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Anonym
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irrlicht
nail75 Solche Fälle verdeutlichen aber, dass man eben vieles „selbstbestimmen“ kann, es aber immer noch einen Faktor Natur gibt, denn man nicht komplett ausschließen kann. Jeder Fußballfan weiß, dass ein gut trainiertes männliches U17-Team jede Frauenfußballmannschaft aus dem Stadion schießt. Gleiches gilt für Tennis, Golf, Handball, Volleyball und alle anderen Sportarten abgesehen von Reiten. Wenn man die Grenzen allzu weit fast, dann bietet sich ein Geschlechterwechsel für manche Art von Sportlern geradezu an. Einige Verbände erklären deshalb schon, dass nur Athleten bei dem Geschlecht mitmachen dürfen, in dem sie die Pubertät durchlebt haben. Für Amateursportler/innen mag das ärgerlich sein, aber auf Profi-Niveau drohen einfach nicht zulässige Verzerrungen.
Ich habe genau zur Thematik Sport ein paar Seiten vorher schon ein paar Zeilen geschrieben, im Grunde das, was N_v_F eben inhaltlich stark ausgeführt hat. Short: Nischenthema, das den meisten, die sich darüber beschweren, ohnehin letztlich restlos egal ist (auf einmal sind alle Herberts und Sandras Feuer und Flamme für die Rechte von Frauen im Handball) und das oft schon dadurch relativiert wird, dass es körperlich schon von Mann zu Mann massive Unterschiede gibt. Kann man diskutieren, als Headline für die zehn Fälle im Jahr, bei denen das relevant wird, taugt es nicht (und die sollen bitte die Verbände klären und eben nicht die Sandras und Herberst in den Kommentarspalten bei SPON).
plattensammler Wie ich anderer Stellen schon ironisch schrieb, haben alle Verlage angestellte Zensoren, die die Werke von Autoren bearbeiten, die sie aber zur Tarnung Lektoren nennen. So geht es in deutschen Versionen vom Hitchcockfilm nicht mehr um Nazis, sondern um Drogenhändler, Prince’s Dreifachalbum wird zu einem Doppelalbum verkürzt, „zu viel“ Dialog wird aus Filmen rausgeschnitten, dafür kommen ein paar mehr Sexszenen rein (war noch von einem anderen Film übrig) usw. usw. Das ist alles business as usual.
Das ist alles natürlich richtig, aber viele Aspekte betreffen ja die Erstveröffentlichung. Mir ging es darum, ob es im Sinne der Kunstschaffenden ist, wenn ein Werk später stark abgewandelt wird. Theater lebt natürlich immer auch von Variation, Musik meinetwegen schon durch Cover auch, aber Bücher? Ich stelle mir gerade einen Murakami Roman vor, bei dem alles Sexuelle gedämpft wird und all die schönen Randbemerkungen zu geschätzter Literatur und Musik, die vielleicht irgendwann dem Zeitgeist nicht mehr angemessen ist, geändert wird. Es wäre in der Stimmung für mich ein anderes Werk, wenn der Held der Geschichte auf einmal nicht mehr den schlimmen Wagner hört, sondern Lang Lang.
Aber warum sollte das ein Unterschied sein, ob es die Erstveröffentlichung betrifft oder nicht. Der springende Punkt ist, dass es übliche Kulturpraxis ist, Kunstwerke zu verändern.
Was mir noch so spontan einfällt:
Gerade bei deutschen Übersetzungen von fremdsprachiger Literatur ist es ja so, dass jede Neuübersetzung völlig anders ist.
Beispiel Murakami: „Die Chroniken des Aufziehvogels“ und „Gefährliche Geliebte“ wurden neu übersetzt. Das sind schon sehr unterschiedliche Versionen… in dem Fall kommt noch „erschwerend“ hinzu, dass die ersten deutschen Versionen Übersetzungen der englischen Versionen waren, die neuen Übersetzungen aus dem japanischen). Wer sich über den Austausch von einzelnen Worten schon so aufregt, dass der Blutdruck in gefährliche Regionen steigt, der kann eine solche Veränderungen kaum überleben! Oder ist allein schon die Übersetzung eine so starke Abwandlung des Werks, dass das eigentlich gar nicht geht? (Sehen manche ja tatsächlich so.)
Früher haben die Verlage die Übersetzungen von fremdsprachigen Romanen auch gnadenlos zusammengekürzt. Und viel später kamen dann die ungekürzten Ausgaben. Ein ähnliches Phänomen wie der Director’s Cut.
Bei Büchern mag es ansonsten nicht so oft vorkommen wie bei Filmen und Platten, keine Ahnung. Aber mir ging es auch mehr darauf hinzuweisen, dass die Veränderungen von Kunstwerken eine völlig übliche Kulturpraktik ist. Die literarische Qualität von RDs Roman wird durch den Austausch einzelner Wörter nicht weiter tangiert.
Interessant wird es beim Thema Kulturelle Aneingnung ja deswegen, weil sich da aufeinmal Leute über Änderungen aufregen, die sich über andere – weitaus gravierendere Veränderung von „Kunstwerken“ – nicht äußern. Ich würde mal vermuten, dass das politische Gründe hat. Und das ist ja auch richtig so, weil es um Politik geht und nicht um Kunst(werke).
Daher vermute ich: Wem es in diesem Zusammenhang tatsächlich und aus vollem Herzen nur um „Zensur“ und/oder die armen Kunstwerke geht, der hat einiges noch nicht verstanden. Zum einen nicht, um was es bei kultureller Aneignung (und ihren Widersprechern) geht, zum anderen nicht, was Zensur ist, und zum Dritten wahrscheinlich auch nicht, was ein Kunstwerk ist. Oder hat einen sehr eingeschränkten Fokus auf einen Aspekt des Themas, dass ich aufgrund seiner Marginalität nur nur mäßig interessant finde.
Kontrovers und gewinnbringend zu diskutieren gäbe es an kultureller Aneignung nämlich eine ganze Menge. Da haut ja vieles nicht so richtig hin auf der theoretischen Ebene, weshalb das in der Wissenschaft ja auch kaum noch eine Rolle spielt. In der politischen Arena allerdings schon, bleibt aber wegen der theoretischen Unzulänglichkeiten eine ganz heikle Strategie – und ist dadurch ein sehr spannendes Thema.
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