Antwort auf: Abbey Lincoln – That's Her! (1930–2010)

#11965253  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,158

My life was progressing, and I was being introduced to a social philosophy that I hadn’t had a chance to investigate before. It was full of holes. It’s not really, you know, — it could use a lot of reworking as a philosophy, but it opened me to another — to other things to be concerned for, not how old you’re getting and if you got wrinkles and you need a face life, but, I mean, what can you do to help to illuminate an approach to life that will help the children to live and that will help you to live, to live and not be burdened and tortured and miserable, all these things which I think I am not. I don’t live a tortured life. I don’t live a life of jealousy and envy.

There’s nothing here that I can think of that I really would like to have. As far as I can see, I got everything. I did.

~ Abbey Lincoln (1996)

In den späten Fünfzigern in New Work war Abbey Lincoln „an OK supper singer, but no particular individuality, none of the thrust that a jazz singer has to have“ (Nat Hentoff, via hier). Doch im Jahr 1960 hört Hentoff sie mit Max Roach im Village Gate in New York, wo sie zusammen mit Max Roach die „Freedom Now Suite“ aufführt: „It was just extraordinary, the power of it.“

Die Musik von Max Roach und von Abbey Lincoln spricht eine neue Sprache: Zorn, Wut – eine neue Haltung, die in jedem Ton zu spüren ist. Lincoln schreit, klagt an, fleht, fordert, oft in wortlosem Gesang, wie es ihn im Jazz bis dahin nicht zu hören gab. Das ist auch auf ihrem eigenen nächsten Album zu spüren, „Straight Ahead“, das 1961 für Nat Hentoffs Label Candid Records entsteht – dasselbe Label, für das Roach und Lincoln auch die „Freedom Now Suite“ einspielen können.

Die ersten Jahre des neuen Jahrzehnts waren eine der wichtigsten Phasen im Werk von Roach wie von Lincoln – doch während Roachs Karriere danach relativ beständig weiter läuft, ist bei Lincoln in Sachen Aufnahmen erst mal Pause. 1962 heiraten Roach und sie. Lincoln kehrt im Sommer 1963 für Michael Roemers Film „Nothing But a Man“ vor die Kamera zurück, übernimmt im 1964 erschienenen Film eine Hauptrolle, verkörpert die Tochter eines Priesters aus Alabama, die sich in einen armen Taglöhner verliebt. 1968 übernimmt sie neben Sidney Poitier in der romantischen Komödie „For Love of Ivy“ erneut eine grosse Rolle, dieses Mal spielt sie die Magd einer weissen Familie. Zudem hat Lincoln in den Sechzigern und Siebzigern Gastauftritte in TV-Produktionen.

Doch von vorn: Das dritte Riverside-Album hatte schon einen Wechsel im Ton angedeutet. Roach und seine Combo wurden stärker in die Musik von Abbey Lincoln eingebunden, Oscar Brown Jr. steuerte ein paar Texte bei. Noch bevor im November 1960 die letzte Session für „Abbey Is Blue“, Lincolns letzte für Riverside Records, stattfindet, geht Lincoln am 9. und 10. Oktober mit dem Quintett von Max Roach in die Universal Studios in Chicago und wirkt beim Roach-Album „Moon Faced and Starry Eyed“ mit – auf dem diese neueren Entwicklungen gerade eher nicht zu hören sind.

Die Roach-Combo besteht aus den Turrentine-Brüdern aus Pittsburgh, Trompeter Tommy Turrentine und Tenorsaxophonist Stanley Turrentine, der um dieselbe Zeit eine lange Serie von Blue-Note-Alben aufzunehmen beginnt. Zudem Julian Priester an der Posaune und Bob Boswell am Kontrabass. Ein Klavier gehörte nicht mehr zur Band von Max Roach – nicht mehr seit dem Tod von Richie Powell beim selben Autounfall, der auch Clifford Brown das Leben kostete und Roachs damaliges Quintett über Nacht zum Trio werden liess. Für die Aufnahmen von „Moon Faced“ stiess aber im Studio, wie bei anderen Plattensessions, ein Gast am Klavier zum Quintett. Dieses Mal fiel die Wahl auf Ray Bryant, der zwischen 1956 und 1961 mehrmals mit Roach spielte: „I was just thrilled to be with these guys“, erinnerte er sich 1999, als Ben Young mit Sidemen von Max Roach Gespräche für das Booklet der Mosaic-Box „The Complete Mercury Max Roach Plus Four Sessions“ führte: „I’d catch myself once in a while and say, ‚Is it really me here with Max Roach and Sonny Rollins?'“

Bis 1958 gehen Roach und Lincoln künstlerisch mehrheitlich getrennten Weges, treten zum Beispiel in unterschiedlichen Episoden von Bobby Troups Fernseh-Show „Stars of Jazz“ auf. Oben „Minor Mode Blues“ von Max Roachs Band (Booker Little, Ray Draper, George Coleman und Art Davis). Erst 1959 stösst Lincoln gelegentlich dazu, wenn Roach mit seinem Quintett auftritt – das war dann eben die Gruppe mit den Turrentines und Priester, der kurz davor Ray Draper (Tuba) abgelöst hatte. Bei einem Gig in Pittsburgh war es zu einem Streit gekommen, nach dem Roach seine anderen drei Sidemen feuerte (Litte, Coleman und Davis) und die Turrentines sowie Boswell, der in den frühen Fünfzigern mit einer nie aufgenommenen Band von Billie Holiday getourt ist, führten mit Roach im mittleren Westen die Tour zu Ende, bevor sie ihn nach New York begleiteten. Kaum angekommen, fanden sie sich im Studio wieder, um das Battle of Bands-Album mit Buddy Rich aufzunehmen.

Turrentine und Priester komponierten zusammen auch das 5/4-Stück „Long As You’re Living“, das Lincoln auch für ihr letztes Riverside-Album einspielt – und im Publikum sass zufällig das gesamte Dave Brubeck Quartet, das wenig später mit „Take Five“ einen grossen Hit landete. Komponiert hatte das Stück der Saxophonist Paul Desmond als Feature für den Schlagzeuger der Gruppe, Joe Morello.

Dave Brubeck erinnerte sich 1999 im Gespräch mit Ben Young so: „I do remember that festival in Detroit Max’s group. My recollection is that both groups played some things in different time signatures and that Max and I had a discussion about polyrhythms, odd time signatures, and new directions to explore. Because we were playing thousands of miles apart, different working groups only got a chance to hear each other at festivals like these. […] I have always admired Max Roach and consider him a good friend. Max was developing the concepts of polyrhythms early in his career, as was I. My experiments in odd time signatures go back to the Dave Brubeck Octet in the late ’40s.“

Lincoln äussert sich 1996 im Gespräch mit Sally Plaxson auch dazu und erzählt auch noch einmal die Geschichte der neuen Band mit Julian Priester und den drei Musikern aus Pittsburgh:

Max was the one who introduced the odd meters on an album called – he did jazz in three-quarter time. He’s the one. Max Roach is the greatest drummer the country ever produced and they tried to drive him crazy because he went social. That was the reason. Thelonious. He was the only one of that crowd, just like I was, who went social. What were we talking about, though? Yeah. Odd meter. He introduced five four into the music. Roach and Tommy Turrentine and Stanley Turrentine, Max had fired Julian — no, he hadn’t fired Julian. He fired the trumpet player, Booker Little, and he fired the band in Pittsburgh and he brought Stanley Turrentine and Tommy Turrentine and Bobby Boswell to New York for his band, and I remember they were working in Chicago at the Sutherland Lounge and they were experimenting with five four time. I sang the song that came from that „Long As You’re Living,“ and Dave Brubeck’s band came in one night and heard it. Well, Roach and Tommy — I mean Stanley were having a drunken brawling good time. You know what I mean? Every night, they’d go and get it off, but Dave’s band came and they heard it and they went to the studio and recorded it, but nobody could say that Max Roach or anybody else made up five four time. It comes from all kinds of places.

Doch Moon Faced and Starry Eyed will gar nicht so richtig passen zu solchen Diskussionen darüber, wer nun der erste war, der ein richtig gutes 5/4-Stück spielte (Boswell argumentiert 1999 recht schlüssig, dass das Stück der Roach-Combo viel „integrierter“ sei, bei Brubeck habe man nach dem „head“ ja bloss etwas gerifft, während „Long As You’re Living“ ein richtiges Blues-Stück sei, nicht nur zwei, drei Akkorde, über die dann gerifft wird). Dass nun ausgerechnet Max Roach, der immer „cutting edge“ war, auf der Suche nach Innovationen, ein Balladenalbum herausbringt, konnte wirklich niemand erwarten. So ist „Moon Faced“ quasi eine erweiterte Form des üblichen allabendlichen Balladenfeatures für die ganze Band, wie man es auch von Live-Mitschnitten von Art Blakeys Jazz Messengers kennt oder von unzähligen Jazz at the Philharmonic-Konzerten. Auch Roachs Quintett pflegte diese Balladenfeatures bei ihren Live-Auftritten zu spielen.

Los geht es mit „You’re Mine You“, einem starken Feature für Stanley Turrentine. „Come Rain Or Come Shine“ gehört dann Tommy Turrentine und ist wirklich bezaubernd. In „Wild Is the Wind“ folgt Julian Priester – und was alle drei verbindet, ist eine Art „vokale“ Delivery. In Priesters Features wird das besonders deutlich, er scheint den Ton zu biegen, zu dehnen, scheint buchstäblich zu sprechen, zu singen, zu klagen. „Speak Low“ gehört dann dem Gastpianisten Ray Bryant. Roach spielt auf dem ganzen Album kein einziges Solo und die drei Bläser sind nur auf zwei Stücken gemeinsam zu hören: den Features für den zweiten Gast, Abbey Lincoln.

Auf der B-Seite ist der Ablauf etwas anders: Zum Einstieg spielt Bryant das Titelstück des Albums, dann folgen Priester mit „Never Let Me Go“ und Stanley Turrentine mit „Namely You“, bevor an vierter Stelle Lincolns zweites Stück erklingt, „Never Leave Me“. Den Ausklang macht dann das zweite Feature für Tommy Turrentine, der in „You’re My Thrill“ erneut mit Dämpfer spielt und zum Abschluss einen weiteren Glanzpunkt setzt.

Für die erwähnte Mosaic-Box (erschienen 2000) wurden von dieser Session ganze zwölf Alternate Takes ausgegraben und veröffentlicht (zusammen mit fünf von der Battle mit Buddy Rich füllen sie eine eigene CD), darunter auch je ein früherer Take der Lincoln-Features. Von „I Concentrate on You“ wurde Take 4 zum Master, Take 2 erschein als Bonustrack, bei „Never Leave Me“ wurde Take 6 zum Master, Take 4 als Bonustrack nachgereicht. Der Ablauf der beiden Stücke mit Lincoln erinnert an die typischen Sessions, wie Billie Holiday sie in den Fünfzigern mit kleinen Combos machte: Gesang zum Einstieg und zum Ausklang, dazwischen ein paar instrumentale Soli. Unprätentiös, direkt. Dass Holiday ein wichtiger Einfluss von Lincoln war, ist bekannt. Max Roach hatte nicht nur Holiday sondern auch ihr musikalisches Alter Ego, den Tenorsaxophonisten Lester Young, bewundert. Diesen besuchte er noch in den letzten Tagen vor seinem Tod am 15. März 1959 im Alvin Hotel in New York. Holiday starb am 17. Juli 1959 und vier Tage später nahm Roach für sein nächstes Album, „Quiet as It’s Kept“, Leon Mitchells Holiday-Tribute „To Lady“ auf (das Album entstand mit demselben Quintett, ohne Bryant und Lincoln).

I really noticed a difference in Abbey, the way she changed her things around when she met Max. When I first met her, she was doing the supper-club circuit. You know, with the sleek gowns and the long hair and stuff. Then, when she got with Max, she got the Afro and a different sort of dress completely, you know.

~ Ray Bryant, 1999

Diese Lincoln ist auf „Moon Faced“ nicht direct zu hören – die Stücke wirken vordergründig gar nicht weit weg von ihren früheren Aufnahmen oder gar den Supper Clubs. Doch als Widmungen an Holiday und überhaupt bei genauerem Hinhören zeigen sie schon, dass Lincoln an einem anderen Ort angelangt war. „Never Leave Me“ ist mit fast sieben Minuten das längste, „I Concentrate on You“ das zweitlängste Stück des Albums und als die einzigen mit der ganzen Band bilden sie auch den Kern des Albums, zu dessen Höhepunkten sie unbedingt gehören.

In New York trifft Lincoln auch auf Oscar Brown Jr. Brown hatte Lincoln in Chicago gehört, als sie im Black Orchid auftrat (über das gemäss Wikipedia im Juli 1959 ein Konkursverfahren eröffnet wurde: „Roach came to Chicago to work and also met Oscar and they decided to write this piece, ‚The Freedom Now Suite.'“

The daunting aesthetic departure of the great We Insist! Freedom Now Suite (Candid, 1960) and It’s Time (Impulse!, 1962) were clearly inspired by the whole context of the real world in which everyone lives-even though it pays to claim it doesn’t even exist.

~ Amiri Baraka (aus: „Digging“)

Im Spätsommer 1960 entsteht daraus eins der wichtigsten Alben des Jazz. Das Trio aus Max Roach, Abbey Lincoln und Oscar Brown Jr. legt mit We Insist! Max Roach’s – Freedom Now Suite ein Meisterwerk vor, das nur auf dem kleinen Label Candid Records, gegründet vom Kritiker Nat Hentoff, erscheinen konnte. Hier kommt so viel zusammen, dass es nicht leicht, die passenden Worte zu finden. Über dem Album schwebt der Geist der Sit-Ins (vgl. das Cover) und der Bürgerrechtsbewegung, für die Roach, Brown und Lincoln sich engagierten. Work Songs; Percussion-Ensembles mit afrikanischen Trommeln und Rhythmen, über die Lincoln die Namen von afrikanischen Stämmen chantet; im Opener das in Solo des Veteranen und „Erfinders“ des Tenorsaxophon Coleman Hawkins, von einer mitreissenden Stringenz; die quecksilbrige und dennoch sehr lyrische Bebop-Trompete des Rückkehrers Booker Little; die rhythmischen Experimente von Roach in Sachen Jazz (der Opener mit Hawkins ist ein 5/4-Stück) und afrikanische Rhythmen; und über allem die unglaubliche Stimme von Abbey Lincoln, die klagt, anklagt, fordert, fleht, zürnt, aus der Trauer und Wut gleichermassen zu sprechen scheinen. „We Insist!“ ist nichts weniger als ein Meilenstein der Jazzgeschichte.

Im Interview mit Sally Plaxson aus dem Jahr 1996 (die seltsame Schreibweise von Hentoffs Name habe ich korrigiert):

… well, we had been performing the „Freedom Now Suite.“ We hadn’t recorded it yet, and we were getting a reputation for being loony. They said we were both crazy. I had written a lyric called „In the Red“. „No account, bank account, can’t raise a dime, can’t pay the bills I got on time,“ and Roach set it to music. He said it was the blues, but it was abstract, you know. All this material and Nat Hentoff came for us and offered Max the chance to record „Freedom Now Suite“

Irgendwann bei der Arbeit an der Musik trennen sich die Wege von Roach und Brown:

They got to a certain point and they couldn’t agree on how to proceed with it. So, Max wrote „Prayer, Protest, and Peace,“ and I didn’t have any trouble with „Prayer,“ but I had a hard time with „Protest“ because I had never screamed before in my life. I never heard my mother scream or any of my sisters scream. If anybody came for your life, you’d take something to defend yourself and you didn’t scream. You were too busy trying to knock somebody out, right? So, Roach knew I didn’t know how to scream. So, we were on our way to a job and my little nephew was in the car. He was only eight, and he loved Max and Max loved him, too. „Darryl, scream for Abby because she can’t scream“ and Darryl screamed and Max was about to say something and Darryl said, „But wait a minute, Uncle Maxie, the reason I can scream louder than Aunt Abby is because I’m a little boy and babies can scream louder than me and Aunt Abby can scream louder than you,“ and for the first time I understood what screaming was. It’s for a woman’s protection, and I started screaming. Mm-hmm. Sometimes really brilliant insights come from a child’s mouth. They’re innocent and they know things, too. Yeah. He explained it very simply.

Julian Priester an der Posaune ist das einzige Bandmitglied, das vom letzten Line-Up noch übrig ist. Booker Little an der Trompete kehrt zurück. Neu dabei sind Walter Benton am Tenorsaxophon und James Schenk am Kontrabass. Zusätzlich wirkt auf dem Opener Coleman Hawkins mit, auf der B-Seite dann die Percussionisten Michael Babatunde Olatunji, Raymond Mantilla und Tomas du Vall.

„Driva Man“ beginnt als eine Art Work Song im Rubato mit Tamburin und Abbey Lincoln. Dann steigt die Band ein, eine klagende Bläserlinie über einen rollenden 5/4-Groove. Und dann: Coleman Hawkins. Er spielt ein grossartiges Solo, das vollkommen stringent wirkt, jede Phrase wirkt wie eine vollkommen logische, ja zwingende Fortschreibung der vorhergehenden – vielleicht holt er sich hier von Sonny Rollins etwas zurück, zwei Jahre bevor die beiden aufeinandertreffen sollten. Mit dem 5/4-Takt nicht vertraut, markiert der zurückhaltend agierende Roach ihm die Eins stets mit einem harten Schlag auf den Rahmen der kleinen Trommel. Lincoln erzählt 1996: „I remember Coleman Hawkins saying when we did ‚Driva‘ Man‘ in five four time, he said to me, ‚You hear that, don’t you?‘ I said, ‚Yeah.‘ He didn’t hear it. , Max would accent the first one …“ Der trocken gespielte Bass von Schenk ist zunächst die einzige Begleitung, dann stossen die drei Bläser des Quintetts dazu. Hawkins schaltet einen Gang höher gerade, als die Bläser ihren ersten Einsatz beenden. Dann quietsch ein Ton, doch das macht nichts – besser als dieses Solo geht nicht, da macht man keinen neuen Take! Gerade vor die Bläser wieder einsteigen, schaltet Hawkins in den nächsten Gang, verdichtet noch einmal, während er die Spannung hält, aber die Intensität eher schon etwas herunterschraubt. Und dann wieder Lincoln, jetzt im festen Tempo mit Tambourin und Schenks walkendem Bass. Wow! Ich finde diesen Einstieg so stark, dass ich das Album meistens gar nicht gleich am Stück hören sondern erstmal den Opener ein paar Male wiederholen muss.

Ein kurzes Motiv auf den Becken öffnet „Freedom Day“: und kaum steigen die Bläser ein, wird klar, dass Roach hier bereits das einfach Stotterthema aus zwei Tönen vorgestellt hat. Lincoln übernimmt, der Bass walkt in rasendem Tempo, während Walter Benton hinter Lincoln leise verschnörkelte Linien spielt, als gäbe es nichts einfacheres. Ein Intermezzo im halben oder eher Vierteltempo folgt, dann kriegen Booker Litte, Benton und zuletzt Julian Priester nacheinander die Chance, ihr Können zu zeigen. Das Trompetensolo hat etwas von einer Klage, während Benton etwas robuster wirkt, ein wenig an einen seiner Vorgänger in der Gruppe von Roach erinnert, Harold Land. Priester lässt seine Posaune dann wieder sehr stimmhaft erklingen, wagt ein paar Doppelzungenschläge, klingt auch in den Dissonanzen mit dem Bass und den anderen Bläsern sehr frei. Dann trommelt Roach eins seiner Soli – ohne Kontrabass, mit durchgedrücktem Rücken, eine Mischung als Marschieren und Tanzen: ein Schlagzeugsolo mit Haltung. Die Bläser führen die Themenrekapitulation ein.

Am Ende von Seite 1 steht „Trypich: Prayer / Protest / Peace“ – hier fehlt Browns Name, Roach hat das Stück als Duo für Lincolns Stimme, die wortlos zum Einsatz kommt kommt, und sein Schlagzeug konzipiert. Was Lincoln hier bietet, stellt so ziemlich alles im Jazzgesang bis dahin gehörte in den Schatten. Lincoln schafft in „Prayer“ eine berührend intime Stimmung, die ich im Jazz nur selten höre – mich erinnert sie an „Come Sunday“ aus Duke Ellingtons „Black, Brown & Beige“. Dann folgt „Protest“, und hier schreit Lincoln sich die Seele aus dem Leib: die Intimität bleibt, doch die Stimmung ist eine vollkommen andere – und Roach explodiert mit ihr. In „Peace“, dem dritten Teil, spielt Roach dann einen seiner für die Zeit so typischen sparsamen Grooves, den er aber ständig anders ausschmückt. Hier findet gewissermassen eine Synthese statt. Die Melodien sind nicht unähnlich denen in „Prayer“, aber das Wissen, dass da eben nicht nur ein Gebet ist, sondern auch ein Aufbegehren, ein Ausbrechen, verändert alles. Dieser Satz könnte vielleicht auch als Zwischenfazit für den Stand von Lincolns Karriere als Sängerin wenig später stehen, als sie und Roach heiraten und die Zeit als Sängerin für Abbey Lincoln erst einmal zu Ende zu gehen scheint.

