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Lucerne Festival – KKL, Luzern – 21.08.2022
MythenEnsembleOrchestral
Graziella Contratto Dirigentin
Golda Schultz Sopran
Gustav Mahler (1860–1911)
Zwei Lieder aus Des Knaben Wunderhorn
bearbeitet für Gesang und Kammerorchester von Klaus Simon
– Wo die schönen Trompeten blasen
– Das irdische Leben
Zwei Lieder nach Gedichten von Friedrich Rückert
bearbeitet für Gesang und Kammerorchester von Daniel Grossmann
– Ich atmet’ einen linden Duft
– Ich bin der Welt abhanden gekommen
Sinfonie Nr. 5 cis-Moll
Bearbeitung für Kammerorchester von Klaus Simon
Ein gar nicht so kurzes Konzert dafür, dass es ohne Pause gegeben wurde … vier Lied-Arrangements und danach die fünfte Symphonie von Gustav Mahler. Klaus Simon hat die beiden Wunderhorn-Lieder und die Symphonie für Kammerorchester arrangiert. Ein Streichquartett, acht Bläser (Klarinette und Horn doppelt, je einmal Flöte, Oboe/Englischorn, Fagott und Trompete), ein Kontrabass, ein Klavier, ein Akkordeon (Teodoro Anzellotti), eine Harfe (nur in der Symphonie) und zwei Schlagzeuger … so transparent kriegt man die Musik Gustav Mahlers sonst kaum zu hören – und es war eine Herausforderung, aber auch ein grossartiges Erlebnis! Im Ensembel sitzen diverse vertraute Musiker*innen – ich erkenne natürlich besonders die Namen derjenigen aus dem Tonhalle Orchester und der Philharmonia des Opernhauses Zürich, andere haben mit dem Kammerorchester Basel, dem Zürcher Kammerorchester usw. gespielt oder besonders als Kammermusiker*innen gewirkt.
Mahler wählte für die Uraufführung der Rückert-Lieder 1905 den Kammermusiksaal im Wiener Musikverein und schrieb an Richard Strauss: „Nicht eine künstlerische Sonderstellung wünsche ich! […] Nur einen kleinen Saal für meine im ‚Kammermusikton‘ gehaltenen Gesänge. […] Ich habe hier diese Lieder (trotz allen Drängens aus ‚geschäftlichen‘ Gründen) aus künstlerischen Gründen nur im kleinen Saale gemacht, und sie haben nur dahin gepasst.“ – Der grosse Saal des KKL ist natürlich riesig, aber dennoch ein guter Ort für intime Musik. Nach wenigen Takten hatten die Ohren sich angepasst – und mit dem wunderbaren Gesang von Golda Schultz bestand auch keinerlei Mangel an Emotionen, an Intensität.
Klaus Simon (er kommt aus Freiburg, ist Liedbegleiter und leitet die Holst-Sinfonietta) hat sich für seine Bearbeitungen an den Orchesterfassungen orientiert. „Das Klavier und Mahler sind keine Liebesbeziehung eingegangen. Dazu fehlte ihm der Sinn. Er war ja auch kein genuiner Pianist wie Schumann oder Brahms. Mahlers Klavierfassungen sind pianistisch leider oft sehr unbefriedigend oder ungeschickt gesetzt. Das musste ich als Pianist immer wieder leidvoll feststellen“ (wie alle Zitate aus dem Text von Georg Rudiger im Programmheft).
Die Reduktion der Besetzung gestattet fast eine Art Blick hinter die Kulissen: das Gerüst der Musik wird hörbar, die Melodien, das Zusammenfinden der Stimmen entfalten sich auf ganz andere Art. Das Klavier und ein Akkordeon (bzw. Harmonium) sind die einzigen zusätzlichen Instrumente, die „Simon dezent einsetzt, um fehlende Harmonien zu ergänzen oder manchmal auch den Orchestersatz zu binden.“ Verloren geht dabei – ausser der Wucht natürlich – nichts, wenn etwa im Adagietto die längste Zeit ein Streichquintett (mit Kontrabass, bald mit zurückhaltenden Akzenten vom Klavier und der Harfe) zu hören ist, war alles Essenzielle da – aber eben auch eine Nähe, die sich auch in Contrattos Dirigat spiegelte: „[D]ie Leitungsperspektive erfolgt aus der Mitte heraus, weniger bekenntnishaft, dafür partizipativer. Was für mich von Anfang an einen grossen Reiz ausmachte, war die Individualisierung der Stimmen in Mahlers kontrapunktischem Satz. Er hielt die Einzelparts der Fünften sogar für ’so schwierig zu spielen, dass sie eigentlich lauter Solisten bedürften‘. Genauso ist es.“
Ein Vorbild dieser Art, Mahler aufzuführen, ist natürlich Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“, bei dem u.a. die Vierte von Mahler in einer kammermusikalischen Besetzung zu hören war. Simon, der inzwischen ausser der Zweiten und der Achten alle Symphonien Mahlers für kleine Besetzung bearbeitet hat (Contratto und das MythenEnsembleOrchestral haben die Erste und Vierte bereits auf CD eingespielt) und für nächstes Jahr plant er eine neue Fassung der Kindertotenlieder, hält sich dabei stets an die dynamischen Angaben Mahlers und überlässt das Austarieren, das natürlich anders geschehen muss als bei einer grossen Besetzung, den Interpret*innen: „Ich verändere niemals die Dynamik und vertraue immer den Musikerinnen und Musikern, es selbst zu hören, was passt und was nicht. Natürlich sind fünf Streicher im Verhältnis zu acht Bläsern klanglich im Nachteil. Man muss einfach aufeinander hören. Und ich lasse ausdrücklich auch chorische Streicher zu, wenn jemand mehr Streicherfülle braucht.“
Für meine Ohren war das wirklich umwerfend: sowohl die vier Lieder (besonders natürlich das letzte!) wie auch die Symphonie konnte ich neu entdecken. Die Polyphonie, die Dissonanzen – die ganze Modernität von Mahlers Musik, aber auch die „lüpfigen“, fast ländlerhaften Elemente, all das wird in dieser Fassung sehr schön hörbar. Die Ausbrüche und Zuspitzungen sind auch in dieser „kleinen“ Version da. Die Musik Mahlers bleibt allerdings auch in diesem „Taschenformat“ eine Herausforderung!
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #162: 8.4., 22:00; # 163: 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba