Antwort auf: jazz in den 1990ern

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gypsy-tail-wind
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Vielen Dank fürs Aufgreifen der Fäden! Ich muss nochmal betonen, dass ich damals hauptsächlich anderes hörte, dass ich über beschränkte Mittel verfügte (sowas wie 2-3 CDs pro Monat, nur, wenn ich 1-2 Mal pro Jahr in den Schulferien eine Woche arbeiten konnte, habe ich ein paar hundert Franken verdient und konnte mir z.B. eine Stereo-Anlage, ein gebrauchtes Saxophon und natürlich CDs – und seltener LPs – kaufen). Davon, was ich hauptsächlich verfolgte, habt ihr wohl einen ganz guten Eindruck, wenn ihr seit meinem Dazustossen zum Forum mit einem halben Auge verfolgt habt, was ich so geschrieben habe: Hard Bop und das Davor (Bebop/Cool, einiges aus der Swing-Ära) und Danach (von der Blue Note Avantgarde zur Fire Music). Die Siebziger und Achtziger waren bis auf ein paar Ausnahmen („Bitches Brew“, „Return to Forever“, etwas Weather Report) weit weg, auch Leute wie Shepp oder Sanders verfolgte ich in der Regel nicht weiter als bis zu den Sachen, die noch einigermassen „klassisch“ waren – bei Shepp war damals z.B. mit „The Way Ahead“ Schluss – aber das lag zumindest auch am Angebot). Für diverse Öffnungen gerade in den Siebzigern können sich ein paar Leute von hier sicher nicht ganz aus der Verantwortung stehlen (aber gut, Miles Davis hab ich z.B. in den frühen Nullern dann auch selbst schon durchgehört, die Digipack-Reissues der Doppelalben sind alle von 1997 herum, ich kannte das schon in den Neunzigern, aber eingeschlagen hatte das nicht alles auf Anhieb – „Live-Evil“ total, aber für „Dark Magus“ brauchte ich z.B. noch ein paar Jahre). Aber es geht hier ja um die Neunziger … das nur als Erklärung, warum meine Damals-Listen recht arbiträr wirken mögen – das eine oder andere kam definitiv aus den Grabbelkisten mit heruntergeschriebenen CDs.

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Aktuelles
– Diana Krall „Only Trust Your Heart“, „All for You“, „Love Scenes“, „When I Look In Your Eyes“
– Brad Mehldau „Live at the Village Vanguard – The Art of the Trio Vol. 2“, „Songs – The Art of the Trio Vol. 3“
– Joshua Redman „Mood Swing“, „Spirit of the Moment – Live at the Village Vanguard“
– Greg Osby „Banned in New York“
– Jacky Terrasson „Alive“
– Seamus Blake „The Bloomdaddies“
– Branford Marsalis „Buckshot Le Fonque“
– Bill Stewart „Telepathy“
Das sind wohl die Alben von damals jüngeren Leuten, die mir – in ungefähr der Reihenfolge – nah waren.

den hype um diana krall habe ich schon ganz gut verstanden, abgesehen vom erotischen aspekt (überhaupt: die zweite welle der young lions – krall, redman, mehldau, carter – wurde doch vor allem als hot verkauft, nicht als ehrwürdige traditionalisten, oder? vielleicht haben sie auch deswegen mehr spaß gemacht – bis dann david sanchez mit den ganzen rollkragenpulloverfotos kam, da wurde es dann lächerlich) ist sie einfach sehr gut und auch als sängerin liegt sie mir durchaus. BANNED IN NEW YORK, klar, das war ein neuer traditionalismus-bezug, von dem aus mich allerdings moran dann mehr interessiert hat. terrasson hat mich nie gekriegt, blake und stewart sind mir eher unangenehm aufgefallen (bei blake weiß ich nicht mehr, warum ich den so negativ abgespeichert habe, eigentlich kenne ich den gar nicht).
BUCKSHOT LEFONQUE ist ein schwieriges ding. natürlich macht das spaß und kommt auch sehr lässig daher, all die prominenten leute, die sich da so ungzwingen darauf einließen (hargrove usw.), waren nicht oberflächlich – trotzdem hat mich das genauso wenig überzeugt wie die anderen hiphop/dj-kultur-flirts vn jazzmusikern der zeit (sehr ok fand ich das album von courtney pine, dessen kurze blüte das ja leider auch war), mit der großen ausnahme von graham haynes‘ TRANSITION, aber das schielte auch überhaupt nicht auf den markt. umgekehrt hat das immer besser funktioniert (djs bedienen sich beim jazz), interessanterweise. das war auf jeden fall eine interessante erkenntnis der 90er – dass vielleicht die djs die wahren traditionalisten der schwarzen musik sind.

„Buckshot LeFonque“ war bei mir damals halt so ein Ohröffner in vielerlei Hinsicht. Ich war 15, hatte mindestens 15 mal mehr Maceo Parker gehört als Charlie Parker … im Rückblick finde ich das jetzt auch nicht mehr super – es ist ja in der Liste aus heutiger Sicht nicht mehr drin. Aber geprägt hat es mich damals halt. Haynes habe ich auch in erster Linie dir zu verdanken (vom Willisau-Mitschnitt, den ich erwähnte, mal abgesehen – aber damals gab’s da einfach nichts, womit ich da hätte nachlegen können, zudem hörte ich diese Mitschnitte oft und betrachtete sie als gleichwertig wie Alben, von denen ich ja eben nicht so viele kaufen konnte … ich hatte dann halt diesen Mitschnitt und suchte nicht auch noch nach einer CD).

Pine höre ich ja gerade, wie ich das tippe („Modern Jazz Stories“, 1995 erschienen, am 2.5.2022 in meine Sammlung gekommen ;-) ) – und da bin ich auch gleich wieder überrascht: war mir beim Festivalrückblick nicht sicher, aber jetzt bin ich es wieder: auch von ihm hatte ich einen Mitschnitt, und zwar vermutlich den aus Willisau 1998 – und daher klingt die CD teils auch enorm vertraut (einzelne Stücke waren 1998 noch Teil des Sets, Playlist ist da auch verlinkt, bzw direkt hier – vor allem „Don’t Explain“ hatte sich eingebrannt – als Sängerin war Mary Pierce dabei, die mir sonst nicht sagt).

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ECM
– Tomasz Stanko „Litania – Music of Krysztof Komeda“
– Kenny Wheeler/Lee Konitz/Bill Frisell/Dave Holland „Angel Song“
– Marilyn Crispell „Nothing Ever Was, Anyway – Music of Annette Peacock“
– Hal Russell „The Hal Russell Story“
– Charles Lloyd „Canto“
– Keith Jarrett, „Tokyo ’96“
ECM-CDs waren mir in den allermeisten Fällen zu teuer.

ecm habe ich viel gehört, nachdem mich EXTENSIONS so geflasht hat und ich auch die ganzen jarrett-aufnahmen nachholte. so viel übriggeblieben ist allerdings bei mir da nicht, jedenfalls nicht die von dir genannten, auch TOKYO ’96 finde ich ja vergleichsweise schwach. dave hollands bands interessierten mich immer weniger, mit bley kam ich nicht klar, mit stanko auch nicht, stenson hatte ich erst später entdeckt (mit SERENITY, 2000), das comeback von gateway überzeugte mich nicht. das vermischt sich in der erinnerung bei mir aber auch mit den ecm-aufnahmen der 70er und 80er, die ich mir in den 90ern erschloss.

Von Gateway kannte ich damals nur dieses eine der beiden Comeback-Alben – auch das ein Zufallskauf. Stenson hörte ich 2001 oder 2002 zweimal live, fand ihn im Trio super, hatte ein paar Live-Mitschnitte und daher nicht das Bedürfnis, Alben zu kaufen – ein Fehler, wie mir heute klar ist.
Das Jarrett-Album ist auch so eins, das ich halt günstig kaufen konnte – ich fand „Tribute“ viel besser, aber das ist halt nicht aus den Neunzigern. Von „Still Live“ hatte ich eine Kopie auf Kassette, und ein paar Solo-Alben lagen auch schon da, vor allem Bremen/Lausanne, das ich regulär im Laden kaufte.
Und Stanko hat von den Alben oben bei mir zunächst am meisten eingeschlagen. Später Hal Russell auch wieder – aber v.a. Stanko hörte ich in einer Zeit, in der ich dafür total empfänglich war, mich drin verlieren konnte (ähnlich wie in „Dummy“ von Portishead).

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Alte Meister:
– Abdullah Ibrahim „Yarona“
– Teddy Edwards „Mississippi Lad“, „Tango in Harlem“
– Eddie Harris „There Was a Time – Echo of Harlem“, „Funk Project – Listen Here“
– Shirley Horn „You Won’t Forget Me“, „I Remember Miles“
– Jackie McLean „Hat Trick – Jackie McLean Meets Junko Onishi“, „Nature Boy“
– Tommy Flanagan „Sunset and the Mockingbird“
– Art Farmer „Art in Wroclaw“, „Live at Stanford Jazzworkshop“
– Helen Merrill „Brownie – Homage to Clifford Brown“
– Joe Lovano „Trio Fascination (Edition One)“
– Bennie Wallace „Someone to Watch Over Me“
– Steve Swallow „Always Pack Your Uniform on Top“

war lovano damals schon ein alter meister? die anderen hatte ich damals noch nicht auf dem schirm, beim merrill-album musste ich erstmal recherchieren, wer „brownie“ gewesen sein soll… nur YOU WON’T FORGET ME erschloss mir ende der 90er den vokaljazz (mit den sachen von abbey lincoln, die mich natürlich wegen der m-base-nähe ihrer musiker interessierten, dann aber – nach einer gewöhnungszeit, muss ich zugeben – faszinierten mich horn und lincoln ganz individuell).

Zu den drei letzten schrieb ich ja, dass die nicht wirklich dazu gehörten, aber ich nicht wusste, wohin sonst mit ihnen (Swallow geht allerdings noch durch, der fing ja früh genug an). Brownie hatte ich halt damals schon – in den späten 90ern gab es auch ein paar Sommer, in denen ich zuhause blieb den ganze Tag Musik hörte und abends nach Büroschluss für 4 Stunden pro Tag am Flughafen Büros putzen ging – danach konnte ich mir sowas wie die Boxen von Brownie und Kirk auf EmArcy leisten … und auch Mosaic-Boxen, bei denen ich mit Tristano/Konitz/Marsh eingestiegen bin (Ende 1997).

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Avantgarde
– Charles Gayle „Touchin‘ on Trane“
– Andrew Hill „Dusk“
– Enrico Rava/Ran Blake „Duo en noir“
– Jeanne Lee/Mal Waldron „After Hours“
– Vienna Art Orchestra „20th Anniversary“

gayle schlug ein, rava/blake fand ich auch toll, DUSK kam erst später (und ist immer noch kein lieblingsalbum. lee/waldron und die späte lee/blake kamen irgendwann in den nullern, ich höre sie aber vergleichweise wenig. jeanne lee geht sowieso nicht immer, bei mir jedenfalls.

Bin mir nicht sicher, ob ich die späte Lee/Blake (You Stepped Out of a Cloud) schon in den 90ern kannte oder erst etwas später. Damals war es das Album mit Waldron, das bei mir einschlug. Den Klassiker mit Blake kannte ich noch nicht, dahin kam ich erst ein paar Jahre später (die CD-Ausgabe, die ich habe, ist von 2000).
Gayle war mir – beinah – zuviel damals. Ich hatte – in den 90ern – auch mal einen Packen LPs von einem Lehrer/Musiker ausleihen dürfen, da war z.B. der Blue Note-Twofer mit dem Transition- und dem United Artists-Album von Cecil Taylor dabei, Sun Ra im Schwarzwald und noch einiges mehr (er hatte die Auswahl für mich kuratiert, nicht ich drum gebeten – Sun Ra kannte ich davor noch überhaupt nicht). Gayle, diese unglaubliche Wucht … ich konnte das damals nicht einordnen (kannte auch Brötzmann noch nicht, das ging wohl so um 2001/2 los, dass ich da mal was hörte, was mich dann auch gleich begeisterte). Den späten Coltrane hatte ich mir bis dahin erarbeitet – da gab es alles: Alben, die sofort geklickt hatten (Sun Ship, Meditations) und andere, mit denen ich viele Anläufe brauchte (Transition, die Japan-Konzerte, Village Vanguard Again – letztere war auch eine auf dem erwähnten Stapel Leih-LPs)

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Ferner liefen
Die weiteren Alben aus den Neunzigern, die ich ziemlich sicher schon in den Neunzigern kannte:
(…)
Betty Carter – Feed the Fire
Joe Chambers – Mirrors
Jan Garbarek/Miroslav Vitous/Peter Erskine – Star
Cassandra Wilson – Blue Light ‘Til Dawn
Cassandra Wilson – New Moon Daughter

das wären – neben miles – die einzigen überschneidungen, was ich ziemlich krass finde. wahrscheinlich war ich damals aber auch noch zu stark im m-base-netzwerk eingespannt, wo diese leute, die du da nennst, eher keine rolle gespielt haben.

Wie gesagt, da sind wieder eine Menge Zufallskäufe dabei … die Wilson-Alben habe ich z.B. nicht gezielt gesucht. Und „StAR“ kannte ich nur aus der Bibliothek (hatte ich auf Kassette überspielt) – und fand das damals nicht sehr ansprechend. Es war aber dennoch ein Türchen ins Werk von Garbarek, insofern mir schon früh klar war, dass er nicht nur kitschigen Wohlklang mit Brüninghaus/Berger/Gurtu konnte (von denen hatte meine Mutter eine CD im Regal, „Visible World“, mit der ich mich nie anfreunden konnte).

Und eben: da stehen jetzt dutzende Dinge, weswegen die biographische Schiene relevant war – und es teils bleibt: gewisse Dinge, die ich in den Neunzigern nicht mitgekriegt habe, habe ich bis heute nicht nachgeholt.

Aber gut, ich muss als nächstes mal in Ruhe die Listen von @imernst und @ soulpope studieren – da sind sicher ein paar schöne Anregungen drin – und bei dir @vorgarten auch: das Oxley-Album kenne ich z.B. noch nicht.

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