Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Kosmos Kammermusik: Vilde Frank – Kleine Tonhalle, Zürich – 24.04.2022

Vilde Frang Violine
Denis Kozhukhin Klavier

Johannes Brahms Violinsonate Nr. 1 G-Dur op. 78
Franz Schubert Fantasie C-Dur D 934 für Violine und Klavier

Béla Bartók Violinsonate Nr. 1 op. 21 Sz 75

Auch die kleine Tonhalle wurde im Rahmen der umfassenden Renovation ordentlich aufgehübscht – das Konzert gestern war aber eines, für das ich mir die geräumigere Maag-Halle zurück gewünscht hätte. Bis auf den letzten der 609 Plätze gefüllt und so eng bestuhlt, dass die ganze Reihe auf den Gang raus muss, um jemanden durchzulassen … aber egal, ich war jetzt zum zweiten Mal seit der Wiedereröffnung im kleinen Saal (das erste Mal war das Quatuor Van Kuijk im Januar) und auch gestern passte musikalisch alles.

Die Sonate von Brahms zum Einstieg wirkte im Nachhinein ein wenig wie eine Aufwärmübung, aber wie die beiden späteren ist auch die erste ein Stück mit wundervollen Melodien und überhaupt von immenser Schönheit. Die Fantasie von Schubert – fünfzig Jahre älter und bei der Uraufführung liefen selbst Rezensenten raus – wirkte im Vergleich dann für meine Ohren sehr modern. Da ist erstmal der atemberaubende Einstieg, die hochdramatische Steigerung aus dem ppp ins pp – wie Vilde Frang das gestaltete, war grandios! Danach die Form, die Brüche und das Verbindende, die frugalen Tanz-Partien, die Momente sublimer Schönheit dazwischen, die eine Ruhe nur vorspielen, denn darunter brodelt es ständig. Ein grossartiges Stück – aber das wusste ich ja schon. Dass die Künstlerin und der Künstler danach eine Pause wünschten, entgegen der Ankündigung: mehr als verständlich. Auch für den Pianisten gab es beim Schubert sehr viel Arbeit. Bartók folgte dann also nach einer kürzeren Pause als „standalone“ zum Abschluss – eine Zugabe verweigerten die beiden trotz riesigem Applaus konsequenterweise, es hätte echt nicht gepasst. Gab es schon bei Schubert wuchtige und leicht dissonante Momente, so dominierten diese bei Bartók – so wurde im Programmablauf auch eine Richtung erkennbar, die Abfolge der Werke wirkte jedenfalls wie ein ziemlich irrer Steigerungslauf. Die Sonate Bartóks wurde erst 2006 (85 Jahre nach der Uraufführung) von Gidon Kremer und Martha Argerich überhaupt erstmals in der Tonhalle aufgeführt. Die Tänze, die hier anklingen, stammen aus der Volksmusik, den etwa 3000 Tänzen und Melodien, die Bartók damals gerade klassifizierte und im Hinblick auf ihre Veröffentlichung überprüfte. Faszinierend zu hören, wie die Musik entsteht, wie die beiden Instrumente oft mehr neben- als miteinander spielen, ihre beiden Stimmen sich dennoch zusammensetzen, manchmal auch kurz zusammenfinden, um wieder auseinanderzugehen. Ein dichtes, sperriges Stück voller harter Klänge, wuchtiger Akkorde, rasanter Läufe, dazu so kraftvoll ausgeführte Pizzicato-Griffe, bei denen ich manchmal befürchtete, das würde die Violine doch nicht aushalten. Schon nach dem Schubert gab es grossen Applaus, nach Bartók noch mehr davon.

Weiter geht es nun in der zweiten Mai-Hälfte wieder, dann endet die Durststrecke (zwischen Mitte März und Mitte Mail nur Frang und davor ungeplant in Locarno Ernst Reijseger & Cuncordu e Tenore de Orosei (auch grossartig, eine genre-übergreifende Musik, zu der ich aber nichts geschrieben habe). Im Mai stehen dann Holliger mit dem Swiss Orchestra an, Strauss‘ „Arabella“ (mit Hanna-Elisabeth Müller, Anett Fritsch, Josef Wagner und Pavol Breslik, Inszenierung von Carsen, geleitet von Poschner), dann das nächste Sokolov-Rezital (Eroica-Variationen, Op. 117 und – whoah! – Kreisleriana), und dann das eigentlich für Mai 2020 geplante Tripelkonzert mit Faust/Gabetta/Bezuidenhout und Antonini beim Kammerorchester Basel.

Und dann doch noch der Nachgedanke zum gestrigen Konzert, der schon im Konzert auftauchte: Es war ja wirklich Bartók, der die Leute aus den Stühlen riss – warum nur kann ein Konzert heute, 2022, nicht einfach mit dem Stück von 1928 öffnen und dann eines von 1960 und eines von 2010 folgen lassen? Da wäre Bartóks Sonate dann nicht so geeignet (Kind/Bade und so), aber ich merke, wie ich nach der Pandemiepause vermehrt mit der konservativen Programmgestaltung zu hadern anfange. Durch die intensiven Konzertjahre (ca. 2016 bis Anfang 2020) kam bei mir so viel zusammen, dass ich inzwischen oft die Wahl habe, wieder zu einem Programm zu gehen, in dem eine Symphonie gespeilt wird, die ich doch vor zwei Jahren oder so erst grad gehört habe. Von der Kammermusik brauchen wir gar nicht reden, da war in der Zeit der Tonhalle-Maag mehr los, aber auch da nicht genug, finde ich – aber klar, zu Kammermusik gehen die Leute halt einfach nicht hier (das mag ganz profane Gründe haben, der ältere neben mir meinte gestern, man habe ja gar keine Nuancen hören können, er hätte aber schon gesehen, dass gespielt worden sei … nunja, es ist hart, die jüngeren Leute im Publikum sind sehr untervertreten – und wie gesagt: Frang hat eine unglaubliche Palette an Klängen geboten, vom ppp bis zum fff, den Ton in schier endlosen Schattierungen und Einfärbungen gestaltet etc.)

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Record, 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba