Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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gypsy-tail-wind
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Sarah Vaughan in Berlin 1969 – sie singt mit einem guten, sehr zurückhaltend agierenden Trio (Johnny Veith-p, Gus Mancuso-b, Eddy Pucci-d) ganz hervorragend … und wird ausgebuht, was aber auf beiden Ausgaben weggeschnitten wurde … seltsam überhaupt die zwei Ausgaben: 2016 gab’s die Einzel-CD unten bei Delta/Jazzline, mit einem falsch identifizierten „Serenata“ („Love Finds a Way“ – und klar kann man dann bei den Credits nur „N.N.“ schreiben, wenn man den Song nicht identifizieren will). Im Booklet der 2-CD-Ausgabe von 2020 (oben) steht, das zweite Set (CD 2) seit schon auf CD erschienen, das erste (CD 1) sei neu – und dann steht da rätselhafterweise auch noch, hier sei alles enthalten, was Vaughan an dem Abend sang (bzw. am Nachmittag und Abend, in den Liner Notes der Einzel-CD gibt’s ein Zitat von Berendt, das ein Nachmittags- und ein Abend-Set erwähnt). Stimmt nicht, denn es fehlt „Just One of Those Things“ und es fehlt „Love Finds a Way“ (eben: „Seranata“), zudem ist das auf der CD unten zwischen zu hörende „Fly Me to the Moon“ auf der Doppel-CD fast zwei Minuten länger (und nein, das hat nicht damit zu tun, dass die auf der Jazzline-CD auch enthaltene nachfolgende Ansage fehlt). Auch nicht einig sind die zwei Ausgaben bei „Zing Zing Zing Went the Strings of My Heart“ (James F. Hanley) vs. „The Trolley Song“ (Ralph Blane-Hugh Martin) – klar, liegen die Franzosen richtig, bei Jazzline nahm man einfach eine prägnante Songzeile als Titel (wie bei „Serenata“) und schrieb halt irgendeinen (?) Namen drunter. Über alle Zweifel erhaben ist aber die grandiose Minimal-Version von Gilbert Becauds „What Now My Love“ (auf beiden Ausgaben zu hören) – hier mit Bild (in falschem Format, ich bin da ganz bei Antoine Doinel, der wegen sowas beinah amoklaufen kann – aaargh!):

Sehr seltsam, diese Ausgaben … und die Buhrufe, die in den Liner Notes von Karsten Mützelfeldt für die CD unten erwähnt werden, sind auch auf der „kompletten“ nicht zu hören (sind aber ebenfalls auf Film gebannt und in einer Doku übers Berlin Jazzfestival, die ich vor wohl 15 Jahren mal sah, auch zu hören … da gab’s ein paar Jahre später dann ja quasi als Intervention Carla Bley mit „Boo to You Too“, wofür sie aber den damaligen Festivalleiter George Gruntz und weitere Jazzfest-Funktionäre zum Buhen anstellte, weil bei ihr ja niemand ernsthaft gebuht hätte – womit wir wieder bei der Publikumsbeschimpfung wären @soulpope ;-) )

Was diesen Mitschnitt so besonders macht ist, dass es die erste Gelegenheit nach all den Kompromissen in den letzten Mercury-Jahren bis 1967 ist, bei der Vaughan einfach das tut, was sie eigentlich wohl immer tun wollte: die Songs singen, die sie singen will, nicht Material, das irgendwer für sie ausgewählt – und dann womöglich noch mit an Kitsch oder Kommerz grenzenden Arrangements zubereitet – hat. Die Doppel-CD ist natürlich die bessere Option (Vinyl gab’s wohl von beiden Ausgaben), aber dass „Serenata“ dort fehlt, ist schon ein echter Makel, ich werde daher beide behalten … (seltsame Vibes hab ich übrigens bei beiden Reihen: die WDR-Reihe ist oft halb gepfuscht, fürchterlich aufgemacht, klanglich mittelmässig – das Coltrane-Set aus Köln 1960 als besten Beispiel, was wir hier schon mehrfach hatten … bei den „Lost Recordings“ hab ich das Gefühl, die seien – Aufmachung, Geschrei um besten Sound aller Zeiten, Tonfall der Liner Notes – seien für komplett ahnungslose Hi-Fi-Fetischisten gemacht).

„My name is Della Reese“ sagt sie in Monterey, wo Sarah Vaughan im Spätsommer 1971 an der closing night mit Bill Mays (p), Bob Magnusson (b) und Jimmy Cobb (d) ein kurzes Set sang. Nach weniger als einer halbe Stunde biegt man ins grosse JATP/Jam-Finale ein, für das Roy Eldridge, Clark Terry, Bill Harris, Benny Carter, Eddie „Lockjaw“ Davis, Zoot Sims, John Lewis, Mundell Lowe und Louie Bellson übernehmen (ich vermute, Magnusson spielt weiterhin den Bass). Gelöste Stimmung, ein Festival, in dessen Rahmen sie passte. 1959 war Vaughan zum ersten Mal dabei, 1971 war ihr siebter Auftritt beim Festival und bei der Ausgabe spielten u.a. Carmen McRae, das Dave Brubeck Quartet mit Gerry Mulligan, Bellson mit seiner Band, Jay McShann, Big Joe Turner, Mary Lou Williams, Erroll Garner, Jimmy Witherspoon, John Handy oder das Thad Jones/Mel Lewis Orchestra. Im ersten Teil des Konzertes gab’s eine JATP-Hommage, im zweiten dann Vaughan und zum Abschluss den gemeinsamen Jam. Das Vaughan-Set ist klasse – aber völlig anders, es hat nicht diese unglaubliche Konzentration, wie sie sie in Berlin – zumindest teilweise Feindesland für Sängerinnen damals – an den Tag legt und wie sie mich heute Nachmittag wirklich total fasziniert hat. Das sind quasi zwei Facetten, die vielleicht zusammen ein ganz gutes Bild von Sarah Vaughan ergeben.

Zwischen 1967 und ein paar Monate nach dem Monterey-Set gab es keine Studio-Aufnahmen von Vaughan (und gibt wohl bis heute nur Live-Mitschnitte von 1969: einen vom Juni in New Orleans sowie einzelne Stücke aus San Remo 1968 und Paris ein paar Tage nach Berlin … das LRC/Douglas/Laserlight-Album „Embraceable You“ fällt wohl auch noch in den Zeitrahmen, ein Live-Mitschnitt von der Zeit, als Bob James ihr Pianist war, aber die Infos dazu sind karg und teils offensichtlich falsch – kann auch sein, dass das von vor den letzten Studio-Sessions von 1967 stammt).

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