Antwort auf: The Sound of Japan

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peterjoshua

Registriert seit: 16.07.2002

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Mein jüngster Blog auf „Tokyo – On The Record“ beschäftigt sich mit der Plattenladenkette disk union — und manchem mehr. Habe den Text hier auch einkopiert. Auch der Seite selbst gibt es aber auch ein paar Bildchen.

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In Tokio lebt man eher senkrecht. Mal abgesehen von den zahlreichen Hochhäusern: Auch viele normalhohe Gebäude – sagen wir mal: vier- bis achtstöckige – sind grotesk schmal. Diese Streichholzbauten finden sich hier allerorts, besonders häufig an spitzen Straßenecken oder eingezwängt zwischen breiteren Gebäuden. Jeder Meter Straßenfront muss hier genutzt, sprich: versilbert werden.

Da sich in Tokio bekanntlich in oberen Etagen auch köstliche Gastronomie und ansprechender Einzelhandel niederlässt, muss ich mitunter enge Treppen in diesen Spargelgebäuden erklimmen, um meiner Plattensammelleidenschaft frönen zu können. Der Himalaya meiner Vinylsammelwut ist diskunion. Nun hat man dessen Gipfel über Tokio verteilt. Vor allem in einem Block unweit des Bahnhofs Shinjuku, des meistgenutzten Bahnhofs der Welt – auf den Plätzen 2, 3, 6, 8, 9 und 10: andere Tokioter Bahnhöfe; auf den weiteren Top-10-Plätzen: andere japanische Bahnhöfe; unter den Top 50 sind überhaupt nur fünf nicht-japanische Bahnhöfe – finden sich entscheidende Filialen, mindestens fünf an der Zahl. Die meisten davon sind auf mehrere Stockwerke solcher anorexischen Funktionsbauten verteilt. In diesen nehmen schmalste Treppenhäuser und hoch betagte Fahrstühle geschätzt bereits ein knappes Drittel der Grundfläche ein. Die darob knappe Ladenfläche ist rappelvollgestellt. Das Publikum muss sich daher nicht selten wetten-dass-tauglich artistisch verrenken, um aneinander vorbei und an die ersehnte Ware zu gelangen. Wer überdies die altersschwachen Lifte meidet und die Treppen bis in die oberen Stockwerke erklimmt, beendet seine Exkursionen nicht selten schweißgebadet – und ob der Funde doch selig lächelnd.

Nun ist nicht nur der Aufstieg zu diesen Hochalmen des Vinylisten mühsam. Es fällt auch schwer zu ermitteln, auf welcher Alm welches goldene Kalb verborgen ist. Denn wo schwarzes Gold welchen Genres angeboten wird, will sich mir bei allem guten Willen und trotz zahlreicher selbstloser Erkundungen des Terrains nicht erschließen. Es gibt mindestens zwei Bereiche für japanische Musik in den Basements zweier verschiedener und doch dicht beieinander gelegener Gebäude. Es gibt in einem Gebäude eine Etage für Progressive Rock und eine für Independent und Alternative. In einem anderen, unweit gelegenen finden sich aus beiden Genres wiederum zahlreiche Exponate. Es gibt irgendwo eine Abteilung für Heavy Metal und Hard Rock und im Gebäude gleich gegenüber – verborgen im nur über einen versteckten Fahrstuhl erreichbaren fünften und sechsten Stock – Rock und dergleichen mit Fächern für Bands, die auch in der Heavy-Metal-Etage vertreten sind. Kurz: Es ist verwirrend. Ich nehme an, frisch eingekaufte Gebrauchtware wird auf die Filialen schlicht nach freier Stellfläche verteilt. Das ist nur vordergründig unpraktisch, liefert es doch eine willkommene Rechtfertigung, jede Filiale in geringen Abständen aufzusuchen, um sich nichts Kostbares entgehen zu lassen.

Es fällt dem Edeka-sozialisierten Provinzler freilich ohnehin schwer, sich im hiesigen Warenangebot zu orientieren. Da ist zunächst mal die Sprache, vor allem aber natürlich der Wirrwarr der Zeichen. Als ich das erste Mal einen japanischen Supermarkt mit dem gebotenen Optimismus aufsuchte, wurde mir schnell bewusst, dass man zwar eine Banane auch in Japan unkompliziert als solche erkennt, es aber schon bei der Butter schwierig wird. Denn auf den Packungen steht natürlich nicht Butter, jedenfalls nicht auf Deutsch – sondern eher auf Englisch, aber dargestellt mit Katakana-Zeichen. Die werden für ausländische oder aus Fremdsprachen entliehene Wörter verwendet. Butter steht da also so: バター, sprich: Bataa. Ich empfehle allen Japanreisenden, sich die 45 Katakana-Zeichen drauf zu schaufeln. Denn mit ihrer Beherrschung kann man vor allem die hiesigen Speisekarten sehr viel einfacher durchdringen. Geht man etwa in ein italienisches Restaurant (das im Zweifel nicht von Italienern, sondern von Italien-affinen Japanern betrieben wird), werden auf der Speisekarte zwar nur italienische Gerichte zu finden sein, allerdings kein einziges in lateinischer Schrift, sondern ausnahmslos alle in Katakana. Man könnte zum Bespiel statt ラザーニェ, ボロネーゼ・スパゲッティ, ピザ・ナポリ auch Lasagne, Spaghetti Bolognese und Pizza Napoli schreiben. Macht man aber nicht. Wir sind ja nicht in Italien!

Zurück in den Supermarkt: Beherrscht man keinerlei japanische Schriftzeichen, muss man nach Optik kaufen und darauf vertrauen, dass man Butter erwischt und nicht Tofu oder Schafskäse oder Kleistermasse für die häusliche Renovierung. Denn nicht immer erschließt sich dem Westler (bewusst nicht gegendert, meine Frau findet alles, immer und überall) die Platzierung der Waren im Supermarkt. In unserem Stammsupermarkt Precce (Katakana: プレッセ, sprich: puresse, nun ja) stehen Butter, Milch und Joghurt ohne ersichtlichen Grund weit voneinander entfernt, ebenso Käse und Frischkäse. Ich hatte schon den Verdacht, dass die Ware chronologisch platziert wird, also nach Wareneingang. Oder vielleicht im Sinne des Fengshui? Oder alphabetisch? Nein, das kann nicht sein, das Alphabet nutzt man hier nicht. Hier würde sortiert nach dem AIUEO, bei dem die fünf Vokale der Reihe nach mit einzelnen Konsonanten kombiniert werden, dies aber durchaus nicht in der uns vertrauten Sortierung. Das wäre zu einfach für uns Gaijin. Hier geht das dann so, natürlich auch wieder mit Varianzen: ka, ki, ku, ke, ko, dann sa, shi (wir erinnern uns: „si“ kann und/oder will man hier nicht aussprechen), su, se, so, ta, chi (fragt nicht!), tsu (fragt nicht!, hab‘ ich gesagt), te, to usw. Wäre das Warenangebot tatsächlich danach sortiert, müsste man sich erst mühsam eindenken. Bis man sich orientiert hätte, wäre die Butter wohl ranzig.

Der Einfachheit halber zuckt man also das Handy und nutzt die Google-Übersetzer-App. Das dauernde Abscannen der Auslage sieht bescheuert aus, weist einen als sprachunkundigen Besucher aus, obwohl man doch so gerne dazugehörte, und führt zu chronischen Fehlhaltungen. Es ist aber letztlich die einzige Möglichkeit, in überschaubarer Zeit einen allerdings ebenso überschaubaren Warenbestand zusammenzutragen oder im Restaurant nicht nur die Beilagen zu bestellen.

Noch weiter zurück, nämlich wieder in den Plattenladen. Hier ist westliche Musik innerhalb der fragwürdigen Genrezuordnungen nach dem Alphabet, japanische Musik indes nach dem AIUEO und damit migränefördernd sortiert. Man sollte aber sowieso nicht zu disk union gehen, wenn man etwas Konkretes sucht, zumal Neuware nur in geringem Umfang angeboten wird. Man läuft halt hin und stöbert, bis der Arzt kommt oder die Kreditkarte einbehalten wird. Die Menge der angebotenen Ware ist – vor allem in der Gesamtschau der Filialen – unüberschaubar. Preislich findet sich alles zwischen 100 Yen (etwa 72 Ct) und 1000 Euro, und in letzterer Preislage gar nicht mal wenig. Echte Schnäppchen macht man heute zwar ob der Preistransparenz, die vor allem Discogs schafft, nicht mehr. Aber die Vielfalt des Angebots begeistert, ach was: euphorisiert und verführt zu manchem Impulskauf. Wer mich mal richtig heiter erleben will, lauere mir vor einer disk-union-Filiale auf.

Vor allem kann man bei disk union natürlich fantastisch japanische Musik kaufen, die man in Deutschland gar nicht oder nur zu prekarisierenden Importpreisen bekommt. Ich kaufe hier, wenn ich so ehrlich sein darf, oft nach optischen Kriterien, zumal aus den Fächern für japanischen City Pop (gesprochen: „Shitty Pop“, siehe oben). Ich habe dabei noch kaum einen Fehlkauf getätigt. Blind kaufen kann man vor allem Platten mit Covern von Hiroshi Nagai (永井博), von dem auch die Cover der schönen Pacific-Breeze-Reihe sind, die in Deutschland unproblematisch erhältlich ist (vor allem natürlich bei https://www.michelle-records.de). Nun ja, blind sollte man sie eben nicht kaufen, es geht ja gerade um die Cover – selten war eine Metapher schiefer. Aber auch im Übrigen lohnt es, sich verführen zu lassen von coolen City-Landschaften, schulterpolstrig gekleideten Herren, Frauenfrisuren nach Art einer explodierten Ananas und überhaupt allem, was nach den hedonistischen 80ern aussieht. Belohnt wird man mit der ganzen Vielfalt erstklassiger Popmusik, gleichsam das Beste aus den 70ern, 80ern und von heute. Aber eben „in gut“. Darüber hinaus gibt es erstklassigen japanischen Jazz, Hiphop, R&B, Techno und und und. Also alles, was Ihr auch bei Michelle bekommt, nur japanisch.

Der Vollständigkeit halber und als Service für Geneigte (im Zweifel alkoholbedingt) sei erwähnt, dass in oberen Stockwerken oft auch eher horizontal geneigte Dienstleistungen angeboten werden, die durchaus auch für Kurzatmigkeit sorgen können – hat man mir gesagt. Ob Begeisterung dort akustisch nach unserem AEIOU oder eher dem hiesigen AIUEO zum Ausdruck gebracht wird, möge jemand anderes ermitteln. Ich habe dort nichts verloren und auch nichts zu suchen.

zuletzt geändert von peterjoshua

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rock 'n' roll..., deal with it!