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Ich gehe nochmal nach England … die ersten Aufnahmen von Joe Harriott, noch bevor die mit Tony Kinsey entstanden, die ich gestern anhörte: vier Stücke mit Dill Jones-p, Jack Fallon-b und Phil Seamen-d, im Februar 1954 in London für Melodisc aufgenommen.
Zwischen Sessions 1 und 2 des Tony Kinsey Quartets fällt der „Akee Blues“ mit Buddy Pipp’s Highlifers (Pete Pitterson-t, Bruce Turner und Harriott-as, Oscar McKay-p, Denny Wright-g, Joe Sampson-b, Kinsey-d, Alf Hayward-maracas, Pipp-cga) – und das ist wieder so ein Zwischending, das – wie manches von Graham – doch recht nah an der Musik ist, die aus den Kolonien nach London gelangte. Harriott ist auf dem Stück der gefeaturte Solist und klingt toll.
Und dann springe ich schon zu CD 2 (die erste enthält auch noch die zweite und dritte Session mit Kinsey), die mit dem „Blues in Threes“ vom Februar 1955 öffnet, Kenny Baker with the Jazz Today Unit, u.a. mit Keith Christie, Jimmy Skidmore und Harry Klein – in einer Combo, die irgendwo zwischen den Armstrong All Stars und etwas modernerem Swing changiert. Solistisch ist hier ein Altsax-Trio zu hören, Bruce Turner, der wie Johnny Hodges klingt, dann nehme ich an Harriott und wohl zuletzt Bertie King, bei dem ich eher an Benny Carter oder Willie Smith denke, der aber auch ein paar moderne Passagen einstreut, danach übernimmt Dill Jones, der schon bei Harriotts Debut dabei war am Klavier, dann folgen Keith Christie (tb) und zuletzt der Leader an der Trompete. Danach musste Harriott wegen eines Tuberkulose-Schubs in Krankenhaus. Im Mai war er wieder aktiv, nahm für Decca vier Stücke mit dem Quartett von Tony Kinsey auf (mit Bill Le Sage-vib/p, Eric Dawson-b) – zwei lange erschienen auf einer EP, die beiden kurzen auf einer Single.
Zehn Tage später ist Harriott erneut im Studio, jetzt wieder unter eigenem Namen und mit Streichern (3-1-1), Harfe (Maria Korchinska) und Dirigent (Laurie Johnson, auch Filmkomponist). Die Harriott-Combo besteht neben dem Leader aus Max Harris-p, Sammy Stokes-b und Phil Seamen-d. Entstanden sind zwei etas längere Stücke (drum läuft die 7″-Platte als „EP“, die erschien auf dem Label Polygon, genauer in dessen Reihe „Jazz Today“), „I’ll Remember April“ und „Easy to Love“. Natürlich kommen da Erinnerungen an Bird with Strings hoch – aber das klingt dann doch anders, die Arrangements sind sehr süsslich, eine Solo-Geige schlängelt sich ganz dezent zwischen dem Sax und der Rhythmusgruppe hindurch, die Harfe haut immer wieder üppig Arpeggi raus oder zupft ziemliche dichte auf- und absteigende Läufe. Im Solo von Harriott über „April“ setzen die dann alle erstmal aus, in „Easy to Love“ haben sie dafür gleich ihr eigenes Intermezzo – läuft trotz des schnelleren Tempos ähnlich ab, einfach ohne solistische Violine und mit viel mehr Harfe … seltsam, und doch ganz schön, einfach wegen Harriott
Im Juli ging das Kinsey Quartet mit der Sängerin Lita Roza (2916-2008) ins Studio – verzögert, weil das Kinsey Quartet mit Ella und Peterson durch Grossbritannien touren sollte, inkl. zehn Minuten pro Abend für die Band – doch Norman Granz überlegte es sich in letzter Minute anders: nur Stokes und Kinsey durften spielen, Kinsey insistierte aber, dass Harriott und Le Sage wenigstens bezahlt wurden. „Harriott’s solos are attractive, but as this was Rosza’s date, he is very restrained. On most tracks he breathily caresses the melody and Kinsey uses brushes throughout.“ (Alan Robertson, „Joe Harriott: Fire in His Soul“, S. 41). Nur ein Stück ist in der Proper-Box zu finden, „You’ll Never Know“, mit einem sehr schönen Harriott-Solo. (Die Proper-Box enthält übrigens auf CDs 1 und 2 – von wie üblich 4 – exakt dasselbe wie das 2-CD-Set „Killer Joe“ von Giant Steps.)
Die nächste EP – mit vier Stücken nimmt Hariott dann im August für das Label Pye Nixa auf, wieder mit Harris, Stokes und Seamen. Neben den Originals „Just Goofin'“ und „Joe’s Blues“ sind zwei Standards zu hören, die Ballade „Everything Happens to Me“ und das mittelschnelle „Just Friends“.
Später im Jahr spielt Harriott mit der kurzlebigen Big Band von Ronnie Scott, die im Oktober ins Studio geht – auch zur Band gehörten u.a. mit Hank Shaw, Ken Wray, Pete King, Benny Green, Norman Stenfalt, Eric Peter und Phil Seamen. Das Frontcover der EP ist generisch, aber auf der Rückseite ist die ganze Band zu sehen. Eins der vier Stücke, „With Every Breathe I Take“, fehlt in den Harriott-Anthologien – das war wohl Scotts Balladenfeature. Dass Phil Seamen ein toller Big-Band-Drummer war ist kein Geheimnis, hier kann man das hören. Im schnellen „Bang“ ist Hank Shaw der erste Solist, gefolgt von Harriott, Dougie Robinson (ebenfalls as), dem Leader und zuletzt Seamen. Dann folgt „A Night in Tunisia“, in dem Ken Wray da Thema präsentiert, danach sind Harriott und Senfalt zu hören. Das letzte Stück, „The Big Fist“, stammt wie „Bang“ von Dizzy Reece und bietet Platz für Soli von Harriott, Shaw, Scott und Seamen. Die Arrangeure sind nur für „Bang“ und „Tunisia“ bekannt: Victor Feldman und Johnny Keating. Generell scheinen sich alle einig zu sein: die individuellen Talente in der Band waren besser als „the sum of its parts“. Harriott bekundete Mühe, sich dem Lead-Saxer Robinson unterzuordnen, Scott bedauerte später, die Band je gegründet zu haben, das Projekt sei „one of my worst ever“ gewesen (Robertson, S. 46). Und dennoch sind die Aufnahmen hörenswert … auch das fehlene Stück natürlich, das tatsächlich ein Balladenfeature für den Leader ist:
Nachdem Scotts Band im Dezember aufgelöst wurde, spielte Harriott mit dem Quintett von Phil Seamen, das leider nie aufgenommen hat. Im Juli 1956 geht Harriott dann als Leader für MGM ins Studio und nimmt die Hälfte einer EP (die andere stammt von Don Rendell) auf, mit Johnny Weed-p, Major Holley-b und Seamen, von dessen Quintett hier der Gitarrist Dave Goldberg fehlt (den ich grad mit Dizzy Reece gehört habe).
„Blues Original“ ist ein snappy Harriott-Original mit einem two-beat-Feeling und einem satten Backbeat von Seamen, der dann in „My Heart Belongs to Daddy“ einen komplizierteren, sehr tänzerischen Beat an den Besen hinlegt, während Harriott jetzt – Sommer 1956 – seinen reifen Sound gefunden zu haben scheint. Wahnsinnig schön, und obendrein eh ein Lieblingsstück von mir.
Hier noch ein Bild der Box, aus der ich das alles gerade gehört habe: CD 1 in Auszügen (den Rest hörte ich gerade auf der japanischen Esquire-CD) und die ganze CD 2; danach springt die Proper-Box ins Jahr 1959 zum Album „Southern Horizon“, das in den USA bei Jazzland erschien (aufgenommen wurde es in London, die erste Hälfte im Mai 1959 mit einem frühen Line-Up des Joe Harriott Quintet mit Hank Shaw an der Trompete und Bobby Orr an den Drums, die zweite im April 1960 und erstmals mit Shake Keane, dem kongenialen Partner an Trompete und Flügelhorn und dem alten Bekannten Phil Seamen am Schlagzeug. Danach enthält die Box noch das Album „Free Form“, das erste Meistwerk des Quintetts, sowie – lizenziert, ganz wie es sich gehört – die Cadillac-Scheibe „Swings High“ aus dem Jahr 1967, mit Stu Hamer anstelle von Keane, aber weiterhin mit Pat Smythe, Coleridge Goode und Seamen, die schon bei „Abstract“ zu hören sind. Sehr empfehlenswert jedenfalls.
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