Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Vier Tage beim Lucerne Festival, das heuer – der grosse Aufreger für die paar verbleibenden, immer rechtslastiger werdenden Feuilletons, klar – unter dem Motto „Diversity“ stand. Ich fand das eine gute Sache, hätte eher gerne noch mehr davon gehabt – aber wie ich schon kurz erwähnt hatte, konnte ich in den vier Tagen wahnsinnig viel hören, die Bandbreite reichte von der Klassik bis in die Gegenwart, inklusive Ur- und schweizerischen Erstaufführungen.

Ich mag den grossen Saal von Jean Nouvel nach wie vor sehr gerne – auch wenn ich es Abbado ein wenig verüble, dass er protestierte (er trete darin nicht auf), dass sein Inneres in dunklem Blau hätte gestrichen werden sollen. Stattdessen wurde es weiss … was vermutlich nicht der einzige Grund war, weshalb ein junges Mädchen, das mit seinem Vater zu einem der Konzerte kam, einen langen Lachanfall hatte und immer wieder sagte: „dieser Saal ist so lustig!“. Ich bin ja nicht sehr empfänglich für verklärenden Quatsch, aber der so klare und auch im Klang so transparente Saal hätte etwas mehr Dunkelheit gut vertragen können.

Lucerne Festival – Lukaskirche, Luzern – 25.08.2022

Miskha Rushdie Momen – Klavier

Ludwig van Beethoven (1770–1827): Klaviersonate cis-Moll op. 27 Nr. 2 Sonata quasi una fantasia (1801)
Robert Schumann (1810–1856): Nr. 4 «Ziemlich langsam» aus Bunte Blätter op. 99 (1841)
Vijay Iyer (*1971): Hallucination Party (über ein Thema von R. Schumann) (2019)
Robert Schumann (1810–1856): Romanze Fis-Dur op. 28 Nr. 2 (1839)
Nico Muhly (*1981): Small Variations (2019)
Frédéric Chopin (1810–1849): Fantaisie-Impromptu cis-Moll op. post. 66 (1834)
Héloïse Werner (*1991): an inviting object für Klavier (2021/22) – Uraufführung (Auftragswerk der I&I Foundation)
Brett Dean (*1961): Prelude and Chorale: Hommage à Bach für Klavier (2009/10)
Franz Schubert (1797–1828): Fantasie C-Dur D 760 Wandererfantasie (1822)

Am Donnerstagmittag ging es los in der Lukaskirche – an sich ein schöner Raum, aber leider mit knarzenden Kirchenbänken und einem glattpolierten Holzboden, auf dem jedes Rutschen von Schuhsohlen wenigstens im Mezzoforte daherkam. Neben mir sass dann noch eine ältere Dame mit einer alten Swatch-Uhr, deren Ticken ich das halbe Konzert über nicht aus dem Ohr bekam. Dennoch fand ich recht schnell rein. Der etwas romantisch daherkommende Beethoven war nicht so mein Fall, aber dass das „komponierte Programm“ von Mishka Rushdie Momen in sich völlig stimmig war, wurde rasch klar. Ein kurzes Stück von Robert Schumann folgte, darauf ein Stück von Vijay Iyer, das von diesem Albumblatt Schumanns ausgeht – auf Bitte der Interpretin für deren umfangreiches Variationenprojekt (mir noch nicht bekannt) komponiert. Das längere Stück von Muhly bezieht sich ebenfalls auf Schumanns Op. 99/4, dazwischen gab es ein Buntes Blatt, das Clara Wieck als das „schönste Liebesduett“ empfand.

Es folgte Chopins Fantaisie-Impromptu, mit dem die „quasi una fantasia“ von Beethoven fortgesponnen wurde, danach die Uraufführung eines Stückes der jungen Komponistin Héloïse Werner, die beim Konzert anwesend war. Eine tolle Bach-Hommage von Brett Dean (meine erste Begegnung mit ihm) leitete den Schlussteil ein, der in die fulminant gespielte „Wandererphantasie“ kulminierte. Ein an der Oberfläche vielleicht gar bunt scheinendes, aber sehr stringentes Programm war das, in dem es manchmal sehr wuchtig, dann wieder zart und verspielt zu und her ging. Im Stück von Werner kamen ein paar Tücher dämpfend zum Einsatz, jeweils mit unterschiedlichem Gewicht andere Bereiche des Instruments beeinflussend. Ein durch und durch gelungenes Debut der 1992 geborenen Pianistin. Und ja, sie ist eine Nichte des Autors, dem „tapferen und wundervollen Onkel“, dem sie auch die Zugabe widmete, ein Stück von Johann Sebastian Bach.

Beim kleinen Imbiss danach, auf der Terrasse vor dem KKL, sassen dann am Nebentisch Wolfgang Rihm, Dieter Ammann und Thomas Adès zusammen mit Mark Sattler, der als Intendant für die „contemporary“-Schiene des Festivals verantwortlich ist.

Lucerne Festival – KKL, Luzern – 25.08.2022

NDR Elbphilharmonie Orchester
NDR Vokalensemble und Gäste
Alan Gilbert
Dirigent
Morris Robinson Porgy
Elizabeth Llewellyn Bess
Chauncey Packer Sportin’ Life
Lester Lynch Crown
Norman Garrett Jake, Simon Frazier
Golda Schultz Clara
Cameo Humes Robbins, Mingo, Peter, Krabbenverkäufer
Latonia Moore Serena
Tichina Vaughn Maria, Lily, Annie, Erdbeerfrau
Fjodor Olev Detektiv, Leichenbeschauer, Polizist
Luvo Rasemeni Undertaker
Kenneth Kula Jim

George Gershwin (1898–1937)
Porgy and Bess (1933-35)
Oper in drei Akten von George Gershwin, DuBose und Dorothy Heyward und Ira Gershwin
Konzertante Aufführung in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Am Abend gab es dann eine konzertante Aufführung von „Porgy & Bess“. Und obwohl das Stück viel Futter für Debatten über „cultural appropriation“ und Rassismus bietet, war das ein Ereignis. Die Besetzung war, wie von Gershwin verlangt, durchgängig mit Afro-Amerikaner*innen besetzt (Olev, der einen kleinen Sprechpart hatte und ja auch von der Rolle her der „Eindringling“ aus der weissen Welt ist, war die Ausnahme). Die ersten zwanzig Minuten passte die Balance noch nicht sehr, vieles war schwierig zu verstehen (dass die Übertitel nur Deutsch waren, half leider auch nicht gerade), aber mit der Zeit wurde das besser. Die Hauptdarsteller*innen waren umwerfend, allen voran Robinson als Porgy. Moore hatte ein paar umwerfende Auftritte, Schultz sang ein opernhaftes „Summertime“ und überzeugte im Lauf des Abends sehr. Das Orchester traf unter Gilbert den richtigen Ton für diese hybride Kunstmusik zwischen Jazz und impressionistischer Klassik, mit Einsprengseln von Gospel, Salon etc. Die Instrumentalisten, die Solo-Parts zu spielen hatten, taten das sehr gut, auch in den jazzigen Passagen durchaus überzeugend. Von allen kritischen Fragen, die sich immer mal wieder aufdrängten (weniger die, ob Gershwin denn Spirituals komponieren „darf“, eher die extrem schablonenhafte Figurenzeichnung, die das Stück leider schon sehr in die Nähe einer Minstrel-Show rückt), mal abgesehen war das rein musikalisch ein grossartiges Erlebnis!

Es gab stehende Ovationen – aber wie auf dem Foto zu sehen sind, blieben leider recht viele Plätze leer. Das zog sich durch die ganzen vier Tage hindurch. Ob der fehlende Teil des Publikums an Covid gestorben ist oder halt viele Leute doch mehr Vorsicht und Rücksichtnahme wünschten und drum die Fahrt nach Luzern vermieden – oder ob viele das Motto und das damit verbundene Programm tatsächlich zu uninteressant oder ärgerlich fanden – ich weiss es nicht. Schade jedenfalls, und für ein Publikumsfestival, das nicht von staatlichen Fördergeldern lebt, auch nicht unbedenklich, nehme ich an.

Am zweiten Tag war das Programm weniger dicht, es gab weder über Mittag noch am Nachmittag ein Konzert, also spazierte ich zum Richard Wagner-Museum in Tribschen, eine Villa auf weitläufigem, sehr schönen Areal auf einem unbebauten Hügel über dem See. Darin sind ein paar Räume mit Gegenständen aus Wagners Nachlass zu sehen (ein cooles Hausjackett, eine Hundepeitsche, natürlich ein Klavier, auf dem hie und da bei Konzerten vor Ort auch noch gespielt wird …), die unschönen Aspekte der Rezeptionsgeschichte des Clans werden nicht komplett unter den Teppich gewischt (das Foto oben versinnbildlicht das ganz gut). Inhaltlich interessanter war die aktuelle Ausstellung im Obergeschoss, in der die Orte von Wagners Laufbahn dargestellt waren. Da wurde auch sehr deutlich, dass Zürich nach Bayreuth die zweitwichtigste Station war – die sich aber schwer damit tut, das zu würdigen bzw. gross zur Kenntnis zu nehmen.

In Tribschen fanden 1938 auch die ersten „Musikfestwochen“ (so heisst das Festival bei den Luzernern noch heute) statt, geleitet von Arturo Toscanini. Das Orchester spielte in einem kleinen extra aufgebauten Pavillon neben dem Haus, das Publikum sass im Freien. Auf dem Platz hinter dem Haus gibt es ein sehr schönes Sommercafé, bei dem es auch was zu Essen gibt, und davor einen Gedenkstein für Toscanini (Fotos in neuem Tab öffnen zum Vergrössern).

Um 18:20 ging ich dann ins „40min“-Konzert „Spotlight on: Thomas Adès“ mit Anne-Sophie Mutter, dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra und Thomas Adès. Es war das einzige Konzert dieses Formats an den vier Tagen, an denen ich da war. Die kurzen Konzerte erlauben einen ungezwungenen Besuch, bei dem im Luzerner Saal (er findet sich auch unter dem grossen Dach des KKL – oben ein Schnappschuss von der Dachterrasse in einer Konzertpause – und ist deutlich kleiner, fasst wohl ca. 500 Leute) kostenlos ein Werk oder in diesem Fall eine öffentliche Probe besucht werden können, dazwischen auch ein paar Worte gesagt werden. In diesem Fall gab es ein doppeltes Durchspiel des ca. viertelstündigen neuen Stücks für Violine und Orchester, dazwischen ein paar Worte zwischen der Solistin, dem Komponisten/Dirigenten und dem Orchester, während Mark Sattler sich auch noch rasch ans das Publikum wandte. So weit ich das mitgekriegt hatte, waren das die ersten beiden Durchspiele, wobei das Stück aber bereits geprobt worden war. Eine (nicht öffentliche) Generalprobe gab es danach auch noch, aber beim zweiten Durchlauf schien für meine Ohren schon das meite zu sitzen und es war natürlich toll, dieses neue Werk gleich mehrmals hören zu können.

Lucerne Festival – KKL, Luzern – 26.08.2022

Luzerner Sinfonieorchester
Michael Sanderling
Dirigent
Joyce El-Khoury Sopran

Lili Boulanger (1893–1918)
D’un matin de printemps (1917/18)
Richard Strauss (1864–1949)
Vier letzte Lieder (1948)

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893)
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 Pathétique (1893)

Das grosse Konzert am zweiten Abend was dasjenige, das ich am ehesten einfach „mitnahm“, weil ich halt dort übernachtete und ja sowieso da war. Allerdings hat es sich ebenfalls sehr gelohnt, trotz des viel konventionelleren Programms. Das Luzerner Sinfonieorchester bestreitet auch ausserhalb des Festivals Konzerte im KKL und spielt bei allen Opernaufführungen im wenige hundert Meter entfernten Luzerner Theater, in dem ich einige tolle Aufführungen gehört habe, nicht zuletzt Nonos „Prometeo“, aber auch einen hervorragenden „Don Giovanni“, die Solo-Traviata für Nicole Chevalier von Intendant/Regisseur Benedikt von Peter (der jetzt in Basel ist und die schon nach Luzern mitgebrachte „Traviata“ dort erneut aufführt) und einige mehr.

Die Sopranistin Joyce El-Khoury debütierte beim Festival, der überaus sympathische Michael Sanderling ist auch noch recht neu in Luzern: er übernahm das Luzerner Sinfonieorchester im August 2021. Auf dem Foto ist er nach seiner Händeschüttelrunde durch das Orchester zwischen den Bratschen und den Celli zu sehen. Das Orchester spielte zwar schon vor der Pause sehr gut, wuchs in der düsteren Symphonie von Tschaikowsky allerdings über sich hinaus. Am besten fand ich aber den – hier kleinen – „Diversity“-Beitrag, das kure „D’un matin de printemps“ für Orchester von Lili Boulanger, ein Stück aus ihrem letzten Lebensjahr, die Orchesterfassung wurde vermutlich im Januar 1918 fertiggestellt, am 15. März des Jahres starb sie schon, 24 Jahre jung. Nach der Adès-Erfahrung kurz davor hätte ich mir sehr gewünscht, auch dieses Stück zweimal hören zu können … aber so läuft das im Konzert halt nicht. El-Khoury sang eine betörend schöne Version der letzten Lieder von Richard Strauss – und trat damit in Luzern in grosse Fussstapfen (erstmals 1956 mit Schwarzkopf, zuletzt 2016 mit Damrau). Die Musik von Strauss ist natürlich einmal mehr wahnsinnig schön orchestriert, aber was soll man dazu überhaupt noch sagen? Nach der Pause folgte dann Tschaikowsky – und das ist dann schon die Art von Konzert, bei der ich einen Moment lang überlege, in der Pause zu gehen (und es *nie* mache, genau wie ich auch fast keinen Film nicht zu Ende gucken kann). Das wäre aber ein Fehler gewesen. Auch wenn die Aufführung in den Details nicht ganz perfekt war – sie war am Ende grossartig, berührend, ja äusserst bewegend. Ich fand es ein wenig schade, dass danach eine Zugabe gegeben wurde – das Intermezzo aus „Cavalleria Rusticana“ – , aber Sanderling meinte, sie wollten das Publikum nicht mit dem Tod, den letzten Augenblicken entlassen. Das ist ein schöner Gedanke, und es war am Ende ein überaus gelungenes Konzert.

Lucerne Festival – Hochschule Luzern–Musik – 27.08.2022

ensemble recherche
Melise Mellinger Violine
Geneviève Strosser Viola
Åsa Åkerberg Violoncello
Shizuyo Oka Klarinette
Klaus Steffes-Holländer Klavier

Lisa Streich (*1985)
Nebensonnen (2015) für Violine, Viola, Violoncello und Klarinette – Schweizer Erstaufführung
Helmut Lachenmann (*1935)
Mes Adieux, Streichtrio Nr. 2 (2021/22) – Schweizer Erstaufführung (Auftragswerk von Lucerne Festival, dem ensemble recherche, dem WDR, Milano Musica, Françoise and Jean-Philippe Billarant [IRCAM Paris] sowie dem Festival Wien Modern, gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung)
Wolfgang Rihm (*1952)
Chiffre IV (1983) für Bassklarinette, Violoncello und Klavier
Dieter Ammann (*1962)
Gehörte Form – Hommages (1998) für Violine, Viola und Violoncello

Am Samstag ging es bereits um 11 am gesichtslosen „Südpol“ los. Dort stehen ältere une neue Betonklötze, in denen auch das Luzerner Sinfonieorchester seine Proberäume (und Räume, in denen kleinere Konzerte stattfinden glaube ich auch) hat, nebenan in der Musikhochschule gibt es einen wunderbaren kleineren Saal, den ich noch nicht kannte. Dort fand eins der anregendsten Konzerte der vier Tage statt. Mein persönliches Highlight war Helmut Lachenmanns zweites Streichtrio (im Mai in bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik vom ensemble recherche uraufgeführt), dem das aus vielen langen Tönen – manchmal ordentlich dissonant, manchmal durch kleinere Melodiefetzen unterbrochen, oder durch Klänge, die aus der Ferne herübergeweht scheinen, als liefe irgendwo in der Nähe ein Radio. Lachenmanns charakterisiert sein fast sechzig Jahre nach dem ersten Streichtrio komponiertes neues Werk als Vorstoss „nicht ins Unbekannte, sondern ins Bekannte“, als „Begegnung mit durchaus Vertrautem und in neuem Licht zugleich fremd Gewordenem und so ‚heiter‘ sich Verabschiedendem“ (Zitat aus dem Programmheft). Wie zu erwarten, werden die Körper der Instrumente mitgespielt – aber zurückhaltend, zwischendurch. Und die Körper der Interpretinnen ebenfalls: Atemgeräusche, manchmal auch leises Summen. Mit seiner Klangpalette und auch seiner Dauer von ca. 25 Minuten war das das gewichtigste, interessanteste Stück des tollen Konzertes.
Danach folgte Rihms viel deutlicher formuliertes, fast schon handgreifliches Trio Chiffre IV der vierte Teil eines Werkzyklus, der zwischen 1982 und 1988 entstanden ist und acht Teile umfasst. „Es ist die Suche nach dem Unmittelbaren, dem auch für den Komponisten selbst Herkunfts- und Zukunftslosen, dem ganz Gegenwärtigen, dem letztlich Unvermittelbaren“, schreibt Thomas Meyer im Programmheft. Rihm konzipierte das Stück so, dass die drei Interpret*innen „im Bewusstsein, ein Stück für ein kleines Orchester zu spielen“, zu agieren haben. Den dadurch entsehenden Klangraum charakterisiert Rihm so: „Ganz Innenspannung, Plastik der Klang(Stahl)fäden, nicht: Raum wird verdrängt, er wird durchmessen. Genagelte Zeichen, zarte Hiebe, Vergitterung durch Schweigen. Zeichnung. Nachhall, (Raum), Ritzung.“

Den Ausklang machte dann ein frühes Stück von Dieter Ammann aus dem Jahr 1998, zu dem er ein paar Worte sagte. Zur Form mit drei Einzelsätzen meinte er, dass er sich damals (er war zwar schon 36, fing aber spät mit Komponieren an, hatte davor auch eine Jazzausbildung absolviert und mit Musikern wie Eddie Harris oder Udo Lindenberg gespielt – Trompete, Saxophon und Bassgitarre sind seine Instrumente) noch nicht getraut hätte, einen übergreifenden, langen Einzelsatz zu formen. Er erläuterte zudem, wie er im Werk ganz konkrete Ideen/Motive sowohl von Helmut Lachenmann wie von Wolfgang Rihm (von dem auch der Titel des Stücks stammt, der mit der Formulierung „Gehörte Form“ Ammans Arbeitsweise charakterisierte) aufgriff – und dass es ihn freue, dass die beiden nun dabei seien, um das Stück auch mal zu hören. Ähnlich wie „unbalanced instability“, das ich 2018 mit Carolin Widmann in Winterthur hörte (klick – steht immer noch in Tube) wird auch hier schon die Musik „aus sich selbst heraus entwickelt“, folgt nicht einer „vorgefassten formalen Idee“ (Ammann im Programmheft). Auch das ein sehr tolles Stück, mit dem ein grossartiges, sehr forderndes Konzert schloss.

Rihm leitet übrigens als Nachfolger von Pierre Boulez die Lucerne Festival Academy, die ca. hundert jungen Musiker*innen die Möglichkeit bietet, in kleinen und grossen Besetzungen Programme mit neuer und neuster Musik zu erarbeiten und zu präsentieren. Ammann hat dieses Jahr zusammen mit seinem (ehemaligen Mentor, jetzt eher Freund, Kollegen) Rihm die Composer’s Workshops geleitet. Die beiden liefen mir an jedem der vier Tage irgendwann über den Weg, Ammann sass auch in anderen Konzerten, nicht zuletzt im letzten, das ich hörte, mit Musik von Tyshawn Sorey.

Lucerne Festival – KKL, Luzern – 27.08.2022

Víkingur Ólafsson Klavier

«Mozart und seine Zeitgenossen»

Baldassare Galuppi (1706–1785): «Andante spiritoso» aus der Klaviersonate Nr. 9 f-Moll (ohne Jahr)
Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791): Rondo F-Dur KV 494 (1786)
Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788): Rondo d-Moll Wq 61 Nr. 4 (1785)
Domenico Cimarosa (1749–1801): Sonate Nr. 42 d-Moll, für Klavier bearbeitet von Víkingur Ólafsson (zwischen 1787 und 1791)
Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791): Fantasie d-Moll KV 397 (385g) (vermutlich 1782)
Rondo D-Dur KV 485 (1786)
Domenico Cimarosa (1749–1801): Sonate Nr. 55 a-Moll, für Klavier bearbeitet von Víkingur Ólafsson (zwicshen 1787 und 1791)
Joseph Haydn (1732–1809): Klaviersonate h-Moll Hob XVI:32 (1776)
Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791): Gigue G-Dur KV 574 (1789)
Klaviersonate C-Dur KV 545 (1788)
«Adagio ma non troppo» aus Streichquintett g-Moll KV 516, für Klavier bearbeitet von Vìkingur Ólafsson (1787)
Baldassare Galuppi (1706–1785): «Larghetto» aus der Klaviersonate Nr. 34 c-Moll (ohne Jahr)
Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791): Klaviersonate c-Moll KV 457 (1784)
Adagio h-Moll KV 540 (1788)
Franz Liszt (1811–1886): Ave verum corpus de Mozart S 461 (um 1861)

Am Nachmittag ging’s mit dem Rezital von Vikingur Olafsson weiter – zu dem ich fast zu spät gekommen wäre … schlenderte gemütlich hin, dachte, es fange um 16:15 an, aber als ich um 15:58 ins KKL spazierte, war kein Mensch zu sehen … also schnell ein Spurt an meinen Platz (der gleiche wie ein paar Tage davor bei Igor Levit, super Platz in der günstigsten oder zweitgünstigsten Kategorie – da muss man aber stets schnell Karten kaufen, sonst kann das ein sehr teurer Spass werden).

Olafsson hat dann zunächst ein paar Worte zu seinem Programm gesagt – im Programmheft gibt es den Text zu lesen, den er für die gleichnamige CD verfasst hat (ich kenne sie nicht). Er hat es auch tatsächlich hingekriegt, dass er nicht ständig von Applaus unterbrochen wurde – was dem Flow des ganzen überaus zuträglich war. Der weite Bogen, den Olafsson erneut ohne Pause zog, war in sich sehr stimmig, die (eher) späten Mozart-Stücke, dazwischen kürze und längere (die Haydn-Sonate) von anderen Komponisten, und am Ende eine Art Steigerungslauf mit der Sonate c-Moll KV 457 und dem Adagio h-Moll KV 540 – und als Umkehrung und Schlusspunkt zuletzt Liszts Paraphrase über Ave verum corpus (S 461a), die ich noch nie gehört hatte. Das funktionierte sehr gut, aber keineswegs ohne Irritation: ein romantischer, oft recht grossspuriger Mozart wurde geboten – und dennoch war das alles von einer kristallinen Klarheit und Durchsichtigkeit. Faszinierend auf jeden Fall, auch wenn ich zwischendurch manchmal etwas ratlos war.

Lucerne Festival – KKL, Luzern – 27.08.2022

Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)
Thomas Adès
Dirigent
Anne-Sophie Mutter Violine

Per Nørgård (*1932)
Drømmespil (Traumspiel) (1975, rev. 1980) für Kammerorchester
Igor Strawinsky (1882–1971)
Agon. Ballett für zwölf Tänzer (1953-57)

Thomas Adès (*1971)
Air (2021/22) für Violine und Orchester (Uraufführung) (Auftragswerk «Roche Commissions» für Lucerne Festival, Ko-Auftraggeber: Anne-Sophie Mutter, Carnegie Hall und Boston Symphony Orchestra)
Witold Lutosławski (1913–1994)
Sinfonie Nr. 3 (1972-83)

Den – durchaus krönenden! – Abschluss machte am Samstag dann im Hauptkonzert das junge LFCO. Nicht wie am Vortag in bunter Strassenkleidung sondern wie es sich gehört in schwarz (aber ohne Fracks und so Zeug). Mit dem Stück von Stravinsky werde ich nicht recht warm, das ist mir in viele Richtungen etwas zu viel des Guten, auch wenn es natürlich sehr charmante Momente hat (die Mandoline!), aber Norgard – mir bisher vollkommen unbekannt – war eine schöne Entdeckung. Da sollte ich gelegentlich mal einsteigen, dünkt mich. Grossartig dann die zweite Hälfte, zunächst mit der offiziellen Uraufführung von „Air“, und dann mit Lutoslawskis dritter Symphonie. Auch Lutoslawski kenne ich noch praktisch nicht, aber was ich bisher hören konnte (im Konzert sowie auf CD zuhause) sprach mich sehr an. Doch natürlich war das Hauptereignis das neue Stück von Adès. Es dauert eine Viertelstunden und ist kein herkömmliches Violinkonzert, ein wenig virtuoses Stück. Es öffnet mit einem einfachen Motiv der ersten Geigen in der höchsten Lage, eine Phrase von vier Takten, die sich durch das ganze Werk zieht. Diese kleine Melodie, eine „air“ oder „aria“, wird von den zweiten Geigen und den Bratschen versetzt aufgegriffen, es entsteht ein Streicherdreiklang, dazu kommen Harfe, Glocken und Gongs – ätherisch und luftig wird das Stück. Beim fünften Durchlauf setzt die Solo-Violine ein – und spinnt aus dieser Phrase eine endlose Melodie, einen mediativen Singsang in der höchten Lage. Auf diese Form – einen einzigen grossen Bogen – hatten Mutter und Adès sich verständigt, als sie geminsam den Plan entwickelten: eine „erweiterte Arie“. Adès‘ Idee war dann, quasi eine auf den Kopf gestellte Passacaglia zu schreiben: statt einem Ostinato-Bass (im englischen: „ground“) hören wir eine Ostinato-Figur in der höchsten Lage, „am Diskant aufgehängt“, wie Adès sagt. Zudem verfielfältigt er das Material in eine Art grossen Kanon, der in ein „polyphones Stimmengewebe“ mündet. Unterwegs moduliert das Stück und wird quasi immer wieder anders ausgeleuchtet – ein Effekt, der sich aus dem Kontrast zur stetigen Grundmelodie erigbt. Zwei Unterbrüche der Solovioline gibt es: in der Mitte verstummt sie, die Streicher spielen eine Art Zwischenspiel. Gegen Ende hin unterbricht sie ihr dreifaches Forte, verstummt. Von der leeren G-Saite aus schraubt sich die Violine dann wieder in die Höhe, während ein Orgelpunkt der Kontrabässe für Stabilität sorgt. Ich habe mich eh schon beim Programmheft-Text von Malte Lohmann bedient, daher von dort zum Schluss gleich noch Adès selbst: „In Air befinden wir uns in der Luft [air] und sehen den Boden [ground] erst am Ende, obwohl das Ganze eigentlich ein ground ist.“

Ein Erlebnis jedenfalls, grad in den drei gehörten Versionen, von denen sich die im Konzertsaal deutlich unterschied: fokussiert, engagiert auf der Stuhlkante gespielt von den jungen Musiker*innen. Und Anne-Sophie Mutter hatte ich davor auch noch nie gesehen und gehört. Zu ihren Aufnahmen mit Karajan usw. hat es mich bisher nie gezogen, aber ihre Einspielung von Sofia Gubaidulinas „In tempus praesens“ (mit dem LSO unter – ausgerechnet – Gergiev, dem Verbrecher) finde ich ebenfalls grossartig. Was gleich zum nächsten Gedanken führte, den ich nach diesem umwerfenden Konzert hatte: auch wenn mich Stravinsky – das älteste, repertoiretechnisch sicher „klassischste“ der gespielten Werke – nicht so recht überzeugte: solche Konzertprogramme tun doch nicht weh, im Gegenteil: sie sind wahnsinnig bereichernd und ich möchte sie regelmässig hören!

Lucerne Festival – KKL, Luzern – 28.08.2022

Mahler Chamber Orchestra
Matthew Truscott
Konzertmeister und musikalische Leitung
Isabelle Faust Violine
Antoine Tamestit Viola

Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges (1745–1799)
Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 11 Nr. 2 (1779)
Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791)
Sinfonia concertante Es-Dur 364 (320d) (1779)
Sinfonie C-Dur KV 425 Linzer (1783)

Am Sonntag fand das Matinée-Konzert dann im KKL statt – leider vor ziemlich leeren Rängen (von all den Konzerten war kein einziges ausverkauft, unabhängig davon, ob nur der erste, zwei, drei oder alle vier Balkone/Galerien in den Verkauf gelangten – dass für das Mahler CO überhaupt mehr als der erste Balkon angeboten wurde, verstehe ich nicht). Einmal mehr ein Konzert ohne Pause, in dem für mich das Highlight absehbar war: mit der Linzer-Symphonie werde ich bisher nur halbwegs warm und das kurze Stück von Bologne (9 Minuten) war überaus hübsch anzuhören (wie die Linzer ja auch) – aber die Sinfonia concertante KV 364 spielt halt schon in einer eigenen Liga, dünkt mich. Da kommt mir auch gleich noch etwas in den Sinn, was Olafsson in seiner Ansage erwähnte: die Sonate KV 457 von 1784 betrachte er als gewissermassen die erste „romantische“ Klaviersonate. Hier werde nicht zur Ergötzung des Adels hübsch aufgespielt, sondern erstmals frei davon ein Werk entwickelt, das ganz sich selbst, ganz der Kunst verpflichtet sei. Das kann man übe KV 364 (Uraufführung vermutlich durch Musiker der Salzburger Hofkapelle) gewiss nicht sagen, aber gerade der langsame Satz ist doch ganz wunderbare Musik, die abseits aller damaligen Konventionen zu stehen scheint. Der Gedanke, dass es sich dabei um eine Art Requiem für die in Paris verstarb – die Reise, um die das Konzertprogramm sich dreht, führte Mozart via Mannheim nach Paris. Er lernte in Mannheim das damalige Modegenre „Sinfonia concertante“ kennen und komponierte in Paris eine mit Soloparts für Oboe, Klarinette, Horn und Fagott. In Paris stellte sich der erhoffte Erfolg nicht ein, Mozart war er eine kleine Nummer, während Saint-Georges ein erfolgreicher Künstler war. Ein paar Jahre später, ein Jahr nach Hochzeit mit Constanze Weber in Wien, reisten die Eheleute erstmals nach Salzburg, um Mozarts Vater und Familie zu treffen. Auf der Rückreise nach Wien entstand innert vier Tagen bei einem Zwischenhalt in Linz eine Symponie für einen musikbegeisterten Grafen, bei dem Mozart unterkam. Gespielt hat das Mahler Chamber Orchestra das alles hervorragend (die Linzer im Stehen, von den Celli abgesehen), aber der Zauber des Konzertes mit Leif Ove Andsnes im November stellte sich nicht ein – zumindest nicht im ersten und dritten Werk des Programmes, Faust und Tamestit spielten wunderbar und überzeugten mich.

Lucerne Festival – Luzerner Saal, KKL, Luzern – 28.08.2022

Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)
Tyshawn Sorey
Dirigent
Chloé Dufresne Dirigentin
Maana Hari Violine
Phoebe Bognár Flöte
Riccardo Acciarino Klarinette
Ryan Jung Klavier

Tyshawn Sorey (*1980)
For Anton Vishio /2019) für Flöte, Klarinette und Klavier – Schweizer Erstaufführung
For Marcos Balter (2020) für Violine und Orchester – Schweizer Erstaufführung

Autoschediasms I–III (2022)

Den Abschluss machte dann um 15 Uhr ein langes Konzert mit Musik von Tyshawn Sorey, der mir bisher als Jazzdrummer viel vertrauter ist denn als Komponist. Die beiden Konzerthälften dauerten je ca. eine Stunde – und das war v.a. in der ersten Musik, die ordentlich Sitzfleisch verlangte. Doch am Ende war ich einmal mehr begeistert. Die ersten beiden Stücke – im Trio und für Violine solo mit kleinem Orchester war das Tempo beide Male sehr langsam: „Viertel = 22-24. Extremely slow precise tempo, but without the feeling of a pulse“ lautet die Anweisung für das Trio, für das Konzert „Viertel = 46. Nebulous, sparse, extremely quiet“. Und das sagt schon sehr viel. Im Trio schienen quasi gleichförmige kleine Einzelereignisse aneinandergereiht zu werden. Oder nicht aneinander, eher neben-, nacheinander, unterbrochen durch Pausen, so langsam war das. Sehr karg, geradezu minimal. Im Violinkonzert (natürlich auch ein Einzelsatz bzw. ein sehr langer Bogen) gab es Verdichtungen, Veränderungen im Klang, vielleicht keine Entwicklung oder Gestaltung im herkömmlichen Sinn, aber es entpuppte sich mit dem Fortschreiten der Zeit als eine faszinierende Klangreise im Zeitlupentempo. Das Stück für Violine und Orchester hatte – eine kurzfristige Programmänderung – die junge Dirigentin Chloé Dufresne einstudiert (ich glaub sie war als Teilnehmerin der Academy bzw. irgendwelcher Workshops vor Ort), weil Sorey wohl bei früheren Konzerten mit dem Resultat nicht zufrieden war und seine ganze Energie der zweiten Konzerthälfte widmen wollte. Direkt vor dem Konzert ging er durch den Raum und blickte überaus skeptisch ins Publikum, das zahlreich erschienen war.

Nach der Pause gab es dann eine Art „conduction“, ein Stück in der Tradition Butch Morris, zu der Mark Sattler ein paar erklärende Worte sagte. Sorey hatte auf dem Dirigentenpult einen Stapel mit Blättern, auf denen Anweisungen standen (auf einem der Fotos hier zu sehen), er deutete auf einzelne Musiker*innen oder Instrumente und Instrumentengruppen, setzte so über eine kurzweilige Stunde lang das Stück allmählich zusammen, verdichtete oder verschlankte, gab Anweisungen in Sachen Intensität, Lautstärke usw. – und wirkte am Ende sehr zufrieden. Holte er Anfangs oft Einzelstimmen aus dem Ensemble – das Klavier, eine Solotrompete, immer wieder eine richtig gute Bratschistin – so kam er im Lauf des Stückes davon eher ab und aktivierte ganze Register, kombinierte sie mit anderen, die schon zuvor eine Anweisung erhalten hatten etc. Solistisch hatten die Musiker*innen teils nicht viel bieten, da kam viel Wohlklang, ein simples Dur-Motiv, das irgendwie wiederholt und etwas variierte wurde – für meine aus dem freien und zeitgenössischen Jazz anderes gewohnte Ohren, klang das manchmal etwas harmlos, ja fast schon nett. Doch durch die Veränderung hin zu grösseren Gruppen und überhaupt immer wieder zunehmende Verdichtungen, entwickelte sich das Stück sehr gut – und am Ende war ich ähnlihch geplättet wie nach einer grossen Band von Leuten wie Brötzmann oder Barry Guy. Die stillere erste Hälfte, die drei unterschiedlichen Besetzungen, die drei auch im Charakter sehr unterschiedlichen Werke, gab das Konzert einen hervorragenden Einblick in das Schaffen von Sorey als Komponist. Und es war ein echt toller Ausklang der vier wunderbaren Tage.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba