Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Schatzkammer Schweizer Symphonik: Tour #3 – Zürich, Tonhalle, 16. Oktober 2021

Swiss Orchestra
Lena-Lisa Wüstendörfer
Leitung
Marie-Claude Chappuis Mezzosopran

Felix Mendelssohn Bartholdy: Ouvertüre zu «Das Märchen von der schönen Melusine», op. 32
Joseph Joachim Raff: Zwei Scenen, op. 199 sowie «Traumkönig und sein Lieb», op.66 für Singstimme und Orchester
Joseph Joachim Raff: Cavatina aus «Six Morceaux», op. 85 Nr. 3, arrangiert für Violine und Orchester von Edmund Singer (1874)
Richard Wagner: «Träume» aus den Wesendonck-Liedern, Fassung für Violine und Orchester, WWV 91B

August Walter: Sinfonie in Es-Dur, op. 9

Die letzten Wochen waren hier sehr intensiv (jetzt sollte es besser, v.a. weil ich im November auch fast zwei Wochen frei habe), die Konzerte wurden mir auch mal fast zuviel – aber sie boten dann halt auch immer einen schönen Ausgleich, eine kurze Auszeit. Vor zwei Wochen war ich erstmals für ein grösseres Orchester in der restaurierten Tonhalle. Das Swiss Orchestra, gegründet von Lena-Lisa Wüstendörfer, widmet sich der Schweizer Symphonik der Romantik und hat inzwischen vier Programme vorbereitet. Ich hörte das dritte, das vierte (mit Hackbrett-Solo) lasse ich aus, das zweite (u.a. mit Heinz Holliger) musste wegen der Pandemie schon mehrmals verschoben werden und ist jetzt für nächsten Mai geplant, da ist wohl meine 2019 gekaufte Karte dann weiterhin gültig – schauen wir mal.

Musikalisch fand ich das Gebotene sehr ansprechend, wenngleich mir nicht alle Werke wirklich gefielen. Salonmusik von Raff und Wagner muss bei mir eher nicht sein, aber das eine Orchesterlied von Raff, das anspruchsvoller ist – und auch auf der ersten CD des Orchesters zu finden – ist schon sehr interessant. Die Symphonie von Walter fand ich dann ebenfalls sehr hörenswert (das ist das andere Stück auf der CD – da wurde also schon eine gute Wahl getroffen): in der Form stark an der Wiener Klassik orientiert, aber mit einem Drängen und einem Antrieb, der durchaus an Mendelssohn oder Schumann denken lässt. Da war dann am Ende aber, dünkte mich, beim Orchester die Präzision etwas dahin. Das Programm mit einer reinen Spieldauer von fast zwei Stunden war sowieso ambitioniert.

Im Saal sassen wie es schien relativ wenige Leute aus Zürich, es gabe bei der Symphonie auch zweimal Zwischenapplaus (ja, stört mich, weil es aus dem Werk rausreisst und eine Zwangspause bedeutet). Was die Dirigentin angeht: ihr Auftritt mit grosser Geste, langem Stab wirkte irgendwie sehr altmodisch, manchmal eher etwas auf der ruppigen Seite. Ich hatte den Eindruck, dass die Musiker*innen gut sind, dass sie weniger der Lenkung bedürften, dafür aber gestalterisch etwas mehr drin gewesen wäre. Wüstendörfer wandte sich auch zweimal kurz ans Publikum, um zu den Werken ein paar Sätze zu sagen – da wirkte sie dann überaus sympathisch und kompetent. Die Violinsoli spielte übrigens der Konzertmeister des Orchesters, Sherniyaz Mussakhan – mit für meinen Geschmack etwas gar viel Schmelz, aber bei Romantik ist das ja schon drin. Marie-Claude Chappuis war dabei einmal mehr überzeugend – wie immer, wenn ich ihr bisher begegnet bin (im Konzert erst gerade, dafür gleich zweimal, auf CD schon ein paar Mal mehr).

Demnächst wird das Swiss Orchestra zum Residenzorchester des grossen Ferien-Ressorts des ägyptischen, ähm, Geschäftsmannes Samih Sawiris, der dort auch die Andermatt Concert Hall erbauen liess. Da scheint jedenfalls ein Karriereplan ganz schön aufzugehen. Das wirkt auf mich am Ende vielleicht alles eine Spur zu ambitioniert und berechnend, aber so lange interessante Werke wie die Walter-Symphonie auf dem Plan stehen oder sogar noch Heinz Holliger als Solist gewonnen werden kann, verfolge ich das mit wohlwollendem Interesse.

(Foto oben von vor der Pause)

Sol & Pat – Winterthur, Stadthaus, 23. Oktober 2021

Patricia Kopatchinskaja Violine
Sol Gabetta Violoncello

Jean-Marie Leclair: Tambourin C-Dur
Jörg Widmann: aus: 24 Duos für Violine und Violoncello: XXI. Valse bavaroise – XXIV. Toccatina all’inglese
Johann Sebastian Bach: Präludium G-Dur (BWV 860)
Francisco Coll: „Rizoma“ (2017)
Domenico Scarlatti: Sonate G-Dur (Kk 305)
Maurice Ravel: Sonate für Violine und Violoncello

Johann Sebastian Bach: Invention Nr. 3 D-Dur (BWV 774)
Domenico Scarlatti: Sonate h-Moll (Kk 377)
György Ligeti: Hommage à Hilding Rosenberg
Yannis Xenakis: „Dhipli Zyia“
Carl Philipp Emanuel Bach: (unbekanntes Stück)
Zoltan Kodály: Duo für Violine und Violoncello

Encores:
Patricia Kopatchinskaja: (unbekanntes Stück)
Jean-François Zbinden: Fanfare

Das nächste Konzert fiel dann auf einen Samstagabend, an dem ich auch direkt umkippen und zu Bett hätte gehen können, weil ich so auf dem Zahnfleisch lief. Aber entgehen lassen wollte ich es mir auf gar keinen Fall. Nach dem Dokumentarfilm über das Duo, das während der Pandemie auch bei Kopatchinskaja daheim in Bern gemeinsames Repertoire erarbeitet hat, war klar, dass ich zu diesem Konzert gehen will.

Um es vorweg zu nehmen: Es überzeugte mich nicht ganz so sehr, wie erhofft. Das Programm blieb etwas bunt, der Auftritt war mir eine Spur zu theatralisch. Im Gegensatz zu anderen Konzertgänger*innen, die beim Rausgehen über die CD sprachen und meinten, „aber die muss man live erleben“, freue ich mich auf die CD, die hoffentlich beim Vertrieb noch vorrätig sein wird, wenn ich es wieder mal dorthin schaffe (solche Neuheiten sind gerne immer weg und ich müsste mir extra ein Exemplar zur Seite legen lassen).

Der grosse Höhepunkt war für mich fraglos Kodály zum Ausklang. Da gab es keine Mätzchen sondern eine intensive, überzeugende Darbietung. Davor gab es äusserst charmante Bach-Bearbeitungen. Ich glaube es war das nicht genauer angekündigte von CPE Bach – eine kleine Programmänderung – für das beide auf dem Klavierschemel sassen, den Gabetta nutzte, und Schulter an Schulter in reinem Pizzicato eine wundervolle Miniatur schufen.

Davor schwankte das Programm zwischen faszinierenden zeitgenössischen Stücken (Coll, Ligeti und Xenakis – die beiden von Widmann empfand ich eher als hübsche Charakterstücke) und älteren Werken. Seltsamerweise zog die Sonate von Ravel an mir ziemlich vorbei.

Als Zugaben spielten sie dann zuerst eine Eigenkomposition von Kopatchinskaja (mit einem kulinarischen Titel, glaub ich?) und dann ein kleines Stück von Jean-François Zbinden, der letzten März mit 103 Jahren verstarb. In dieser „Fanfare“ – zumindest in der Version von Pat & Sol – waren die Geige und das Cello ziemlich angeheitert und spielten (natürlich koordiniert) mit abweichenden bzw. schwankenden „pitches“. Das ist zwar charmant, aber – wie das eine oder andere davor – arg drauf angelegt, dass der Saal tobt. Und sowas finde ich halt recht schnell etwas bemüht, kann ich leider nicht ändern.

Neue Konzertreihe Zürich – Zürich, Tonhalle, 24. Oktober 2021

Kammerorchester Basel
Umberto Benedetti Michelangeli
Leitung
Marie-Ange Nguci Klavier

Joseph Haydn: Symphonie Nr. 95 c-Moll Hob. I:95
Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll Op. 37

Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 1 C-Dur Op. 21

Am folgenden Abend ging es dann direkt nochmal in die Tonhalle. Auftreten sollen hätte Alexandra Dovgan, eine erst 16jährige, von Grigory Sokolov geförderte Pianistin (die schon für die Saison 2019/20 angekündigt war, aber das Konzert wurde dann pandemiebedingt abgesagt). Ein paar Tage davor wurde angekündigt, dass sie erkrankt sei und die franko-albanische Pianistin Marie-Ange Nguci mit demselben Werk einspringen würde. Auch das ein Name, der mir nicht sagt, zudem hörte ich das KOB schon mit Umberto Benedetti Michelangeli (und Regula Mühlemann) mit einem Mozart-Programm, das mich – damals im zu grossen KKL in Luzern – nur so halb zu überzeugen wusste.

Erwartungen waren also keine vorhanden – und wie so oft, wurde gerade das zu einem in jeder Hinsicht überzeugenden, ja umwerfenden Abend. Los ging es mit einer Haydn-Interpretation, die – obwohl im Sitzen gespielt – den Vergleich mit den Aufführungen unter Giovanni Antonini keinesfalls zu scheuen brauchte. Ganz im Gegenteil: das KOB klang für meine Ohren deutlich frischer, agiler, zupackender – und das Spiel mit dem Dirigenten klappte ganz hervorragend. Dem Orchester stand auch die Freude ins Gesicht geschrieben, immer wieder warfen die Musikerinnen und Musiker sich beim Spielen Blicke zu. Ein wunderbarer Auftakt.

Dann wurde der grosse Steinway in die Mitte gerollt und die Pianistin trat im langen Glitzerkleid auf. Die lange Orchestereinführung schloss nahtlos an Haydn an – und dann das Klavier … der erste Einstieg vielleicht nicht von der prägnantesten Sorte, aber nach wenigen Takten war sass ich auf der Stuhlkante und lauscht ungläubig, was da passierte. Ich habe keine Ahnung, was Nguci mit dem eh faszinierenden Werk (ich hörte es zuletzt in einer ähnlich grandiosen Aufführung von Volodos mit dem Tonhalle-Orchester unter Järvi) anstellte – aber das wurde für mich, ich kann es nicht anders sagen, zu einer existentiellen Erfahrung. Die Musik atmete, Abgründe öffneten sich, über die Nguci behende sprang, wie ein Geier über den Flügel gebeugt. Tosender Applaus, den die Debutantin ganz für sich kriegte (richtig wohl dabei war ihr nicht, sie signalisierte mit Handbewegungen mehrmals, Benedetti Michelangeli möge doch auch noch mal mit nach vorn kommen. Er verweigerte sich, und wir wurden mit zwei längeren Zugaben beschenkt, die ich leider nicht identifizieren konnte, aber der Romantik zuordnen mochte, beides enorm virtuose Stücke, die den Eindruck vermittelten, als hätte Nguci gerade richtig Lust, einfach weiterzuspielen.

Bis zur Pause war damit deutlich mehr als eine Stunde vergangen – der Gedanke huschte kurz durch meinen Kopf, ob ich nach Hause gehen sollte? Aber nein, natürlich nicht, denn es gab noch die erste Symphonie von Beethoven und nach dem gelungenen Auftakt mit Haydn wollte ich mir die dann nicht entgehen lassen. Und auch hier fand ich die Darbietung hervorragend. Zupackend, sehr klar – und am Ende trotz dem grossartigen Auftritt Ngucis in der Mitte keineswegs als von geringerer Güte empfunden.

Musikkollegium Winterthur – Stadthaus, 23. Oktober 2021

Musikkollegium Winterthur
Eduardo Strausser
Leitung
Augustin Hadelich Violine

Jean Sibelius: Konzert für Violine und Orchester Op. 47
Encore: Coleridge-Taylor Perkinson: Louisiana Blues Strut
György Ligeti: Ramifications

Johannes Brahms: Symphonie Nr. 4 e-Moll Op. 98

Dann führt mich der Weg diesen Donnerstag nochmal nach Winterthur. Der stressbedingende Faktor (neben dem eigenen unbelehrbaren Verhalten) war am Mittwochnachmittag abgehakt worden, ich war um 10 im Bett und hatte für Donnerstag gar nicht erst den Wecker gestellt. War am Abend also einigermassen aufmerksam, aber das erhoffte – und eingetroffene – Highlight gab es eh direkt zu Beginn: Augustin Hadelich spielte eine grossartige Version des Sibelius-Konzertes, das Musikkollegium unter der Leitung des sehr jung wirkenden Eduardo Strausser (*1985 – kennst Du ihn von Berlin @yaiza?) dankte es ihm mit einer ebenso guten Aufführung. Die existentielle Dramatik von Nguci stellte sich hier nicht ein (aber solche Erlebnisse aus dem Konzertsaal kann ich sowieso noch bestens an den Fingern meiner beiden Hände abzählen), aber auch das war eine umwerfende, in sich vollkommen stimmige Sichtweise, wuchtig, mit Schneid, aber auch transparent und klar (das Musikkollegium spielte ähnlicher Grösse wie das KOB, 7 erste und 6 zweite Geigen, je 4 oder 5 Bratschen und Celli und 3 Bässe).

Hadelichs Zugabe war dann auch ein absoluter Gassenhauer für die Sorte Publikum, laute Lacher, weil die Verwunderung über die ungewohnte Rhythmik und Intonation irgendwie abgeführt werden muss (was mich dann wiederum verwundert, eh ben) … ich habe mich an die Sichtweise von Alec Wilder erinnert, die @vorgarten drüben in der Jazzecke erwähnte: am besten seien die Songbook-Komponisten gewesen, wenn sie „auf der Strasse“ gelernt hätten – ob sich das auch auf die Konzertmusik eines Perkinson übertragen lässt? Das Stück ist von Hadelich auch in der Tube zu finden, z.B. hier.

Dann Umbaupause für Ligeti. Die 12 Solostreicher, von denen die Hälfte während des Umbaus ihre Instrumente um einen Viertelton umstimmen mussten, sassen im Halbkreis in der zweiten Reihe und spielten das sehr faszinierende Stück von Ligeti – und mir schien, dass Strausser für sowas vielleicht fast der geeignetere Dirigent sein könnte? Aber er hat ja auch Opernerfahrung und ist wohl überhhaupt sehr breit aufgestellt.

Brahms‘ Vierte nach der Pause fand ich dann etwas weniger gut. Hatte das Stück auch im Dezember 2018 schon in Winterthur gehört, also dort noch Thomas Zehetmair Chefdirigent war (am unvergesslichen Abend, an dem Carolin Widmann das Violinkonzert von Dieter Ammann aufführte). Verstehe dann halt auch nicht, warum man dem Dirigenten nicht nahgelegt hat, etwas anderes (ja warum nicht gleich im 20. Jahrhundert bleiben?) nahegelegt hat (vielleicht ja gerade nicht, ich habe keine Ahnung, wie es um die Probenarbeit der letzten Monaten steht und wie es den Orchestern die Tage so geht, vielleicht ist es da ja gerade gut, auch Bekanntes wieder aufzugreifen?). Strausser drückte vielleicht etwas zu sehr auf Tempo und Lautstärke – ich empfinde in der vierten in so einer Sichtweise jedenfalls den dritten Satz gerne als etwas störend und als Antiklimax vor der tollen, dunklen Passacaglia zum Ausklang. Aber auch daraus wurde am Ende ein durchaus gelungener Konzertabend.

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