Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Gestern Une chambre en ville (FR, 1982), der nächste Film von Demy – und wohl der mit der längsten Vorgeschichte. Wie „Les Parapluies de Cherbourg“ ist der Film komplett gesungen – und noch viel mehr als die „Parapluies“ ist er dunkler schattiert als alle bisherigen Filme Demys, ja geradezu düster. Aus der Operette wird tragische Oper, und die brauchte seine Zeit. Seit den Ereignissen in Nantes 1955, als gestreikt wurde und soziale Unruhe herrschte, plante Demy, darüber einen Film zu drehen. Nach den „Demoiselles“ sollte es so weit sein. Deneuve und Depardieu waren für die Hauptrollen geplant, Isabelle Huppert sollte die schwangere Geliebte und Simone Signoret die zur Bourgeoise abgestiegene Aristrokratin spielen (die Mutter von Deneuves Figur). Demy schrieb in den frühen Siebzigern also ein neues Drehbuch, hatte auch mal den Plan, die Geschichte effektiv in Form einer Oper zu erzählen … doch wie üblich konnte er nicht genügend Mittel auftreiben, auch weil die Stars – und Michel Legrand – abgesagt haben. Deneuve, weil sie endlich selber singen wollte, Depardieu wohl aus Solidarität mit ihr, und Legrand anscheinend, weil ihm der Film zu politisch schien und er dahinter den Einfluss Vardas vermutete.

Erst 1982 konnte gedreht werden, mit einer ganz neuen Besetzung. Richard Berry spielt den streikenden Arbeiter François, ein Landei, das in einem Zimmer bei der verwitweten Colonelle haust (das „chambre en ville“ eben), die wiederum von Danielle Darrieux gespielt wird – eine einsame Frau, der die Wohnung quasi zum Gefängnis wurde. Deren Tochter, Dominique Sanda ist nach „La Naissance du jour“ gleich wieder dabei, hat einen Monat zuvor einen creepy Fernseh-Verkäufer geheiratet (Michel Piccoli mit roten Haaren, sein Geschäft hat er natürlich in der Passage, die in „Lola“ immer wieder zu sehen ist und in den „Parapluies“ auch nochmal einen Auftritt hat). Dieser ist impotent, krankhaft eifersüchtig und ziemlich irre, lässt seine Frau ohne Geld auskommen – und so prostituiert sie sich, quasi aus Protest. Sanda trägt den ganzen Film nichts als einen Pelzmantel und Stilettos. (Darrieux darf wohl auch hier wieder selbst singen … würde mich schon wundernehmen, ob es dazu irgendwo mehr zu lesen gibt.)

Das Ergebnis – in dunklen Farben, Bernard Evein hat wieder die Ausstattung übernommen und erzeugt zwischen den Studio- und den
(teils grossen) Aussendrehs eine verblüffende Kontinuität, die vor allem über die Farbe blau funktioniert – ist ein eminent politischer Film, und dann eben doch wieder nicht. Es wird pittoresk gestreikt, es wird protestiert und inbrünstig im Chor gesungen (da ist der Schluss von „Lady Oscar“ nicht weit), privates Glück, privates Unglück werden mit der Nutzlosigkeit des Engagements, der Ausweglosigkeit, der Brutalität der nationalen Polizei (CRS) verknüpft. Der Arbeiter lernt die Frau im Pelzmantel kennen, für beide ist es die grosse Liebe. Doch seine Freundin, die ihn zur Heirat aufforderte, ist schwanger (eine Figur, für die der eklige frz. Ausdruck der „petite amie“ wie geschaffen scheint). Der Fernsehverkäufer kreuzt bei der Mutter auf, bedroht sie, dreht halb durch. Als die Pelzmanteldame nochmal zurück will, um ihre Sachen zu holen, ist es vollends um ihn Geschehen, mit seinem Rasiermesser schneidet er sich die Kehle durch – sein grünes Reich wird rot. Rot ist auch das Kleid der Colonelle, und in deren Wohnung kommt es am Ende zum Drama. Der Arbeiter wirft sich für Freunde in den Kampf und wird niedergeknüppelt, vor den Augen seiner schwangeren (Ex-)Freundin liegt er da, und die neue Geliebte erschiesst sich. Finis.

Bei der Kritik war der Film ein grosser Erfolg. Man kann natürlich trefflich über Einflüsse nachdenken (im frz. Wiki-Eintrag wird von Carné über Cocteau bis zu Eisenstein so ziemlich alles aufgefahren. Man kann sich auch über das Netz der vielen Bezüge auf frühere Filme erfreuen, und über viele kleine und grössere Details, z.B. über die Schwebefähre von Nantes, die im Vorspann prominent platziert ist – auch das eine Kindheitserinnerung Demys, wie die Passage, allerdings eine, die 1955 stillgelegt und 1958 abgebaut wurde. Um das Bild zu erzeugen, musste also in die Trickkiste des Kinos gegriffen werden.

In die Trickkiste griff auch Michel Colombier immer mal wieder, der eine üppige, grossorchestrale Musik, oft mit prominentem Klavier, schrieb, die auf Halbkenntnis des Szenarios und Missverständnissen beruhte, und Demy am Ende die Arbeit des Zuordnens von Musik und Dialogen überliess. Immer wieder kippt das Orchester un das Klavier in einen Synthesizer mit programmierten Beats … und nicht nur da schrammt die grosse Oper haarscharf an camp vorbei. Colombier gelingen aber ähnlich einprägsame Motive wie Legrand, und wie in den früheren Musical-Filmen wiederholen manche Motive sich immer und immer wieder, wandern von Figur zu Figur, tauchen mit stets neuem Text wieder auf, schaffen so eine Art Subtext, der den Film abseits des Plots zusammenhält. Dass zum ersten Mal seit „Les Parapluies de Cherbourg“ alles gesungen ist, lässt den Kontrast von der Schönheit des Demy’schen Werks mit der hier geschilderten Realität nur umso heftiger wirken. Dass der Film auch als eine Art Gegenposition zu den „Parapluies“ gelesen werden kann, liegt ebenfalls auf der Hand: dort entscheidet sich die männliche Hauptfigur am Ende für das „kleine“ Glück mit der „petite amie“ und dem gemeinsamen Kind – die Frau macht sich aus dem Staub, während er in Algerien dient. In „Une chambre en ville“ entscheiden beide Hauptfiguren sich ganz im Gegenteil dafür, dem „coup de foudre“ nachzugeben, halten sich ohne ihr Gegenüber nicht mehr für vollständige Personen, beschliessen, für ihr Glück zu kämpfen.

Beim Publikum fiel der Film leider durch – und eine Debatte in der Presse, losgetreten von Kritikern, die den Film verteidigen wollten – führte dann leider eher zum gegenteiligen Ergebnis: Demy wurde (noch mehr) marginalisiert, als Teil einer intellektuellen Intelligentsia betrachtet, losgelöst vom Publikum und dessen Geschmack. Der Fehler der Kritiker, die eine Art offenen Brief oder ein Manifest publizierten, lag auch darin, Demys Film mit dem in der gleichen Woche gestarteten „L’As des as“ von Gérard Oury und mit Jean Paul Belmondo, zu vergleichen.

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