Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Trois Places pour le 26 (FR, 1988) ist Jacques Demys Abschied vom Kino, zwei Jahre vor seinem Tod als Folge seiner HIV-Erkrankung. Yves Montand spielt Yves Montand, der ein Musical über das Leben des Yves Montand aufführt und dabei im Film auch fortwährend gefilmt wird – die erste Szene, seine Ankunft in er alten Heimat Marseille (anscheinend ist so manches wirklich der Biographie Montands entliehen – die Filmfigur Montand sagt obendrein, das Musical, das geprobt wird, sei komplett aus dem Leben gegriffen) ist schon im grossen Stil choreographiert: von Reportern, die ihn belauern und umtanzen belagert, schreitet Montand mit Entourage eine Treppe hinab zum offenen Jeep, mit dem er fortan durch die Stadt fährt.

Die Rückkehr ist in Demy-Thema par excellence, aber Marseille natürlich die falsche Stadt – immerhin liegt sie auch am Meer und es gibt sogar eine längere am Hafen gefilmte Szene (das gab es seit den „Parapluies“ nicht mehr, glaub ich?). Und die Buchhandlung, in der er nach seiner Jugendliebe Mylène fragt, sieht exakt so aus, wie jene in „Lola“ in Nantes!).

Rückkehrer*innen gibt es so einige: am Anfang noch an Montands Seite ist Catriona MacColl, die in der Titelrolle von „Lady Oscar“ glänzte, als Betty Miller, die dann wegen ihrer verheimlichten Schwangerschaft aus dem Musical (und dem Film) scheidet. Sie war seine jüngste Affäre – da wiederholt sich auch etwas, obgleich Montand meint, er könne nicht der Vater sein. Catriona McColl ist die Schauspielerin. Ansonsten kehren sich Topoi, Tanzszenen, Lieder wieder. Montand hatte zwar in den USA mit einigen Grössen gearbeitet, aber nie ein Musical gemacht. Dafür musste erst Demy auf den Plan treten.

Bei den Proben taucht eine hartnäckige junge Verehrerin auf, Mathilda May als Roxane (eigentlich Marion de Lambert), die wie Montand ihr Glück auf der Bühne suchen will und ihm in der Garderobe eins seiner Lieder vorsingt, um die titelgebenden drei Eintrittskarten bittet (die sie kriegt) und dann auch noch fragt, ob sie die Proben beobachten darf. Montand verknallt sich in die junge Frau, sucht aber weiter nach seiner grossen Liebe, die er vor 22 Jahren in Marseille verlassen hat (wozu er auch die besagte Buchhandlung aufsucht). Die hinterlässt schliesslich in seinem Hotel eine Nachricht. Er trifft sie, die einen betrügerischen Baron geheiratet hat, der im Gefängnis sitzt, in derselben schummrigen Bar hinter der Oper, in der sie damals verkehrten. Sie mag nicht mit der Wahrheit herausrücken – und so, könnte ich jetzt schreiben, aber das stimmte dann eben nicht, nimmt das Verhängnis seinen Lauf.

Bei einer abendlichen Durchspiel-Probe kippt dann Betty um – die Schwangerschaft wird bekannt, sie reist ab, die Produktion steht vor dem aus. Doch natürlich ist Roxane zur Stelle, wittert ihre Chance und setzt sich durch. Es folgen ein paar schwierige Proben, sie gibt die Piaf, die Monroe und auch die grosse Jugendliebe, die im Musical aber unter falschem Namen auftaucht – die Affären und verflossenen Lieben Montands halt (Demys Sohn hat im Musical auch einen kurzen Auftritt, die Tochter war inzwischen für die Kostüme zuständig). Die Premiere wird ein Erfolg, die junge Darstellerin gefeiert – und sie verbringt die Nacht mit Montand. Wir wissen es da bereits: sie sind Vater und Tochter. Der Beinah-Inzest aus „Peau d’âne“ wird hier also vollzogen.

Die Tochter lässt es unausgesprochen, geht nach Hause, um die Mutter aufzufordern, ihre Sachen zu packen und gefälligst auf die folgenden Tournee mitzukommen. Montand, der sich davor schon wunderte, warum es ihm vorkomme, als würde er diese junge Frau schon immer kennen, wirft ihr bei der Auflösung, als sich an der Treppe zum Bahnhof alle treffen, einen verblüfften Blick zu. Am Ende verreisen sie zu dritt, die Mutter, die Tochter und der (wieder)gefundene Geliebte und Vater – es geht nach Paris, wo das Musical die nächste Station hat.

Das alles ist da und dort vielleicht etwas sprunghaft, hat einige Längen und Durchhänger – aber gerade die Songs sind wunderbar inszeniert, behutsam, mit der üblichen Liebe zum Detail: Farben, Kameras, Choreographien … irgendwo las ich vorhin den Satz, dass die Figuren bei Demy – bzw. die Körper, eigentlich – stets tanzen würden, sich tanzend einander annähern, auch dann, wenn sie das eigentlich nicht tun. Das kann ich sehr gut nachvollziehen, die Figurenregie ist definitiv besonders und auch unbedingt eine Stärke – eben nicht nur in den „Demoiselles“ sondern auch fast immer in fast allen anderen Filmen. Eine der schönsten Szenen mittendrin ist die, mit der Montand und Demy sich vor dem Hollywood-Musical vor allem der Fünfziger verneigen: Montand singt auf der Bühne Fetzen und Passagen aus „Singing in the Rain“ (Grüsse an Gene Kelly), „Cheek to Cheek“ (Astaire), dazu tauchen kurz einer der mit Monroe verbundenen Songs auf („My Heart Belongs to Daddy“ glaub ich? Oder war’s „I Wanna Be Loved By You“?), eben Piaf („La vie en rose“), Montands eigenes Evergreen „Les feuilles mortes“ (aka „Autumn Leaves“) …

So trashig wie in „Orphée“ geht es hier nie zu und her – auch wenn Legrands Musik auch hier neben jazzigen und orchestralen Klängen ordentlich in die Achtziger-Synthesizer-Kiste greift (das ist dann nach „Une chambre“ schon der dritte Film, das härtet ab). Die grossen Bühnenszenen mit den Hafenarbeitern, um den Nacktheits-Faden von oben nochmal aufzugreifen – sind übrigens sexier als die Bettszenen mit May (wobei zu dem Zeitpunkt längst klar ist, dass ihre Figur mit ihrem Vater ins Bett steigt). So gesehen wird in dem Film vielleicht nicht nur der früher bloss angedeutete Inzest sondern auch das eine oder andere deutlicher sichtbar als zuvor.

Natürlich wäre es noch schöner gewesen, wenn zum Abschluss nochmal Danielle Darrieux die Mutter gegeben hätte (sie ist in „Une chambre en ville“ wahnsinnig stark!) – doch Françoise Fabian sei ihr einziger Auftritt bei Demy mehr denn gegönnt, denn auch sie ist eine Schlüsselfigur hier und hat einen hervorragenden Auftritt. Die Mutter-Tochter-Beziehungen sind ja ein weiterer Dauerbrenner bei Demy, der sich von den „Parapluies“ (wo die bürgerliche Tochter auf Drängen der Mutter die gute Partie heiratet, statt auf die allfällige Rückkehr ihres nicht standesgemässen Geliebten zu warten) bis hierhin durchzieht. In den „Demoiselles“ ist Darrieux schlicht umwerfend und so etwas wie das Herz des ganzen Films. In „Peau d’âne“ springt dann Delphine Seyrigs Fee als eine Art Ersatzfigur ein, die zugleich Mutter (Schutz vor dem Inzest) und Konkurrentin (die ehemalige Geliebte, die bei der Doppelhochzeit am Ende den von ihr eh beanspruchten König endlich abkriegt). Die exzellente Colette von Danièle Delorme wird in „La naissance du jour“ quasi zur Ersatzmutter – und Kupplerin – der jungen Künstlerin, die Dominique Sanda gibt. Ironischerweise – darf man glaub ich schon sagen? – verkuppelt sie die beiden in ihrem Künstlerkreis nicht standesgemässen beiden Charaktere des Filmes miteinander, eben die aufstrebende Künstlerin und ihren möbelschreinernden schönen Geliebten, der bei der Konversation der Künstlerclique nicht mithalten kann. Sanda hat dann in „Une chambre en ville“ neben der umwerfenden Darrieux ihren grossen Auftritt – und die beiden spiegeln vielleicht in gewisser Hinsicht das Gespann von Deneuve und Anne Vernon in den „Parapluies“. Oder auch nicht, über solche Themen könnte man ja ganze Symposien abhalten.

Jetzt müsste ich an sich einen Sternefaden eröffnen – aber das fällt mir glaub ich etwas gar schwer. Ich mag die Filme wirklich alle, auch die weniger guten. Nicht mal „Parking“ oder „L’événement le plus important …“ mag ich einfach abwatschen, „Lady Oscar“ sowieso nicht. „Une chambre en ville“ sehe ich nah an den frühen Meisterwerken, „Model Shop“ als einen faszinierenden – in vieler aber nicht jeder (Stichwort Personenregie) Hinsicht aus dem übrigen Werk ausscherenden – dunkler schattierten, im Gestus semi-dokumentarischen Ausreisser (da könnte man auf den Erstling verweisen, „Le Sabotier du val de Loire“ von 1955), und zuletzt „La naissance du jour“ als letzten zweifelhaften Fall (er taucht oft gar nicht erst auf, weil er halt fürs Fernsehen produziert wurde) sehe ich ebenfalls als Nahezu-Meisterwerk. Über „Lola“ und „La baie des anges“ brauchen wir hoffentlich ebensowenig diskutieren wie über „Peau d’âne“ und „The Pied Piper“? Und dass Demy „Le bel indifférent“ nicht mochte, kann ich vielleicht so halbwegs nachvollziehen – dennoch ist auch der stark.

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