Antwort auf: jazz in den 1990ern

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gypsy-tail-wind
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Die Memory Lane hinab … das war mein Hörprogramm heute beim zusammenstellen des Posts oben, und ich hab ein wenig mitgeschrieben (ausser bei Chapter 12, das ist so ein Acid Jazz-Hip Hop-Ding mit tollen Soli von Andy Scherrer am Sax und einer exzellenten Band, es gibt eine Version von „Fly with the Wind“ von McCoy Tyner, Mike Mory ist der Rapper und DJ an den Turntables, Jean-Paul Brodbeck sitzt an den Tasten, sein Bruder Matthias am Schlagzeug, Wolfgang Zwiauer spielt die Bassgitarre und Michael Wipf Percussion).

Buckshot LeFonque (Columbia, 1994/95)
Branford Marsalis Trio – The Dark Keys (Columbia, 1996)
Chapter 12 (Musikszene Schweiz, 1995)
Joshua Redman – MoodSwing (Warner, 1994)
Introducing Brad Mehldau (Warner, 1995)
Brad Mehldau – The Art of the Trio, Vol. 1 (Warner, 1997)

Der Moment, in dem Robert Hurst in „The Black Widow Blues“ (nach dem Hip-Hop-styled kurzen Intro) zu walken anfängt – das ist schon so ziemlich das, was mich am Jazz schon mit 13 oder 14 Jahre zu faszinieren anfing. „Buckshot Le Fonque“ kam aber erst 1994 heraus (das Jahr, in dem ich 15 wurde), ich hatte zunächst die reguläre CD und holte mir ein Jahr später dann noch die 2-CD-Version, die auch als Tour-Promo erstellt wurde. Zürich ist eine Station, die im Innern der Traycard aufgeführt ist, aber das kam damals für mich nicht in Frage (interessierte mich auch zu wenig, ich sass zuhause und hörte Musik oder versuchte, mit Freunden welche zu spielen.

Aus heutiger Sicht höre ich das wohl so ähnlich wie „RH Factor“ von Roy Hargrove (der hier durchaus schöne Soli beiträgt), allerdings hab ich RH Factor erst nach Hargroves verfrühtem Tod angehört, damals (2003/4) war ich schon ganz woanders unterwegs. mit Hip Hop kannte ich mich damals denkbar schlecht aus (ich nahm das eine oder andere mit von dem, was in der Schule so lief, aber da war nur wenig dabei, was mich halbwegs interessierte, Nas zum Beispiel). Ich zog da in meiner Unwissenheit eher Brücken zum elektrischen Miles, den ich schon kannte („Amandla“ war – ist? – eine Lieblings-CD meiner Mutter, ich hatte damals auch „We Want Miles“ und bald auch „Tutu“, „Decoy“, „You’re Under Arrest“ und „Man with the Horn“ (alle aus einem Second-Hand-Laden, von „Tutu“ abgesehen hab ich die CDs alle immer noch, bei „Tutu“ gab’s dann mal die Deluxe-Ausgabe).

Bin beim Wiederhören überrascht, da hat sich doch echt viel eingebrannt, ich kenne das immer noch super gut, bis zu Einzelheiten wie Kevin Eubanks akustische Gitarre in „Ain’t It Funny“, die Lyrics zu „Mona Lisa“, natürlich Maya Angelou (hab ich nie richtig vertieft, aber hier bin ich ihr zum ersten Mal begegnet) oder das „out“-Solo von Marsalis in „Breakfast @ Denny’s“. Das hat mich aber damals nicht angeregt, den Sidemen nachzugehen, wie ich es z.B. mit Alben von Miles Davis (Zeitraum „Bags‘ Groove“ bis ca. George Coleman, das Second Quintet begann ich erst ein oder zwei Jahre später zu hören, „E.S.P.“, „Miles Smiles“ und „Nefertiti“ und „Prince of Darkness“ zunächst, aber „In a Silent Way“ liebte ich da bereits, „Bitches Brew“ kannte ich, verstand ich aber noch nicht – mir fehlte das Stück zwischen George Coleman und „In a Silent Way“, das kam dann parallel zum Vertiefen in das Werk von Eric Dolphy, Mingus‘ 1964er Band usw.).

„The Dark Keys“ – das einzige andere Album von Branford Marsalis, das ich schon in den Neunzigern kaufte. Wo und wann und warum weiss ich allerdings nicht mehr (ich tippe so auf 1998/99 gekauft). Seltsamer Mix mit Marsalis auf im einen und dem befreit aufspielenden Jeff „Tain“ Watts im anderen Kanal. Der Kontrabass von Reginald Veal funktioniert als Kitt zwischen den beiden – und hat weniger Wumms als Hurst oder Moffett. Das Trio war zu dem Zeitpunkt dank Sonny Rollins schon längst eine Lieblingsformation von mir. Das Album kenne ich nicht gut, es überzeugt das auch heute nicht so recht. Da wird mit viel Kraft gespielt, es werden ganz viele Baustellen und Felder beackert, das geht wohl in zuviele Richtungen und verliert sich dabei ein wenig selbst. Die Gastspots von Joe Lovano und Kenny Garret (je auf einem der acht Stücke) bringen etwas Auflockerung, ich kann den Eindruck, dass Marsalis sich an die Gäste anlehnt, aber nciht ganz erwehren. In „Lykeif“ glänzt Marsalis am Sopransax mit besonders schönem Ton. Ein Highlight ist für mich wohl das einfache „Bluetain“ mit Marsalis am Tenor – sein Ton klingt dunkel und verschattet hier, er ergeht sich nicht laufend in rasenden Läufen, auch die Doubletime-Passagen wirken entspannt und gelassen.

„MoodSwing“ von Joshua Redman war eins meiner liebsten Young Lions-Alben damals – eine exzellente Band mit Brad Mehldau, Christian McBride und Brian Blade, und ein sehr „moody“ Einstieg mit einer Variation über „Flamenco Sketches“ zwei Changes, ein einfaches Ostinato, ein leicher „spanish tinge“, gute Soli … eine Art, relativ frei zu spielen, ohne ins Atonale zu gleiten oder ins Falsett zu gehen (wie Marsalis es öfter tut). Das zweite Stück, „Chill“, klingt dann eher nach Stanley Turrentine – aber das Material stammt alles von Redman, der auch gleich die Liner Notes schreiben durfte:

… jazz in the 90’s is alive and well. It is thriving, creative, inspired, provocative, and original. What jazz suffers from today is not artistic stagnation but popular mystification. Jazz, in other words, has a rotten public image–an image which was epitomized in a comment an acquaintance made to me just the other day:

„Jazz is cool and all, but it’s not really my type of thing. I mean, I respect it, but I can’t really get into it. I like music that makes me feel soemthing. Jazz isn’t really about that. With jazz you gotta think all the time. Jazz is all complicated and weird. It’s for those special types of people who like talking about stuff and figuring things out. Jazz is way too deep for me.“

Und natürlich setzt Redman dann dazu an, ein Plädoyer für Jazz, der auf „feelings“ abzielt, zu halten. Und das macht er durchaus auch auf dem Album selbst. Mir scheint vom Material her tatsächlich Stanley Turrentine sehr oft Pate gestanden zu haben – aber nicht vom Ton her, der bei Redman viel schlanker daher kommt, ohne dieses weite Vibrato. Da stecken eher Coltrane und Shorter drin, doch Redman klingt weicher, rauht den Ton oft etwas mehr auf. Für meine Ohren klingt das heute alles so, als hätten die vier damals versucht, das ultimativ hippe Album zu produzieren: funky ohne Funk zu spielen (aber McBride hat das alles eh drauf), sophisticated ohne deshalb kompliziert zu werden usw. Mehldau klingt ebenfalls weicher, lyrischer als etwa Horace Silver, aber diese Blue Note/Hard Bop-Ecke scheint mir tatsächlich den Mix ebenso sehr zu prägen wie der modale Jazz von Miles Davis. Den Mix finde ich auch heute noch recht attraktiv – ich höre das jedenfalls tatsächlich auch heute noch lieber als „The Dark Keys“.

Young Werther’s American Angst – Brad Mehldau, vielleicht von den Junglöwen der 90er jener Musiker, der mir über die Jahre am wichtigsten blieb. Oder eher: wurde – nach einer längeren Pause, die nach „Largo“ einsetzte und wohl um die zehn Jahre dauerte. Auf dem Debut für Warner (wenn ich bei Kenny Garrett neulich den Produzenten Matt Pierson erwähnte, dann hat das damit zu tun, dass ich nach wie vor finde, diese Mehldau-CDs – und auch die von Dewey Redman – seien sehr schön gestaltete und hervorragend produzierte Alben) gibt es fünf Stücke mit dem eigenen Trio zum Auftakt und dann vier weitere mit Christian McBride und Brian Blade (den Kollegen von Mehldau auf Redmans „MoodSwing“). Vier Originals stehen fünf Standards gegenüber, drei Songs, Ellingtons „Prelude to a Kiss“ und Coltranes „Countdown“ – auf Liner Notes wird verzichtet, dafür gibt es ein paar Fotos vom jungen hübschen Mann beim Kaffeetrinken, Nachdenken und – das ging 1995 noch problemlos – mit Fluppe beim Klavierspielen. Und ich glaube durchaus, dass die Klasse von Mehldau hier bereits zu hören ist, aber auch heute packt mich das Album weniger als das bei den foldenden der Fall ist (besonders Vols. 2 und 3 aus der „The Art of the Trio“-Reihe).

Erst 1997 folgte Mehldaus zweites Album für Warner – dazwischen hatte er allerdings an „Warner Jams Vol. 1“ mitgewirkt (ich habe neulich, als ich mal wieder James Moody etwas weiter vertiefte, Vol. 2 der Jams gekauft, am Klavier [!] ist dort aber Larry Goldings zu hören, und damit endete die Reihe glaub ich auch schon wieder, wobei ich grad noch das hier entdecke, aber das muss man bestimmt nicht haben, Vol. 1 sieht auch nicht so wirklich danach aus). Hier ist der exquisite Touch von Mehldau ausgereift zu hören. Er spielt zwei Standards zum Einstieg – natürlich sind die stets passend gewählt, ga’bs davor „It Might As Well Be Spring“ und „My Romance“ um Originals namens „Young Werther“ und „Angst“ herum, sind hier „Blame It On My Youth“, „I Fall in Love Too Easily“ oder „Nobody Else But Me“ zu hören. Der alte Ficker aus Weimar ist auch wieder dabei, dieses Mal mit „Mignon’s Song“, das auf „Lament for Linus“ folgt – aber ob das eine Peanuts-Referenz ist, weiss ich leider nicht (statt Liner Notes findet sich hier ein Auszug aus Rilkes Orpheus-Sonnetten). Die „Blackbird“-Version zählt vermutlich zu meinen liebsten Beatles-Covern (die ich aber eh immer gleich vergesse, weil ich Beatles-Cover von Jazzern an sich was doofes finde). Aber verdammt, das ist einfach gut, was der hier macht. Und er bewegt sich auch auf einem Territorium, das weder zu nah bei Bill Evans noch zu nach bei Keith Jarrett ist, finde ich. Auch wenn es zu beiden Bezüge gibt, das lässt sich ja kaum vermeiden.

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