Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Mit viel Verspätung doch noch ein paar Zeilen zu den ersten fünf Konzerten (inkl. einem Besuch in der Oper) des Jahres.

Tonhalle, 7. Januar 2022 – Neue Konzertreihe Zürich

Gstaad Festival Orchestra
John Storgårds
Sol Gabetta
Violoncello

Carl Maria von Weber Ouvertüre zu «Oberon»
Edward Elgar Cellokonzert e-Moll op. 85

Johannes Brahms Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

Los ging das Konzertjahr mit Sol Gabetta und dem Gstaad Festival Orchestra unter John Storgårds. Nach der Ouvertüre zu „Oberon“ von Weber gab es das Cellokonzert von Elgar und dann als längere Zugabe Lenkys Arie aus Tschaikowskis „Eugen Onegin“ (mit Orchesterbegleitung). Nach der Pause folgte Brahms‘ Sinfonie Nr. 4. Nach dem Orchester neulich mit Argerich/Dutoit einmal mehr ein Orchester fast ganz aus jungen Menschen, aber viel internationaler (obwohl die meisten wohl bei der Tonhalle, im Opernhaus, im Kammerorchester Basel und einem der Berner Orchester beheimatet sind – aber diese Orchester sind halt alle international besetzt).

Der Höhepunkt war eindeutig das Cellokonzert, Gabetta legte auch optisch einen flamboyanten Auftritt hin, gestaltete das Konzert mit grossem Engagement und behielt stets die Kontrolle über das Geschehen, auch im fulminanten Steigerungslauf gegen Ende, als das Orchester in vollem Fortissimo erstrahlte.

Das Zusammenspiel mit Storgårds und dem Orchester klappte hervorragend – umso schöner, dass es dann nicht einen Satz aus einem Solo-Cello-Werk als Zugabe gab, sondern gleich noch ein Stück mit Orchester. Nach der Pause dann Brahms, und auch darin wusste das Orchester zu überzeugen. Ein rundum geglücktes Konzert.

Kleine Tonhalle, 10. Januar 2022

Quatuor Van Kuijk
Nicolas Van Kuijk, Violine; Sylvain Favre-Bulle, Violine; Emmanuel François, Viola; Anthony Kondo, Violoncello

Wolfgang Amadeus Mozart Streichquartett C-Dur KV 465 «Dissonanzen-Quartett»
Dmitri Schostakowitsch Streichquartett Nr. 10 As-Dur op. 118
Felix Mendelssohn Bartholdy Streichquartett f-Moll op. 80 MWV R 37

Ein paar Tage später dann mein erster Besuch im kleinen Saal der Tonhalle (er liegt auf demselben Niveau, es gibt ebenfalls einen kleinen Balkon – aber keine seitlichen Galerien) und die Länge des Saales entspricht in etwa der Breite des grossen Saals. Für Kammermusikkonzerte, die ja leider oft nicht so viel Publikum anziehen, ist er schon geeignet, aber ich vermisse grad für so einen Rahmen die Tonhalle-Maag schon ziemlich.

Das Quatuor van Kuijk hatte ich durch seine Schubert-CD bei alpha kennengelernt (ist auch weiterhin die einzige, die ich im Regal stehen habe) – und da das Konzert auch noch im Rahmen der (preiswerten) „Séries jeunes“ lief, war es klar, dass ich hin wollte. Streichquartette habe ich eh viel zu selten gehört seit Beginn der Pandemie (im Konzert sogar überhaupt nicht mehr seit davor). Dass es ein Konzert ohne Pause war, fand ich ebenfalls begrüssenswert.

Mozart zu Einstieg war schön, aber mich packte das 10. Streichquartett von Schostakowitsch danach so richtig. Gewidmet ist es Mieczyslaw Weinberg. Danach das wunderbare letzte Quartett von Mendelssohn, und als Zugaben zwei Liedtranskriptionen von Poulenc, Kantilenen fast schon. Da drückte dann das französische Temperament noch so richtig durch.

Tonhalle, 19. Februar 2022

Maurizio Pollini Klavier

Robert Schumann Arabeske op. 18
Fantasie C-Dur op. 17

Ludwig van Beethoven Klaviersonate Nr. 29 B-Dur op. 106 «Hammerklavier»

Danach fügte mehr als ein Monat Pause (die Pandemie holte nochmal richtig Schwung, bevor sie zwei Tage davor von der Landesregierung für beendet erklärt wurde, was ihr inzwischen zum nächsten Schwung verhilft), dass ich Ende Januar nicht nach Basel zum Haydn-Konzert mit Il Giardino Armonico und dem Kammerorchester Basel bin, hatte ich erwähnt. Anja Harteros sagte ihren zwei Wochen später im Opernhaus geplanten Liederabend leider ebenfalls ab – ich war allerdings froh, weil ich wohl sonst auch dort meine Karte hätte verfallen lassen.

Aber zu Maurizio Pollini musste ich dann einfach wieder gehen – die Lage hatte sich ein klein wenig entspannt (Wellen gibt es hier keine mehr, dazu bräuchte es ja dazwischen auch Wellentäler) und die grossen Bühnen in Zürich beschlossen gemeinsam, entgegen den Vorgaben wenigstens die Maskenpflicht im Saal aufrecht zu erhalten.

Pollini spielte Schumann in der ersten Hälfe: die Arabeske (die er schon 2018 in Zürich gespielt hatte) und danach eine grossartige Version der Fantasie C-Dur Op. 17. Nach der Pause folgte die Hammerklavier-Sonate von Beethoven. Den ersten Satz nahm er in irrem Tempo, legte noch bevor der Applaus ganz verklungen war los … und ich musste an die weissen Bebop-Zeitgenerations-Pianisten mit ihren wahnsinnig vielen Noten denken, von denen ca. ein Drittel falsch ist. So war das bei den irren Läufen und Sprüngen bei Pollini auch, aber das tat dem Resultat am Ende kaum Abbruch. Im zweiten Satz lief dann alles rund, der dritte war ein echter „tear-jerker“ und über weite Strecken grandios, der vierte dann geradezu monumental.

Am Ende stehende Ovationen, minutenlang, und nach dem vierten oder fünften Abgang dann noch eine kurze Zugabe, die ich nicht (er)kannte. Mehr noch als das letzte Konzert (mein erstes) von Pollini hatte der Abend etwas Heroisches: der einst makellose Techniker, bei dem die Fähigkeiten im Alter allmählich schwinden, der aber mit grosser Erfahrung und immensem Wissen auf das Werk blickt – und sich, eben: seine schwindenden Fähigkeiten, dabei nicht im geringsten schont.

(Oben der Blick von meinem Platz in der ersten Reihe – ich geniesse die Nähe halt immer, auch wenn das klanglich wohl gewisse Einbussen bedeutet – dafür ist das bei den eigenen Konzerte der Tonhalle auch fürs Portemonnaie schonend. Ich erwähne „eigene“, weil das z.B. bei der Neuen Konzertreihe anders ist – drum hab ich dort auch seit einigen Jahren ein Abo, weil das mit Einzelkarten teuer würde bzw. viele Plätze durch die Abonnenten teils halt eh dem regulären Verkauf entzogen sind.)

Opernhaus, 25. Februar 2022

Francis Poulenc (1899-1963): Dialogues des Carmélites
Oper in drei Akten (zwölf Bildern), Libretto vom Komponisten nach dem Drama von Georges Bernanos

Musikalische Leitung Tito Ceccherini
Inszenierung Jetske Mijnssen
Bühnenbild Ben Baur
Kostüme Gideon Davey
Lichtgestaltung Franck Evin
Choreografische Mitarbeit Lillian Stillwell
Choreinstudierung Janko Kastelic
Dramaturgie Kathrin Brunner

Le Marquis de La Force Nicolas Cavallier
Blanche, seine Tochter Olga Kulchynska
Le Chevalier, sein Sohn Thomas Erlank
Madame de Croissy Evelyn Herlitzius
Madame Lidoine Inga Kalna
Mère Marie de l’Incarnation Alice Coote
Sœur Constance de St.-Denis Sandra Hamaoui
Mère Jeanne de l’Enfant Jésus Liliana Nikiteanu
L’Aumônier du Carmel François Piolino
Sœur Mathilde Freya Apffelstaedt
1er Commissaire Saveliy Andreev
2e Commissaire Alexander Fritze
Le Geôlier Valeriy Murga
Officier Benjamin Molonfalean
Thierry Yannick Debus

Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Zusatzchor des Opernhauses Zürich
Tänzerinnen und Tänzer
Statistenverein am Opernhaus Zürich

Am Tag nach dem russischen Überfall der Ukraine in die Oper zu gehen kam mir vollkommen irreal vor. Es waren bei weitem keine idealen Umstände, ich war müde, abgelenkt, klarer Gedanken nicht fähig. Ob der nicht gerade gut gefüllte Saal auch damit zu tun hat, oder mit der notorischen Abneigung des Etepetete-Stammpublikums gegenüber allem nach Puccini und Strauss, weiss ich nicht.

Und doch, nach einigen Anfangsschwierigkeiten fand ich herein in den Abend und war am Ende berührt, beeindruckt, mitgenommen, ja: erschüttert. Eine hervorragende, schlichte Inszenierung von Jetske Mijnssen, in der die menschlichen Aspekte des Dramas – in denen durchaus Parallelen zur Situation derjenigen Ukrainer erkannt werden können, die um jeden Preis für die Freiheit ihres Landen kämpfen – das Einstehen für Ideale, vor allem anderen stehen. Dabei wird der Tod aber keineswegs beschönigt oder gar verherrlicht. Die grosse Szene am Ende des ersten Akts, in der die alte Priorin stribt – und dabei einen harten Kampf mit sich und Gott ficht, von Evelyn Herlitzius enorm beeindruckend … nicht dargestellt, eher: empfunden – gehörte jedenfalls zu den Höhepunkten des Abends. Und der Schluss, wenn die Nonnen eine nach der anderen im Off unter der Guillotine landen – ein wahres Ende mit Schrecken.

Die musikalische Leitung lag in den Händen von Tito Ceccherini. Er war dafür besorgt, dass der typisch französische Konversationston und der Fluss der Musik in Perfektion gedeihen konnte, auf der Bühne wie im Graben. Immer wieder überraschte die hervorragenden Textverständlichkeit, der Gesang perfekt abgestimmt auf das hervorragend die feinsten Schattierungen betonenden Orchesters. Was dabei etwas unterging, zumindest von der überzeugenden Olga Kulchynska abgesehen, waren die Einzelleistungen der Sängerinnen: alle in denselben Kostümen (nur Kulchynska und Hamaoui, die als Novizinnen erkennbar andere Kostüme – die weissen Kopftücher, siehe Bild unten – trugen), ein sehr geschlossenes, stimmiges Ensemble – und das obendrein mit mehr Ukrainerinnen als Franzosen auf der Bühne (2 vs. 1,5, aber Hamaoui hat ihre Ausbildung in den USA gemacht).

(Das Bild oben zeigt den Bühnenvorhang vor der Vorstellung. Ich weiss nicht, ob es ab ein, zwei Tagen später auch noch einen Kommentar zum Überfall auf die Ukraine gab – aus der Kulchynska ja stammt (und Murga ebenfalls) – nachdem das „Hindernis“ der für März geplanten Auftritte Netrebkos aus dem Weg geräumt war; blau-gelb angeleuchtet wurde die Oper dann jedenfalls auch noch – schöne und durchaus wichtige Gesten, aber wie sagte Selenskyj: er braucht Munition, keine Mitfahrgelegenheit.)

Tonhalle, 4. März 2022 – Neue Konzertreihe Zürich

Bomsori Kim Violine
Thomas Hoppe Klavier

Ludwig van Beethoven Violinsonate Nr. 5 F-Dur op. 24 «Frühlingssonate»
Karol Szymanowski Nocturne und Tarantella op. 28

Gabriel Fauré Violinsonate Nr. 1 A-Dur op. 13
Henryk Wieniawski «Fantasie brillante sur ‚Faust‘ de Gounod» op. 20

Zugaben: ein Stück von Grażyna Bacewicz und die „Mélodie“ von Myroslav Skoryk

Am Freitag gab es dann bereits das siebte und zweitletzte Konzert der Neuen Konzertreihe 2021/22. Es spielte die koreanische Geigerin Bomsori Kim mit dem deutschen Pianisten Thomas Hoppe. Dass im Programm mit Szymanowskis „Nocturne und Tarantella“ ein Werk zu finden war, das dieser 1915 zurück in seiner Heimat Tymoschiwka im Zentrum der heutigen Ukraine komponiert hat, als der Krieg durch Europa zog, passte dann besser, als das vorgesehen war. Szymanowski gehörte zur grundbesitzenden polnischen Obersicht und gilt als polnischer Komponist, aber so einfach ist das alles in der Gegend ja bekanntlich nicht. Das Werk war für mich das klare Highlight des Konzertes, das insgesamt schon sehr dem Schema Virtuosin mit Begleitung entsprach. Das Zusammenspiel mit Hoppe war zwar mehr als bloss routiniert, aber die Rollen waren schon recht klar verteilt. Das fand ich bei Beethoven und etwas weniger bei Fauré schon ein wenig schade (die erste echte französische Violinsonate, mit fast 100 Jahren Verspätung?), aber Bomsori überzeugte dennoch. Die Gounod-Bearbeitung (Wieniawski, auch Pole, war selbst ein Geigenvirtuose) waren ein gefälliger Rausschmeisser, doch das kam dann anders und gab dem für meine Ohren insgesamt eher mittelprächtigen Konzert noch einmal einen guten Dreh. Als erste Zugabe erklang ein Stück von Grażyna Bacewicz – leider finde ich nicht heraus, wie das Stück hiess, ich habe da auch bisher bloss Einspielungen der Sonaten vorliegen. Bomsori Kim sagte das Stück an und erwähnte, dass es ihr wichtig sei, auch jüngere Musik zu spielen. Erste Leute waren schon davor aufgestanden, aber nach der zweiten Zugabe erhob sich der ganze (vermutlich beinah ausverkaufte) Saal: „Mélodie“ von Myroslav Skoryk war das Stück, einem Komponisten aus Lemberg bzw. Lviv (1938-2020). Bei der Ansage versagte Bomsori die Stimme und Tränen standen in ihren Augen – auch währenddem sie das Stück dann spielte. Und am Ende auch bei uns im Saal. Das mag wohlfeil sein, diese Worte der Solidarität, eine Widmung von der Bühne eines Konzertsaales, der zu einem elitären, abgehobenen Bereich gehört, der auch hier an den Lebensrealitäten der allermeisten völlig vorbei geht – aber wo nach acht (oder zwanzig) Jahren (Desinformations/Cyber/Proxy-)Krieg in Europa der Westen allmählich aufzuwachen scheint und sogar fast die Reihen schliesst, liegt halt schon etwas in der Luft, was die gerade erlebten Tage zu besonderen macht.


(Foto: Opernhaus Zürich/Herwig Prammer)

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