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Tonhalle, Zürich – 16.09.2022
Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi Music Director
Emmanuel Pahud Flöte
Toshio Hosokawa «Ceremony» für Flöte und Orchester – Uraufführung
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Anton Bruckner Sinfonie Nr. 8 c-Moll
Gesprächskonzert mit Toshio Hosokawa – Museum Rietberg, Zürich – 17.09.2022
Toshio Hosokawa Komponist – Creative Chair, Gastkurator
Khanh Trinh Verantwortliche Sammlungen Japan im Museum Rietberg, Co-Kuratorin
Annette Bhagwati Direktorin Museum Rietberg, Moderation
Toshio Hosokawa «Kalligraphie» Sechs Stücke für Streichquartett
Loewe Quartett
Bastian Loewe, Violine
Livia Berchtold, Violine
Silas Zschocke, Viola
Alina Morger, Cello
Dann mal beides zusammen … vorgestern in der Tonhalle eine beeindruckende Aufführung von Bruckner 8 mit Järvi, davor Hosokawa, und dann gestern im Museum eine (für mich Banausen in solchen Dingen) überraschend interessante Ausstellung mit chinesischen Jade-Miniaturen und danach ein Gesprächskonzert mit Toshio Hosokawa.
In der Tonhalle ging es los mit der Uraufführung (nun, ich war ja am dritten und letzten Abend, die Uraufführung war genau genommen am Mittwoch, 14. September) von Hosokawas neuem Flötenkonzert „Ceremony“, das er für Emmanuel Pahud komponiert hat. Bisher kannte ich von Hosokawa fast nur die Aufnahmen von Momo Kodama auf ECM – also alles Klaviermusik (Etudes I-VI und „Lotus under the Moonlight“ für Klavier und Orchester, zudem den „Regentanz“ in der Einspielung der Percussions de Strasbourg von deren ganz hervorragendem 2019er-Album „Rains“). „Point and Line“ ist der Titel der Kodama-CD, auf der Etüden von Debussy und Hosokawa nebeneinander gestellt werden, und dass das ein sehr passender Titel ist, wurde mir gestern erst im Lauf des Gesprächs bewusst.
«Ich suche nach einer neuen Form spiritueller Kultur und Musik des japanischen Volkes, mit der ich sowohl mir selbst als auch meiner Herkunft treu bleibe. Wir müssen den Westen noch einmal und gründlicher studieren, um unsere Sicht auf uns zu objektivieren und uns selbst wirklich kennen zu lernen.» (Toshio Hosokawa)
Der 1955 geborene Hosokawa fand über das Klavier und die Faszination für die westliche Musik zu seinem eigenen Komponieren. Seine Familie war in anderen Bereichen dem traditionellem Kunsthandwerk verbunden – das oben eingestreute Zitat aus dem Programmheft verdeutlicht Hosokawas spätere Haltung dazu. Ysang Yun und Klaus Huber waren einst seine wichtigsten Lehrer. Hosokawa bezieht sich auf zen-buddhistische rituelle, also religiöse Musikformern, die Flöte ist ihm ein besonders nahes Instrument, da sie den Gesang der menschlichen Stimme erweitert – die Linie, das was wir eine „Melodie“ nennen würden, auch wenn Hosokawa wenig an Melodien, wie sie uns vertraut sind, interessiert scheint. Wenn er Spieltechniken der neuen Musik einsetzt, tut er das – so hat er es im Gespräch in etwa formuliert – nicht wie seine westlichen Kollegen (er war in jungen Jahren schon in Darmstadt) als eine Art Protest gegen oder Verweigerung von Konventionen. Er sucht im Gegenteil eine Annäherung an Klänge der Natur: die Töne, die entstehen, wenn der Wind durch den Bambuswalt bläst. Es gab ein paar Stellen, an denen Pahud auch seine Stimme einsetzte, und es gab eben immer wieder Passagen mit verzogenen Tönen, abrupt abbrechende, in einem absinkenden „slur“ endende Töne, ruppige Stakkati auch.
Im Programmheft wurde das Werk mit seinen fünf Teilen so aufgeführt:
«Ceremony» für Flöte und Orchester – Uraufführung
I. [Teil 1: Einleitung]
II. [Teil 2: Das absteigende Lied]
III. [Teil 3: Ein Ringen, ein Kampf gegen die reale Welt]
IV. [Teil 4: Kadenzen]
V. [Teil 5: Das letzte Kapitel. Läuterung]
Und Hosokawa selbst lieferte eine Beschreibung:
«Ceremony» für Flöte und Orchester ist als Auftragswerk der Tonhalle-Gesellschaft Zürich und des Orchestra Ensemble Kanazawa entstanden. Die Komposition wurde zwischen Oktober 2021 und März 2022 komponiert und ist Emmanuel Pahud, dem ersten Interpreten, gewidmet.
In den meisten meiner Konzerte symbolisiert der Solist die Person und das Orchester das Universum und die Natur, die sich innerhalb und ausserhalb der Person ausbreitet. In diesem Stück symbolisiert der Solist den Schamanen und das Orchester die Welt, das Universum und die Natur, die der Schamane anruft. Der Schamane erschafft Klänge und sendet mit Hilfe des «Atems» Lieder in die Welt, um übernatürliche Kräfte zu beschwören. Ich glaube, dass die Musik aus den schamanischen Ritualen (Zeremonien) des Animismus, also dem Glauben, dass lebende Wesen wie unbelebte Objekte eine Seele besässen, entstanden ist. Die Flöte erzeugt Töne, indem sie ihren Atem in ein Rohr bläst. Im Griechischen bedeutet «pneuma» («Atem») «Wind» und darüber hinaus «Geist» oder «Seele». Der Atem des Flötisten hallt wie der Wind der Natur wider und wird zu einem Lied, das die Geister weckt.
Die Komposition besteht aus fünf Teilen:
Teil 1
Einleitung, das Lied der Beschwörung singt der Schamane, während er eine bezaubernde Melodie wiederholt, die zum Himmel aufsteigt.Teil 2
Das absteigende Lied, erinnert an die dunkle Unterwelt. Hier wechselt der Solist zur Altflöte.Teil 3
Ein Ringen, ein Kampf gegen die reale Welt. Der Flötist wechselt zur Piccoloflöte, dann zur Flöte und spielt intensive sowie schnelle Formen. Ein gewalttätiges Orchester attackiert diese.Teil 4
Kadenzen. Solo-Gesang des Schamanen.Teil 5
Das letzte Kapitel. Läuterung; der Flötist verschmilzt mit dem anhaltenden Klang einer Oktave von F-Tönen. Dann wird er Teil der Natur und verwandelt sich irgendwann in einen «Vogel».Der Flötist wechselt zwischen drei Instrumenten: Querflöte, Altflöte und Piccoloflöte. Diese rituelle Musik ist auch eine Gebetsmusik für das Ende der Pandemie, da sie während der Corona-Katastrophe komponiert wurde.
~ Toshio Hosokawa (aus dem Programmheft der Tonhalle)
Im Museum Rietberg versuchte Hosokawa dann auch, die Unterschiede zwischen seiner Vorgehensweise und dem Komponieren Bruckners ein zu erläutern. Bruckner baut auf Akkorden (die in Hosokawas Musik oft zu fehlen scheinen oder sich eher mal ergeben), auf Linien, Melodien, konstruiert daraus grosse, beeindruckende Gebilde, einem Architekten ähnlich. Hosokawa arbeitet hingegen mit einzelnen Tönen – und mit Gesten. Und da kommt die Kalligraphie ins Spiel. In einem Raum der Sammlungspräsentation des Museums Rietberg hat er ein paar japanische Tuschzeichnungen ausgewählt, dazu kamen drei neuere Werke der in der Nähe von Zürich lebenden Künstlerin Suishū T. Klopfenstein-Arii. Eines von ihnen habe ich oben eingestellt, es heisst „Schweigen, wie Donner“ – eine Art Zen-Rätsel. Kalligraphie, als „Schön-Schrift“, ist eigentlich irreführend, denn es ginge eher darum, einen genau vorbereiteten, durchdachten Akt möglichst rasch und in einer Linie auf dem Papier auszuführen. Daher rühren auch die Parallelen zu Schwertkampf, zu Karate. Er werde auch mal „karate composer“ genannt, meinte Hosokawa lächelnd. So gehe er mit Tönen auch um: die Geste, die den Ton vorbereitet, gehöre mit zum Ton. Und er Ton stirbt im Moment seiner Entstehung auch schon – es gibt nur diesen einen Moment, in dem das Werden und das Vergehen gleichermassen sichtbar sind. „Musik ist der Ort, an dem sich Töne und Schweigen begegnen“ hat Hosokawa einmal gesagt.
Ich hoffe, ich habe das nicht grundlegend missverstanden, er spricht leidlich gut Deutsch, suchte hie und da aber nach Worten, und die Direktorin des Rietberg redete drumherum sehr viel, in sehr geschliffenen Sätzen, die aber nicht immer viel Inhalt transportierten. Ein schöner Moment gab es gegen Anfang, als Hosokawa sich an Darmstadt erinnerte: oft sei da eine Stunde lang über theoretische Prinzipien gesprochen worden, auf denen ein Stück aufbaue – dann habe man endlich die Musik zu hören gekriegt. Und diese sei oft nicht so interessant gewesen. Die erste Hälfte des Gesprächs im Rietberg empfand ich ähnlich, aber eher umgekehrt: das Gespräch floss dahin, Hosokawa hatte zunächst wenig mitzuteilen (brachte aber eben den perfekt getimten Deadpan-Darmstadt-Moment unter), es ging eher um die Kalligraphie, das Arbeiten mit Tusche auf Papier (das Bild oben ist grossformatig, schätzungsweise einen Meter hoch und breit). Dann gab es die Musik – und einiges, was davor besprochen wurde, half dann doch, die Ohren zu schärfen.
Die Streicher spielten mal liegende Töne – Linien –, dann wieder schroffe, kurze – Punkte, Hiebe, schnell ausgeführte Striche. Ein Komponist der Vertikale sei er (im Raum nebenan hingen auch Schriftrollen, vertikal natürlich), aber das habe sich auf die Notation nicht übertragen lassen, aus praktischen Gründen, weil niemand mit 90 Grad verdrehtem Kopf Noten lesen und spielen mag. die Vertikale, das sind diese kurzen Gesten, die abbrechen – der Tod der Töne. Der Tod. Die Aufführung durch ein sehr junges Streichquartett aus Studierenden der Zürcher Hochschule der Künste war exzellent. Der Gestus der Musik schien mir ganz ähnlich wie der bei „Ceremony“: Linien, in denen nicht ein sauberer Klang gesucht wird, sondern Linien, die sich ständig bewegen, sei es durch mikrotonale Verschiebungen, ein heterogener (aber nicht akkordischer) Klang, den die vier Streicher*innen erzeugten – und dann eben auch diese schroffen Brüche, Schläge, Hiebe, Pinselstriche: schnell und präzis ausgeführt, auf den Punkt. Das Vor und Nach den Tönen, die Stille, vor der die Musik erst entsteht – das „Schweigen, wie Donner“ eben – nicht zu vergessen. Und die Transparenz, die Durchsichtigkeit, die auch im Pinselstrich von Klopfenstein-Arii zu sehen ist: die Stellen, an denen der breite Pinseltrich aufgelöst wird, die Haare oder Borsten fast einzeln sichtbar werden. Auch das findet sich in der Musik Hosokawas wieder.
Der anschliessende zweite Teil des Gespräches war dann aufschlussreicher, fand ich, es ging nur noch um Musik bzw. Hosokawas eigenes Verhältnis zur Schreibkunst, Khanh Trinh setzte sich nicht noch einmal auf die Bühne. Aufschlussreich waren auch kurze Tonbeispiele für buddhistischen Tempelgesang (er meinte, das sei so etwas ähnliches wie die Gregorianik im Westen, eine Art Fundament, auf dem alles folgende aufbaue, ebenfalls keine polyphone Musik, aber eben auch kein homogen reiner klang) sowie von einer Shakuhachi, einer Bambusflöte, an deren Klang sich das Konzert mit Pahud orientierte.
Hosokawa zeigte sich erfreut über die Aufführung von „Kalligraphie“. Auf die Frage nach seiner Notationsweise meinte er, diese sei sehr präzise – aber natürlich müssten die Künstler*innen die Werke entstehen lassen, natürlich gebe es Spielraum zur Gestaltung. Er hätte aber weder mit dem Loewe Quartett noch mit Pahud über die Werke unterhalten, hätte bei nur ein paar Hinweise zu den Tempi („den Teil etwas schneller“) gegeben, den Rest hätten die Musiker*innen selbst sehr gut umgesetzt und ihre Sichtweise der Werke gefunden.
Ein toller Einstand in die neue Saison – und daran hatte natürlich auch der für meine Ohren sehr stimmige, stringente und klanglich wunderbar gestaltete Bruckner seinen Anteil. Das Tonhalle Orchester glänzte wahrlich, Järvi dirigierte auf seine angenehme, unaufgeregte Art – und holte aus dem Orchester mal wieder alles heraus. Und auch aus dem Saal. Ich habe mich ja nicht so richtig freuen mögen über den Umzug zurück in die altgediente Halle am See – aber die Klangfülle (bis an die Schmerzgrenze), die geboten wurde, wäre in der Tonhalle-Maag (wo die Achte 2017 zuletzt unter Welser-Möst aufgeführt worden war, auch das war ein Erlebnis) schlicht nicht möglich gewesen. Eine allmähliche Versöhnung also … und dass ich wieder meine Stehplätze in der hintersten Reihe der linken Gallerie habe (wie früher, vor dem Umzug in die Maag) ist auch ganz gut. Nachteil: sitzend sehe ich kaum etwas. Vorteil: gegenüber den Plätzen in Reihe 1 im Parkett ist der Klang natürlich viel ausgeglichener. Und ich kann ja aufstehen, ohne wem die Sicht zu verdecken. Für „Ceremony“ habe ich das getan, beim Bruckner dann nur zwischendurch ab und zu einmal, z.B. um einen Blick auf die Wagner-Tuben zu erheischen. Dass dieses Werk quasi als Apotheose der Musik des 19. Jahrhunderts gehandelt wird, leuchtet mir irgendwie ein, auch wenn solche Aussagen natürlich wenig sinnvoll sind.
Ein Zitat von Paavo Järvi aus dem Programmheft zum Abschluss:
Diese Sinfonie hat eine unglaubliche Grösse in ihrer Gestaltung, ihrer Anlage. Alle anderen Sinfonien haben noch eine gewisse Intimität. Und diese bleibt im Adagio auch im besten Sinne erhalten. Aber in den anderen Sätzen ist ein neues Bewusstsein spürbar. […] Das erwartet man bei Bruckner nicht. Ein Bewusstsein darüber, wo er steht und wer er ist. Als Ganzes ist das ein monumentales Werk – mehr als alle anderen Bruckner-Sinfonien. Die Fünfte kommt dieser Idee nahe, aber die Achte ist wirklich sein Gipfelpunkt.
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