Antwort auf: Merry Christmas – Die besten Tracks zum Weihnachtsfest

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herr-rossi
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Das Rätsel der nicht existierenden deutschsprachigen Weihnachts-Popsongs/Schlager

Ich bin ganz sicher nicht der Erste, der sich darüber Gedanken gemacht hat, das ist ein ebenso dankbares Thema für Kulturanthropologen/Europäische Ethnologen (fka Volkskundler) wie Musikwissenschaftler, aber beim Betrachten der aktuellen globalen Weihnachtscharts fiel mir auf, dass es deutschsprachigen Weihnachts-Popsongs bzw. -Schlager nicht gibt. Also es gab und gibt sie schon, aber kaum einer ist je ein Hit gewesen oder gar zum Allgemeingut geworden wie etwa „Jingle Bell Rock“ oder „Last Christmas“. Die Wikipedia-Liste, die man praktischerweise auch chronologisch sortieren kann, bestätigt das:

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_deutschsprachiger_Weihnachtslieder

Ich hab dabei nach dem Datum des Textes sortiert, die Melodien sind ja in manchen Fällen deutlich älter.

Wenn ich mal nur die bis heute bekanntesten Weihnachtslieder betrachte, dann ist das früheste von einem Herrn, der auch zwei, drei andere Dinge getan hat:

Martin Luther: Vom Himmel hoch, da komm ich her (1535/39)

Das ist quasi der Urknall des deutschen Weihnachtsliedes. So richtig los ging es mit dem Genre allerdings erst unmittelbar nach dem Wiener Kongress (1815) mit der Restauration der Fürstenmacht in Deutschland. Das Bürgertum zog sich ins Private zurück und machte es sich zu Hause kuschelig, Stichwort Biedermeier.

In dieser Zeit entstehen die meisten noch explizit christlichen Weihnachtsklassiker:

Trad. (Sizilien)/Johannes Daniel Falk u. Heinrich Holzschuher: O du fröliche (1816/29)
Franz Xaver Gruber/Joseph Mohr: Stille Nacht, heilige Nacht (1816/22)
Friedrich Wilhelm Krintzinger: Süßer die Glocken nie klingen (1826)
Friedrich Silcher/Wilhelm Hey: Alle Jahre wieder (1837)
Trad. (Böhmen)/Joseph Hermann Mohr: Kommet, ihr Hirten (1870)

… und auch die ersten säkularisierten Weihnachtslieder, die sich um das Familienfest ranken:

August Zarnack/Ernst Anschütz: O Tannenbaum (1819/24)
Trad. (Frankreich)/August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Morgen kommt der Weihnachtsmann (1835)
Karl Enslin: Kling, Glöckchen, klingelingeling (1854)
Trad./Eduard Ebel: Leise rieselt der Schnee (1895)

Der bis heute gültige Kanon ist also seit Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend geschlossen. Im 20. Jahrhundert bringt es nur ein einziges neues Kirchenlied zu einiger Popularität, bezieht sich allerdings auf das Fest Heilige Drei Könige:

Alfred Hans Zoller: Stern über Bethlehem (1963)

Der deutsche Schlager hat in seiner großen Zeit der Sechziger und Siebziger Jahre zum Thema Weihnachtsklassiker überraschenderweise nichts Neues beigetragen, auch wenn alle Größen dieser Zeit mindestens ein Weihnachtsalbum aufgenommen haben.

Der einzige ernstzunehmende und ernstgemeinte Versuch eines deutschen Weihnachts-Popsongs kam gegen Ende der sogenannten Neuen Deutschen Welle mit diesem Hit:

Trio – Turaluraluralu (Ich mach BuBu, was machst du) (1983)

… konnte sich aber nicht dauerhaft etablieren. Auf YouTube kommt der Song nicht einmal, wenn man alle privat eingestellten Clips zusammenzählt (einen offiziellen Trio-Kanal gibt es nicht), auf eine halbe Million Klicks. Das ist in diesem Zusammenhang quasi nichts.

Der einzige wirkliche Festklassiker des 20. Jahrhunderts, das muss man dem Urheber lassen, ist ein Kinderlied:

Rolf Zuckowski – In der Weihnachtsbäckerei (1987)

54 Mio. Klicks auf YouTube, dazu noch die Otto-Version mit 9 Mio. Man muss aber auch sagen: Wer aus dem Vorschulalter raus ist, will das nie wieder freiwillig hören …

Einige Popularität hat bei Millenials schließlich noch ein parodistischer Song, den ich Beinahe-Boomer heute zum ersten Mal gehört habe. Aber immerhin, 14 Mio. Klicks auf YT, und wird in den Kommentaren noch heute „gefeiert“, wie die Zielgruppe das zu nennen pflegt:

Sido – Weihnachtssong (2003)

Hab ich was übersehen?

Und hat jemand eine Idee, warum das alles so ist?

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