Antwort auf: jazz in den 1990ern

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gypsy-tail-wind
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Ich glaub ich muss das in zwei Posts machen (oder drei, falles es auch noch eine Liste geben soll) – fange mal mit den Konzerten an, das ist sehr überschaubar, die lassen sich nämlich an einer Hand abzählen. Zuhause lief zwar unter anderem auch Jazz (dazu dann mehr im nächsten Post – ich hab das eh alles schon anderswo erzählt aber bündle es gerne hier ein wenig), aber ausser mindestens einmal Abdullah Ibrahim solo mit der ganzen Familie (so um 1992/93 herum, Ort weiss ich nicht mehr) besuchten wir ab und zu klassische Konzerte (wohl so bis ich 11 oder 12 war) und gingen auch mal alle zusammen zu Bob Dylan und Stephan Eicher (beides wohl 1991, bei Dylan war’s eine Tour nach „Under the Red Sky“, was eine der ersten CDs war, die mein Vater gekauft hat, nachdem eine neue Stereoanlage inkl. CD-Player angeschafft worden war; bei Eicher kamen Patent Ochsner als Gäste vorbei und sangen ihre Hit-Single „Bälpmoos“ vom Album „Schlachtplatte“ von 1991).

Die Jazzkonzerte musste ich also selber an die Hand nehmen und mit dem kleinen Taschengeld lag nicht viel drin. Umso schöner, als Lee Konitz in der Nähe spielte – und das auch noch mit Paul Motian, den ich von den Trio-Aufnahmen mit Bill Evans her kannte, und mit Steve Swallow, den ich da allerdings noch nicht kannte. Davor ging ich einmal mit zwei Schulkameraden ins alte Moods – Utzinger und Rast kannte ich von einer Crossover-CD, „Chapter 12“, so ein Jazz-Hip-Hop-Ding, bei dem Andy Scherrer (ts) und Jean-Paul Brodbeck (keys) mitwirkten. Und da kommt mir direkt die Basler Hip-Hop-Gruppe P-27 in den Sinn: die spielte um die Zeit ihres Albums „Jetzt funkt’s aa“ („Jetzt fängt’s/funkt’s an“) bei uns an der Schule. Die CD steht hier auch noch, und auch die wurde mit einer Live-Band eingespielt, zu der wieder dieselben Leute gehörten (Wolfgang Zwiauer am E-Bass und Felix Utzinger an der Gitarre auch noch). Hab anderswo vor einigen Jahren mal ein paar Notizen zu diesen ersten Konzerten angefertigt, so 15-20 Jahre danach:

21. Mai 1996 – Annatina Escher – Moods, Zürich | Mein einziger Besuch im alten Moods im ehemaligen Bahnhofsbüffet Selnau galt – eher zufällig – dem Trio der Kontrabassistin Annatina Escher. Es waren Felix Utzinger (g) und Kaspar Rast (d), die eine Gruppe von Gymnasiasten in die Stadt lockten – bekannt vom Album „Jetzt funkts aa“ der Basler Hip Hop-Band P-27, das mit einer exzellenten Live-Band eingespielt wurde (auch dabei Saxophonist Andy Scherrer und E-Bassist Wolfgang Zwiauer, die beide auch auf dem Jazz-Funk-Album „Chapter 12“ mitwirkten, das mir damals ebenfalls gut gefiel – bei aller Faszination für Miles und Blue Note, irgendeine Gegenwartsanbindung braucht der Pennäler halt doch auch, und es gibt schlechtere Einstiegsdrogen).

7. Mai 1998 – Lee Konitz-Steve Swallow-Paul Motian – Uster, Jazzcontainer | Ein unvergesslicher Abend. Konitz, damals siebzig Jahre jung, spielt unverstärkt in der grossen Fabrikhalle, in der das Publikum es sich auf alten Sofas gemütlich macht. Ein magischer Fluss von Ideen aus einem unerschöpflichen Repertoire. Neben ihm Steve Swallow, der Mann mit dem trockensten Sound an der elektrischen Bassgitarre, dahinter Paul Motian. Der Drummer war mir damals nur von den berühmten Aufnahmen des Bill Evans Trios mit Scott LaFaro ein Begriff. Dort spielt er, noch grün hinter den Ohren und weit von seinem reifen Stil entfernt, minimal, zurückhaltend, leise, fügt sich in das famose Interplay des Trios ein, dessen Musik sich von europäischer Kammermusik beeinflussen liess. Live war Motian ein Schock: laut, zupackend, intensiv, sehr dicht, ja nahezu polyrhythmisch (ich war damals schon zwei, drei Jahre an Coltrane dran und Elvin Jones war mein Lieblingsdrummer, der Freund mit dem ich beim Konzert war, hätte wohl Max Roach genannt – wir beide hatten vor Motian noch keinen grossen Jazzschlagzeuger erlebt und waren beeindruckt). Konitz liess sich vom lärmenden Drummer jedoch nicht aus der Ruhe bringen – und das faszinierende dabei: Der freundlich ältere Herr im Schlabberpulli spielte wie erwähnt völlig unverstärkt, man hatte jedoch nie auch nur die geringste Mühe, ihn zu hören. Das Phänomen der Projektionskraft, cutting through. Immer hörbar, ohne laut spielen zu müssen. Eine Lektion in Jazz.

Marc Copland/John Abercrombie – Uster, Jazzcontainer, c. 1998/99 (?) | Irgendwann nach dem fabelhaften Konzert von Lee Konitz am selben Ort. Die Kombination Klavier/Gitarre finde ich im modernen Jazz (also jenseits von Rhythmusgruppen in Big Bands) bis heute nicht sonderlich attraktiv (mit wenigen Ausnahmen die z.B. „The Incredible Jazz Guitar of Wes Montgomery“ oder ganz besonders den Aufnahmen von Grant Green mit Sonny Clark, natürlich Nat Coles Trio, die Verve-Aufnahmen von Tal Farlow – gerade die kühlere Linie der Jazzgitarre konnte das besser: Jimmy Raney und Al Haig bei Stan Getz etwa, Billy Bauer mit Lennie Tristano …). Aber gut: Copland/Abercrombie gefielen mir damals sehr gut. Der schrullige Gitarrist und der klare Pianist harmonierten sehr gut.

31. Mai 1999 – Abdullah Ibrahim & Max Roach – Tonhalle, Zürich | Leider eine herbe Enttäuschung. Ein uninspiriertes Solo-Set von Ibrahim und ein Duo, in dem zwei Musiker, die früher einen inspirierenden Dialog führten („Streams of Consciousness“, rec. 1977 – ich kannte es damals noch nicht), sich nichts mehr zu sagen hatten. Der Abend hatte allerdings grossartig begonnen, denn vor Ibrahims Solo hatte auch Max Roach sein Solo-Set – und das hatte es in sich!

Nick Liebmann in der NZZ vom 2. Juni 1999:

Der 75jährige Grandseigneur des Jazz-Schlagzeugs, Max Roach, hat den Abend hingegen mit einem fulminanten Solokonzert eröffnet. Mit viel Würde (und stets zugeknöpftem Zweireiher) demonstrierte der grossartige Musiker nachhaltig, wie er aus der sekundierenden Rhythmusküche ein solotaugliches Melodieinstrument gemacht hat. Seine Kompositionen fürs Schlagzeug basieren auf wiedererkennbaren Formen – so hat Roach die charakteristische Figur, die seinem Solostück «For Big Sid» zugrunde liegt, von einem Solo des Saxophonisten Coleman Hawkins abgeleitet. In seinem (etwas langsamer als früher angegangenen) Dreiviertelsolo «The Drum also Waltzes» erkundete Roach mit unglaublicher Behutsamkeit die (für Schlagzeuger) schwierige Akustik des Tonhallesaals, berührte seine Trommeln mit allergrösster Zurückhaltung, hörte den Beckenklängen bis zu den letzten Pianissimi nach. Dann wurden die über Pauken- und Hi-Hat-Ostinati gelegten Polyrhythmen immer komplexer und bestimmter, und als Konzerthöhepunkt bewies Roach seine unerreichte Meisterschaft auf dem Hi-Hat, dem er unglaublich differenzierte Klangnuancen entlockte.

Und dafür hatte der Besuch doch mehr als gelohnt – einen der grossen Heroen in Aktion gesehen, sein Solo für Hi-Hat live erlebt, seine Präsenz, seine Elder-Statesman-Ausstrahlung bei gleichzeitig musikalisch grösster Offenheit und Neugierde. Von Ibrahim hatte ich zuvor schon Besseres gehört und würde zum Glück auch noch Besseres hören.

Im Mai 1999 war ich grad 20 geworden und jobbte nach der Matura (Abi) in einer Fabrik im Ort, im Juni rückte ich dann in die Rekrutenschule ein (Grundausbildung unserer Milizarmee), die ich glücklicherweise ohne Waffe in der Armee-Musik absolvieren konnte. Da lernte ich Rafael Schilt kennen (einen von drei anderen unter 70, die Jazz mochten, die anderen kamen fast alle aus der Blasmusikwelt, ein paar wenige gingen danach ans Konservatorium). Rafael war damals am Sax schon wahnsinnig gut (sein Lehrer war Nat Su, wenn mich nicht alles täuscht) und sollte danach die Jazzschule in Luzern besuchen. Wir hatten beide einiges an Musik mit für die knapp vier Monate (die für ihn noch mehr die Hölle waren als für mich, die gehörte Musik war etwas zum Festhalten, die Musik, die wir da selbst zu spielen hatten. Ich habe ihn später hie und da wieder getroffen, war im (neuen) Moods bei der Plattentaufe seines Debut-Albums, ging mit ihm zum Brötzmann Chicago Tentet oder zum Carla Bley Trio.

Im Sommer 1999 hörte ich durch Rafael u.a. „J.C. on the Set“ von James Carter (die ich vor einigen Monaten dann mal noch gekauft habe, auch aus solchen biographischen Gründen), eine von Seamus Blakes frühen Criss Cross-CDs (ich weiss nicht mehr welche, kenne sie bis heute nicht), aber auch zum ersten Mal Johnny Griffin/Eddie „Lockjaw“ Davis (ich glaub das Monk-Album, jedenfalls eine OJCCD, die kein Twofer war – Griffin kannte und liebte ich da schon, Lockjaw war mir hingegen noch kaum vertraut, vielleicht sogar noch überhaupt nicht). Ich selbst hatte mir für die RS einen Walkman angeschafft und u.a. ein paar Mosaic-Sets auf K7 überspielt … erinnere mich auf jeden Fall an Chico Hamilton. Der Walkman kam mit einem kleinen Mikrophon, das ich noch Jahre später zum gelegentlichen Mitschneiden von Konzerten verwendet habe (auf Minidisc dann – aber so teure Geräte wollte ich in der Armee nicht dabei haben, immerhin kam es dort u.a. vor, dass mir mal zwei der tarngrünen T-Shirts gestohlen wurden, die zur Uniform gehörten – es gab exakt für jeden Wochentag eines, am Wochenende musste die Mutter zuhause alles waschen, so das kleinbürgerliche Modell … um sowas hab ich mich schon selbst gekümmert, aber die zwei neuen zu kaufenden T-Shirts rissen dann halt doch ein Loch in meine Kasse – es gab nicht mal abschliessbare Spinde oder sowas in der unzumutbaren Unterkunft, in der wir einquartiert waren).

Falls das Jahr 2000 noch zu den Neunzigern zählen sollte (ich finde eigentlich ja schon), gäbe es Konzertmässig noch mehr zu berichten: Dank eines weiteren kleinen Jobs – Flyer verteilen nach Konzerten – konnte ich diverse Male kostenlos an Jazzkonzerte, auch ein erstes Mal an ein Festival, zu hören gab es u.a. eine All-Star-Band mit Hank Jones, Kenny Burrell, Bobby Hutcherson, Ray Brown und Mickey Roker, das Tom Harrell Oktett, das Jacky Terrasson Trio (von dem ich ein paar Blue Note-CDs kannte und schätzte, dazu dann im nächsten Post), das Vienna Art Orchestra (u.a. mit Andy Scherrer), aber auch das Trio von Ahmad Jamal (James Cammack, Idris Muhammad) mit George Coleman, der damals durchaus einer meiner Heroen war („My Funny Valentine“/“Four & More“ – Rafael bevorzugte damals das Antibes-Konzert, ich bis heute nicht). Und zurück am Gymnasium, mit meiner Mutter zusammen, besuchte ich ein Doppelkonzert, bei dem Joe Lovano mich damals ziemlich beeindruckte: er spielte im zweiten Set mit einem schweizer Klaviertrio, das grad ein „Great American Songbook“-Album herausgebracht hatte, während im ersten Set der schweizer Gitarrist Philipp Schaufelberg auf das Trio von Paul Motian stiess (Chris Potter, Marc Johnson), dessen Musik mich damals aber noch ziemlich überforderte (und Potter irritierte/nervte, Lovano hob sich von ihm sehr ab und gefiel daher wohl umso besser). Aber da im Oktober 1999 mit der Aufnahme des Studiums an der Uni Zürich tatsächlich ein neuer Lebensabschnitt begann, breche ich hier lieber ab, sonst wird das gleich nochmal viel länger hier.

Ein Nachsatz (oder sieben): Im Frühling 2001 bin ich erstmals (zahlend dann) ans Taktlos-Festival, hörte u.a. The Necks und Supersilent, was mich beides total flashte. Und im Mai hörte ich (wieder gratis dank dem Flyer-Job) Brad Mehldau im damals noch ziemlich neuen (1998 eröffneten) Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern. Seine Musik hatte ich in den Neunzigern immer wieder gehört, aber 2001 schon ein paar Jahre Abstand. Er spielte ein faszinierendes Solo-Set und in der zweite Konzerthälfte dann im Trio, was auch dort akustisch schwierig war (unverstärkt – nähme mich wunder, wie die einige Jahre später entstandene Keith Jarrett-Konzerteinspielung im Raum geklungen hat … bei Mehldau ging Larry Grenadier unter Jorge Rossy war dauernd zu laut, klang aber auch nicht gut). Aber der Punkt ist, dass trotz der (lange einzigen – erst 2016 in Berlin hörte ich ihn wieder, ausgerechnet mit Joshua Redman) Begegnung mit Mehldau die Neunziger damit für mich unweigerlich vorbei waren und ich vor allem live anfing, neue Sachen zu hören. Die Veteranen, so ich es mir leisten konnte, nahm ich dennoch mit, aber die Junglöwen liess ich – auch zuhause hörend – lange Zeit vollkommen links liegen. Erst die Mitarbeit bei get happy!? und ein anderswo entstandener, über einige Zeit intensiver Austausch mit einem Musiker aus Kaliforniern, führten zu einer erneuten Beschäftigung mit Brad Mehldau (den ich heute vermutlich mehr schätze als in den Neunzigern, aber inzwischen habe ich sicher auch wieder vier oder fünf Jahre nichts von ihm angehört).

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