Auf der zweiten Seite des Albums finden sich zwei längere Stücke. „All Africa“ ist das dritte, das Roach zusammen mit Oscar Brown Jr. komponiert hat. Es ist eine Ode an den „Beat“, den afrikanischen Beat, den ersten Beat: „They say it began with a chant and a hum / And a Black hand laid on a native drum“. Lincoln chantet den Text nur über sparsame Percussionbegleitung – ich vermute Olatunji, der eine Trommel namens „Apesi“ spielt, die aus einem Baumstamm geschnitzt sei, so die Liner Notes. Dann setzt die Band ein, Littles klagende Trompete schwebt hinter und über dem Gesang: jetzt zählt Lincoln die Namen von Tribes aus verschiedenen Regionen des afrikanischen Kontinents auf, Olatunji antwortet, gemäss den Liner Notes mit „a saying of each tribe concerning freedom – generally in his own Yoruba dialect“. Die Band setzt dann in der zweiten Hälfte wieder aus, jetzt ist ein Percussion-Dialog zu hören zwischen Roach am Drumkit, und den drei Gästen an diversen Trommeln und weiteren Percussion-Instrumenten. Da kündet sich bereits die Trommelband M’Boom an, die Max Roach ein paar Jahre später gründen sollte. Und natürlich werden auch Erinnerungen an die Drum-Sessions von Art Blakey wach, doch wirkt das hier deutlich fokussierter und auch viel kompakter als die ausufernden Jams, die Blakey aufgenommen hat.

Als Closer erklingt dann das mit fast zehn Minuten Dauer längste Stück des Albums, „Tears for Johannesburg“ von Roach. Hentoff in den Liner Notes: „TEARS FOR JOHANNESBURG sums up, in large sense, what the players and singers on this album are trying to communicate. There is still incredible and bloody cruelty against Africans, as in the Sharpeville massacre of South Africa. But, as the soloists indicate after Abbey’s wounding threnody, there will be no stopping the grasp for freedom everywhere.“ Lincoln singt wieder ohne Worte über ein 5/4-Riff von Jimmy Schenks Bass, ihre Stimme klingt auf dem ganzen Album völlig offen, stark und klar. Die Percussionisten setzen ein, eine allmähliche Verdichtung ergibt sich, dann übernehmen die Little und Benton, leicht dissonant und wie Lincoln davor in klagendem Ton. Dann setzt Little zu einem weiteren seiner so traurig-jubilierenden Soli an – ein Tonfall, der ihm völlig eigen ist und zu Roachs Musik dieser Zeit hervorragend passt. Ein Glück, dass er noch einmal zu Roach fand, bevor sein Leben viel zu früh zu Ende war. Benton spielt dann ebenfalls ein starkes Solo, während Priester hinter ihm vokale Riffs spielt, die ein wenig an die Musik von Charles Mingus erinnern – und gesellt sich zu den vielen Jazzmusikern aus dieser goldenen Ära, bei denen wir uns heute wundern können, warum sie nicht viel bekannter wurden, nicht viel mehr Aufnahmen hinterlassen haben. Priester folgt, ebenfalls nachdenklich, mit offenen Phrasen, die stellenweise fast so logisch wirken wie die von Coleman Hawkins in der ersten Improvisation des Albums. Die letzten paar Minuten gehören dann einmal mehr den Drummern, deren Rhythmen sich ineinander verzahnen. Schenk setzt dann wieder ein, während sich ein unglaublicher Groove etabliert, über den die Bläser dann das Thema wiederholen, die Bläser scheren noch etwas auch, auch sie im Kollektiv über den weiter improvisierenden Trommeln. So endet dieses Album in einem versöhnlichen Groove, in dem für alle Platz ist – nur die Sängerin taucht nicht noch einmal auf.

Driva‘ Man
(Oscar Brown, Jr.)

Driva‘ Man he made a life
But the Mamie ain’t his wife
Choppin‘ cotton don’t be slow
Better finish out your row
Keep a movin‘ with that plow
Driva‘ man’ll show ya how
Git to work and root that stump
Driva‘ man’ll make ya jump

Better make your hammer ring
Driva‘ man’ll start to swing
Ain’t but two things on my mind
Driva‘ man an‘ quittin‘ time

Driva‘ man de kind of boss
Ride a man and lead a horse
When his cat ‚o nine tail fly
You’d be happy just to die
Runaway and you’ll be found
By his big old red bone hound
Pater oller bring your back
Make you sorry you is black

Freedom Day
(Oscar Brown, Jr.)

Whisper, listen, whisper, listen
Whisper, say we’re free
Rumors flyin‘, must be lyin‘
Can it really be?
Can’t conceive it, can’t believe it
But that’s what they say
Slave no longer, slave no longer
This is Freedom Day

Freedom Day, it’s Freedom Day
Throw those shackle n‘ chains away
Everybody that I see
Says it’s really true, we’re free

Freedom Day, it’s Freedom Day
Free to vote and earn my pay
Dim my path and hide the way
But we’ve made it Freedom Day

All Africa
(Oscar Brown Jr.

The beat has a rich and magnificent history
Full of adventure, excitement, and mystery
Some of it bitter, and some of it sweet
But all of it part of the beat, the beat, the beat
They say it began with a chant and a hum
And a Black hand laid on a native drum

Bantu, Zulu, Watusi, Ashanti, Herero, Grebo, Ibo, Masuto, Nyasa, Ndumbo, Umunda, Bobo, Kongo, Hobo, Kikuyu, Bahutu, Mossi, Kisii (Kissi/Kisi), Mbangi, Jahomi, Fongo, Bandjoun, Bassa, Yoruba, Gola, Ila, Mandingo, Mangbetu, Yosee, Bali, Angoli, Biombii, Mbole, Malinke, Mende, Masai, Masai, Masai

Zur Vorgeschichte von Roach und Lincoln auf Candid gehören auch die Newport Rebels. Im Sommer 1960 stellte Charles Mingus mit Gleichgesinnten eine Art Gegenfestival zum Grossanlass statt, zu dem George Wein jeden Sommer die New Yorker Jazz-Schickeria lud. Mingus trommelte Gleichgesinnte wie Max Roach oder Eric Dolphy zusammen, konnte aber auch ein paar ältere Musiker wie Roy Eldridge oder Jo Jones gewinnen. Das Gegenfestival fand unter dem Banner der „Jazz Artists Guild“ in Cliff Walk Manor statt und wurde nicht wiederholt – der Erfolg hielt sich in Grenzen.

Doch im Herbst des Jahres, als Mingus wie auch Roach für Nat Hentoffs neues (ebenfalls kurzlebiges) Label Candid Aufnahmen machten, wurden auch die Newport Rebels im Studio dokumentiert. Das faszinierendste Ergebnis war eine Session von Roy Eldridge mit Tommy Flanagan, Mingus und Jones, zu der für einzelne Stücke auch Mingus‘ Sidemen Jimmy Knepper und Eric Dolphy stiessen. Drei Stücke dieser Formation (zwei davon im Quartett) machen den grösseren Teil der LP aus, die 1961 herauskam. Für meine Ohren zählen diese Aufnahmen zu den Höhepunkten der Diskographie von Roy Eldridge (auf der anderen Various Artists-Scheibe von Candid, „Jazz Life“, und später auf den Mingus-CDs „Reincarnation of a Love Bird“ und „Mysterious Blues“ sind noch ein paar weitere Stücke und Alternate Takes erschienen).

Jones und Roach sind in „Cliff Walk“ zusammen zu hören, in einer Combo mit Roachs damaliger Band zu der noch immer Booker Little (t), Julian Priester (tb) und Walter Benton (ts) gehörten, sowie ein neuer Bassist, Peck Morrison.

Das letzte Stück – auf Seite B zwischen den zwei Eldridge/Mingus-Quartetten programmiert, steuerte Abbey Lincoln bei, zusammen mit Benny Bailey (t), Dolphy (as), Kenny Dorham (p), Morrison (b) und Jones (d): „Ain’t Nobody’s Business If I Do“. Lincoln hatte das Stück schon 1958 für ihr zweites Album in einem raffinierten Arrangement von Benny Golson eingespielt, doch auf dieser neuen Version ist sie an einem ganz anderen Ort, weiss ihre Stimme viel souveräner einzusetzen. Hentoff in den Liner Notes: „Also at Cliff Walk was Abbey Lincoln, who in the past year has broken completely free of her former image as a sultry supper club puppet and is now bitingly, boldly herself. Her pungent, proudly self-assertive TAIN’T NOBODY’S BIZNESS here is one of her freest performances on record“. Dolphy spielt ein lockeres Intro, dann steigt Lincoln ein und wird dabei zunächst von Benny Bailey und dann wieder von Dolphy begleitet. Dorhams Klavierbegleitung ist etwas seltsam, die Band wirkt von Dolphy abgesehen etwas steif, Bailey spielt dann aber ein ganz schönes Solo, gefolgt von Dolphy, dem zu der Zeit sowieso alles zu gelingen scheint. Lincolns neu gefundene Selbstsicherheit ist auf dem Stück sehr schön zu hören – das ist nicht annähernd so anspruchsvoll wie die Musik, die sie bei der „Freedom Now Suite“ zu singen hatte oder dem Material, das sie im Januar 1961 für ihr eigenes Candid-Album zusammenstellte – und dennoch ist das eine feine Aufnahme, die gerade im Vergleich mit der früheren Version ihren Aufbruch, ihre Entwicklung deutlich macht.

Auf der CD Candid Dolphy, die 1989 erstmals herauskam und ein paar Alternate Takes von Sessions mit Dolphy (neben dem grandiosen „Stormy Weather“ vom Album „Mingus“ und einem von „Out Front“, dem Candid-Album des Trompeters) versammelt, ist ein zweiter Take von „Ain’t Nobody’s Business“ zu finden, der eine halbe Minute länger dauert. (Für mich beim direkten Nacheinanderhören gerade eine krasse Demonstration dafür, wie viel besser die aktuellen japanischen Mono-CDs im Vergleich mit älteren Ausgaben klingen, wie sie mir von „Candid Dolphy“ vorliegt, eine CD von da Music aus dem Jahr 1989 um genau zu sein). Die CD enthält auch einen Alternate Take von „African Lady“, dem Randy Weston/Langston Hughes-Stück, das Lincoln ein paar Monate später für ihr Candid-Album einspielte.

Lincoln hat sich im Gespräch von 1996 auch über das alternative Festival in Cliff Walk Manor geäussert und gibt da ein paar Einblicke, wie man sie nicht oft kriegen kann, darum auch wieder ein längerer Auszug (ein paar Schreibweisen von Namen habe ich bereinigt):

SALLY PLAXSON: When you talked about your manager not – well, not – telling you there was a dressing room when there wasn’t, what about all these layers of management and representation? I was also going to touch on something in the ’60s. Was part of that move of civil rights in terms of the music – I read something about some of the musicians, like Max ad Papa Joe and Mingus, were trying to, especially around one of the Newport Festivals – are you – do you know what –

ABBEY LINCOLN: Yeah. I was there.

SALLY PLAXSON: You were there? Yeah. What was that? They were – the pay wasn’t good enough and they were –

ABBEY LINCOLN: They were fussing at George Wein.

SALLY PLAXSON: They were what?

ABBEY LINCOLN: They were fussing at George Wein.

SALLY PLAXSON: They were trying to start an argument?

ABBEY LINCOLN: Well, George is only human. He’s got a certain group of people he likes. He doesn’t like everybody. They didn’t care that much for George either, but they wanted him to give them a job. Anyway, we have it on tape. We were all a bunch of bandits then, Roach and Charles Mingus and –

SALLY PLAXSON: Papa Jo?

ABBEY LINCOLN: Yeah. Well, he was – he loved Max. There were a bunch of people. That’s the first time I sang „Triptic“ was at this festival, and we were all sick and crazy. That’s true. We were in and out of the hospital. Mingus was bonkers, so was Roach. Philly Joe Jones. Papa Jo Jones was incensed because of his behavior. So, it was like that, you know.

A bunch of folks, but Roach was the – Max was the hub or the wheel, you know. We had done something at the East 74th Street Theater, but we didn’t have enough peace amongst us. You have to really have peace and understanding to do something original, to bring something new. We were all crazy. I mean, we were too crazy to change things. Frail, you know. We all had our problems. So, we would go from the theater to the hospital and come and get Roach in a straitjacket. You know what I mean? Mingus.

A lot of folks. Monk. It wasn’t easy because they make things difficult for us, so that we will abandon the music. People in other forms don’t have to go through all this stress and strain. It’s knowing that they’re being discriminated against and somebody else isn’t.

Do you know what it did to us when they sent the Beatles over here and told us they were paying them a $100,000 a night?

SALLY PLAXSON: I was just going to ask that.

ABBEY LINCOLN: And here we were working for – Miles was making $5,000 a week and he was supposed to be one of the privileged ones. $3,000 a week was good money. This is what they dumped on us, and then after awhile, folks started crossing the barriers and using electricity. People who really knew how to bring this musical form, who were selling out, so they could make some money.

But I think if you are born to the arts, you’re not supposed to be influenced by such things. If I wanted some money, I wouldn’t have come to this musical form. I’ve have kept right on doing what I was doing if I wanted some money. I’d have sold my booty like everybody else. You know what I mean? But I took another position. I don’t miss money. What are you going to do with it anyway? If I had a pile of money, there would be a center in Harlem for the music. Mm-hmm.

I don’t want none of that garbage around me. I didn’t ask God for any money. I’d like the world. I really would. I’d like it for all of us, a place where we could be happy and nobody has to worry about not having anything and people don’t hurt each other. I would, but I’d never made a world, so what would I know? It probably wouldn’t work out anyway.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba