happy End.

Nach einer kurzen Pause wurde dann auch die mittlere Episode gezeigt – und so fiel sie ein wenig aus dem Rahmen. Vielleicht hätte man sie, wie von Ray vorgesehen, besser in der Mitte platziert? Jedenfalls folgte nun, nach Sozialtragödie und romantischer Komödie, auch noch eine Gruselgeschichte. Ein alter Lehrer treibt sich auf einem verlassenen Grundstück herum, trifft dort eine seltsame, ganz in Schwarz gehüllte Gestalt, mit der er zu sprechen beginnt, mit dieser zu reden, liest ihr dann eine Gespenstergeschichte vor, die er über die Vorgänge im Haus auf diesem Grundstück geschrieben hat. Ein Mann erbt den elterlichen Betrieb, zieht in das luxuriöse Haus, mit seiner Frau und deren Schmuck – kinderlos geblieben, entwickelt die Frau eine Fixation auf ihr Geschmeide, ihren Tand – angespornt durch das Portrait einer Tante ihres Mannes, reich geschmückt, sie gälte als die schönste aller Frauen in der Familie. Als es im Betrieb brennt, der Mann allein verreist (nach Kalkutta – nehme ich an – zur Bank), brennt die Frau mit ihrem Schmuck durch. Er kommt zurück und das Haus ist verhext, er hört Geräusche, wird von einem Geist heimgesucht, eine Skeletthand greift auch nach dem Collier, das er seiner Frau von seiner Reise mitgebracht hatte. Die Rahmenhandlung taucht hie und da auf, und man ahnt die Auflösung bald. Der stille Zuhörer entpuppt sich als der Mann aus der Geschichte und meint lakonisch: vieles sei gut getroffen, aber manches habe sich ganz anders abgespielt.

Alle Episoden sind wunderbar gemacht und schlüssig erzählt – dass bis zur Pause bereits zwei ganze Stunden vergangen waren, hat mich überrascht. Die Geistergeschichte fand ich dann manchmal etwas lang. Aber hier hatte Ray natürlich die Gelegenheit, ein üppiges Dekor zu inszenieren: Möbel, Nippes, Gemälde, der Schmuck, der glänzend polierte reich geschmückte Flur im Haus … ein grösstmöglicher Kontrast zur ersten Episode, in der die Texturen der rauh verputzten Wände des Postbeamten ins Bild rücken. Am unterhaltsamsten fand ich Episode drei, am überzeugendsten, dichtesten erzählt die erste.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba