Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

Startseite Foren Kulturgut Für Cineasten: die Filme-Diskussion Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II) Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

#12117003  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,343

Seit „Model Shop“ bin ich ja selbst beim Entdecken – ich habe oben diese Beobachtung eingestellt, dass Demy auf einem schmalen Grat zwischen dem Lächerlichem und dem Sublimen wandelt. Das wird im nächsten Film nochmal überdeutlich: Peau d’âne (FR, 1970). Die (Text-)Vorlage ist ein Märchen von Charles Perrault (aus der frz. Klassik – also wahnsinnig steif und kalt, 17. Jahrhundert). Demy macht daraus – einmal mehr mit Hilfe von Michel Legrand und Catherine Deneuve – ein Musical, das das Märchen quasi in die Realität holt und so viele Ebenen hat, dass ich das gar nicht alles beschreiben kann.

Der Plot: Die Königin stirbt, nimmt dem König auf dem Sterbebett das Gelübde ab, dass er nur dann wieder heiraten solle, wenn er eine schönere, bessere Frau finde, als sie es sei. Die Tochter verstösst er (er wolle sie nicht mehr sehen – das Bild oben stammt aus der Szene mit dem ersten Chanson, Deneuve sitzt im Hof an einer kleinen Orgel – ich glaube, sie singt in diesem Film jetzt selbst?), der Palast ist so gross, dass das keine Probleme macht. Die Lakaien schwärmen aus und bringen Portraits – natürlich nur von alten und hässlichen aber sehr reichen Frauen. Und dann ist da ein letztes Portrait von einer, die alle überstrahlt – auch die Mutter. Da sind wir bei Demys Idealbild der Frau, und klar: es ist Deneuve, die Tochter. Das ist dem König egal, er will sie also heiraten. Da tritt die Patentante auf den Plan – Delphine Seyrig als durchtriebene Fee – und flüstert der Prinzessin ein, welche scheinbar nicht erfüllbaren Forderungen sie dem König stellen soll: ein Kleid wie das Wetter, ein Kleid wie der Mond, ein Kleid wie die Sonne … und dann als letztes das Fell des Gold-scheissenden Esels, der erst den unermesslichen Reichtum des Königs begründet. Die Szene mit dem Eselskopf auf dem Bett präfiguriert natürlich eins der prägnantesten Bilder aus dem ersten der „Godfather“-Filme.

Mit dem Eselsfell und ein paar Kohleflecken im Gesicht getarnt, als „Peau d’âne“ („Eselshaut“), flieht die Prinzessin nun vom Hof und wird anderswo zur niedrigsten aller Dienerinnen, über die alle anderen sich lustig machen, sich vor ihr ekeln. Der rote Prinz (Jacques Perrin) – der Sohn des Hofes, an dem sie nun lebt – kommt vorbei, beobachtet sie zufällig in ihrer Hütte im Wald, wo sie verstossen lebt und dank dem Zauberstab der Fee wieder zur Prinzessin werden kann – eine hübsche Spiegelszene, in dem sie sieht, dass er sie beobachtet, ihn blendet, aber dabei so tut, als hätte sie nichts gesehen. Es kommt, wie es kommen muss. Der Prinz ist krank, er lässt sich von der Eselshaut einen Kuchen backen, verschluckt sich – ein Ring steckt im Kuchen, ein ganz schmaler. Die Eltern, inzwischen durch die Gelehrten aufgeklärt, dass die Krankheit des Sohnes die Liebe sei, lassen alle Frauen des Königreichs antreten: jene, der der Ring an dein Finger passt, soll den Prinzen heiraten dürfen. Und es kommt, wie es kommen muss … am Ende wird Doppelhochzeit zelebriert, die Fee fliegt mit dem Helikopter direkt ins Mittelalter ein und heiratet den König, der einen letzten deplatzierten Spruch an seine Tochter richtet. Und wären sie nicht 100 Jahre später gestorben, so liebten sie sich noch heute.

Das alles kommt wieder demy-bunt daher, in farbigen Kostümen, inkl. bemalter Statisten und Pferde (das Reich des Königs und der Prinzessin ist blau, das des Prinzen und seiner Eltern rot), üppig geschmückter Räume, ein paar Trickfilm-Einlagen (nicht nur Ein- und Ausblendungen, wenn die Fee auftaucht und wieder verschwindet) … darunter auch eine, die mich an Mamoulians pseudo-französisches Musical „Love Me Tonight“ mit Maurice Chevalier erinnerte: eine Zeitlupenszene im Wald, wie es sie bei Mamoulian mit einer ganzen Jagdgesellschaft gibt, bietet Demy hier im Kleinen, quasi in der Kammermusikvariante.

Dass der Vater, der lüsterne König, von Jean Marais („La Belle et la bête“) gespielt wird, ist natürlich ein toller Twist. Der Helikopter am Ende als Brechung auch. Aber ganz allgemein funktioniert der Film für Kinder anders als für Erwachsene – und reflektiert das da und dort auch. Die eine sexuell aktive Figur im Film ist die Fee, der es mindestens so sehr daran gelegen ist, den König, mit dem sie einst eine Affäre hatte, zu angeln, als dass es ihr darum geht, die Tochter vorm Inzest zu bewahren. Die Liebesszene der beiden Kinder ist wirklich kindlich: sie rollen über ein Feld auf einen gedeckten Tisch zu, trinken Wein (Franzosen halt, da dürfen das auch Kinder) aus einem grossen Fass … diese Bilder passen eher zu den Teletubbies als zu einem Film für Erwachsene. Auch der Bubentraum, dass die Eltern dem Prinzen alle Frauen des Reiches zuführen … das alles funktioniert für Kinder als Märchen, aber für erwachsene Augen öffnen sich überall Falltüren. Unter den dieses mal sehr üppigen Bonusmaterialien findet sich nicht nur der ebenfalls schlicht „Peau d’âne“ betitelte viertelstündige Stummfilm von Albert Capellani aus dem Jahr 1908, sondern auch ein langes Segment, in dem Kinder die Handlung nacherzählen, sowie ein Gespräch mit vier Psycholog*innen und Autor*innen, das quasi eine Auslegeordnung der verschiedenen Ebenen und diverse Einblicke in den Film bietet. Zudem gibt es Auszüge aus unzähligen alten Illustration des Märchens, ein Gespräch mit der Produzentin Mag Bodard (das Budget ging eine Million über die 3-4 geplanten hinaus, und damit hätten all ihre Probleme begonnen, meint sie – und bereut das Abenteuer überhaupt nicht), einen Comic von Claire Bretécher über das Sujet usw.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba