Antwort auf: jazz in den 1990ern

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friedrich

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Tethered Moon – First Meeting (1997)

Über Paul Motian streifen wir dieses Trio. Neben PM am Schlagzeug Masabumi Kikuchi am Piano und Gary Peacock am Bass. Das Album ist hier wohlbekannt und beliebt. Ich glaube ich habe es mal während meiner Piano-Trio-Phase gekauft, war eine Weile davon gleichzeitig irritiert und fasziniert, später gelangweilt und verramschte das Album dann wieder. Ein paar Jahre später habe ich es dann wieder neu angeschafft. Jetzt hat es seinen festen Platz in der Sammlung.

Ein Trio, das sich hier gerade erst findet und an die Musik herantastet, manchmal unentschieden, Musik mit Leerstellen, die eher umrahmt als gefüllt werden. Darin liegt die Spannung.

Über das Paul Motian Trio kommen wir aber auch zu …

Bill Frisell – This Land (1994)

Meine Erstbegegnung mit Bill Frisell als Leader. Das Vorgängeralbum Have A Little Faith bestand nur aus Fremdkompositionen von Aaron Copland bis Madonna. Hier ausschließlich Eigenkompositionen von Frisell. Aber ähnlich wie Faith ist das hier auch vor allem Ensemble-Musik, voller geschichteten Klangreichtum und Spannung. Drei Bläser (Don Byron cl., Billy Drewes alt-sax., Curtis Fowlkes trb.), dazu bass, drums und natürlich Bill Frisell Gitarre. Jedes Stück scheint eine Szene, ein Bild, eine Atmosphäre heraufzubeschwören, das ganze Album hat eine Dramaturgie, die in dem großartigen, fast 10-minütigen Stück Julius Hemphill (nach dem Saxofonisten) seinen Höhepunkt findet. Zähflüssig, sich langsam aufbauend und unglaublich spannend, bis es zum kreischenden Höhepunkt kommt.

Recht weit durchkomponiert, aber mit großen Freiräumen, in denen die Solisten ihre Auftritte haben – ganz anders als bei Faith. This Land hat eine deutlich größere Dynamik. Bill Frisell hat hier auch einiges seiner Gitarreneffekte am Start, aber eigentlich steht hier alles im Dienste des Gesamtbilds. Gemeinsam haben die beiden Alben ihre Wurzeln in traditioneller us-amerikanischer Musik, This Land jedoch mehr in Folklore und Country als Faith, das aus US-Klassik des 19./20. Jhdts. und Pop schöpft.

Übrigens: Das ist Landmusik, ganz im Gegensatz zu der Großstadtmusik von Joe Lovanos Rush Hour oder Wynton Marsalis Citi Movement. Was würde der zu This Land sagen? Is it überhaupt jazz?

Tolle Platte, auf der Bill Frisell seine eigene Sprache findet, glaube ich. Die formuliert er später weiter aus, variiert und verzweigt sie, von Filmmusik über Improvisation bis zu Krach.

Coverfoto: Railroad Station, Edwards, Mississippi, Februar 1936 by Walker Evans

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)