Re: Sterne an Thomas Bernhard

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irrlicht
Nihil

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PatrikTrollEinfach zum Dussmann gehen, das gewünschte Buch aus dem Regal nehmen und mal zwei Seiten lesen – voilá. Auch kein Unterschied zum Hören irgendeines Songs auf irgendeiner LP, auf der noch vierzehn weitere drauf sind – da kann die „Qualität“, wie wir aus den Song-Sternethreads wissen, ja auch erheblich schwanken. Es gibt genug Platten, die man 5x hören muss, bevor es zündet. Das ist also kein Argument, von wegen „Eindruck schnell gefestigt“. Und Bücher, ja sogar Autoren haben sehr wohl auch „einheitliche Stimmungen“ bzw. überhaupt eine Grundstimmung. Notfalls eben 200 Seiten vorblättern und nochmals zwei Seiten lesen bzw. einen weiteren Song der LP anspielen.

Nja. Allerdings sind geschriebene Worte deutlich verwinkelter und auch nicht ganz so unmittelbar, wie das, was sich bei Musik, noch an Ton und ggf. Bild dazugesellt. Natürlich gibt es Konzeptalben, natürlich ist nicht jeder Song sofort erschlossen, natürlich kann man oft schon nach der ersten Seite den Erzählstil, die Sprache, die Farb- und Formvielfalt erkennen – natürlich! Aber Bücher sind nunmal kein Argument für 3:30, Geschichten lassen sich nicht kurz nach zwei Seiten et voilá goutieren, bei Literatur gibt es in vielen Fällen die Art der Vorahnung (Spannung!) nicht schmackhaft für die Mittagspause vorserviert. Was ja auch den eigentlichen Reiz ausmacht. Kurz: Literatur ist weitaus mehr phantastisch.

PatrikTrollEs geht hier ja darum, festzuhalten, wie gut resp. nicht gut einem etwas gefällt – und das funktioniert bei Büchern genauso wie bei Filmen oder LPs oder von mir aus Eissorten im Eiscafé Deiner Wahl.[…]Das eine gefällt einem, das andere eben weniger – oder bestenfalls gefällt eben alles.

Du hast wesentliche Punkte ja bereits genannt – ich ergänze aber noch um den Zeitfaktor, der für mich wesentlich ist. Nehmen wir mal an, Du bewertest jetzt direkt „Krieg und Frieden“ salopp mit schlanken drei Sternen. Ein klares Gesamturteil. Was denkt der Leser: Gefiel dem ollen Troll nicht. Warum? Schwer zu sagen. Nachprüfen? O tausensiebenhundert Seiten, nahezu.

Bei einem Song kann man anders vorgehen, ich höre ein, habe nach kurzer Zeit eine Ahnung – aber seien wir ehrlich: Was hat man hier nach dem Lesen von, ich erhöhe, gar zehn Seiten? C’mon.

Natürlich ein Extrembeispiel, gilt aber für unzählige andere Werke auch. Gerade im Kanon der Literatur, bei der nicht schon die erste Seite zeigt, dass schon nach der ersten Zeile alles gesagt ist.

nerea87Nicht so zaghaft!
Was wertet man denn? Das Buch als ganzes (ich weiß, es gibt hier auch Spezis, die besternen schon, wenn sie das Buchcover angeschaut haben). Und dann ist es beispielsweise ein Kriterium, wieviele unnötige Sätze enthalten sind. Für mich ist es ein Kennzeichen eines sehr guten Buches, wenn dort keinerlei Gramm Fett zu finden ist und jede Faser der „Geschichte“ dient[…]Gerade für die Beurteilung von Literatur gibt es doch vielfältige Kriterien, die oft unproblematischer objektivierbar sind, als die für die Beurteilung von Musik üblicherweise herangezogenen. Außerdem sollte man auf diese Besternerei nicht allzuviel geben, das ist doch meist kaum mehr als ein spassiger Zeitvertreib.

Ja, unbedingt, das will ich auch gar nicht abstreiten. Natürlich kann man auch Bücher bewerten. Man legt sie zur Seite, horcht, was Bauch und Kopf gemeinsam erbrüten und vergleicht mit anderem; der entscheidende Punkt ist hier für mich allerdings, dass Bücher in ihrer Stimmung ganz anders schwanken und pendeln, als es Musik je tun könnte, zumindest die meiste. Wenn ich das veranschauliche: Selbst bei meinen Lieblingen zeigen sich Stellen, die überlang werden, die mich vielleicht sogar unruhig auf die Uhr sehen lassen, weil ich endlich wieder zur Haupthandlung, zum Essentiellen zurück will, aber dann finden sich wieder Stellen, die nicht nur Melancholie ins Herz treiben, sondern es kurzerhand aus der Brust reißen. Da gilt es dann aufzuwiegen – ich kann es schlicht nicht. Ich kann es – um die Brücke zu schlagen – allerdings auch bei klassischer Musik nicht wirklich. Weil mir dieses riesige geschichtliche Mosaik einfach zu vielfältig ist. Und ja, mir ist vieles in der Kunst zu wichtig und lebensnah, als dass ich daraus auf brich oder stirb einen „spassigen Zeitvertreib“ durchexerzieren müsste.

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Hold on Magnolia to that great highway moon