Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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gypsy-tail-wind
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Hal Russell NRG Ensemble – The Finnish/Swiss Tour | Eine Stunde krawalliger Jazz kann ich jetzt gerade sehr gut gebrauchen. Allerdings bin ich seit 1989 oder so wieder mehr daheim im ECM-Katalog als in weiten Teil der 80er. Dort sind vielleicht grössere und obskurere Entdeckungen zu machen (von denen mir sicher noch einige bevorstehen), aber von der Richtung her fühle ich mich inzwischen schon wieder wohler, heimischer eben. Das NRG Ensemble besteht aus dem Leader (ts, ss, t, vib, d), Mars Williams (ts, ss, didg), Brian Sandstrom (b, t, g), Kent Kessler (b, elb, didg) und Steve Hunt (d, vib, didg). Hal Russell gehörte 1963 zum Trio von Joe Daley (das erweiterte Reissue von dessen Newport-Album kam leider nie zustande, mit dem echten Konzert und den Studio-Sessions, die teils mit beigemischtem Applaus auf der LP landeten, wenn mich nicht alles täuscht – hätte glaub ich ein 3-CD-Set werden sollen, Jonathan Horwichs Meisterstück in Sachen Reissues/Historisches … schade!), das war wohl die Keimzeller der weissen Chicagoer Avantgarde, und das führt Russell hier weiter.

Aufgenommen wurde die CD im November 1990 beim Tampere Jazz Happening und beim Internationalen Jazzfestival Zürich. In Moers trat die Band vor den Leuten auf, die auf das Set der Einstürzenden Neubauten warteten, wie Steve Lake in den Liner Notes schreibt: „You could see a large question mark rising from the crowd when Russell and Williams walked onto the stage. For visual incongruity, this pair takes some beating: Mars in full rock’n’roll Psy-Furs regalia – leathers, frock coat, and cowboy hat – and Hal white-bearded and business-suited, bearing a passing resemblance to Charles Ives. But disbelief passed to amazement in minutes as the group worked a kaleidoscope of moods, racing between a dozen instruments. They were fierce, they were witty; they roared … like something uncaged. That’s a fair analogy, I think. It was high time the band reached an audience beyond Chicago, where the majority of their performances to date have been bona fide ‚loft‘ events – in Hal’s attic (‚about the size of an average kid’s bedroom‘.) There, for years, the group has been working on the music, compiling its enormous repertoire of 400 compositions. When they meet an audience, as The Finnish/Swiss Tour proves, there are no problems of communication; NRG’s enthusiasm is contagious. Given the chance to play, the NRG Ensemble makes sure it has a good time, and a listener can’t help but follow suit.“

Es gibt hier also nicht nur Sax-Duette (-Duelle) über zwei Bässen sondern auch ein Vibraphon-Duo, Trompetensoli, rockige Klänge von Gitarre und Bassgitarre, und Russell selbst scheut sich auch nicht davor (wie Johnny Griffin auf einem seiner Delmark-Alben), in einem Stück am Tenorsax, dem Sopran und der Trompete zu solieren. Anklänge an Ayler oder „Agartha“ stehen hier neben einem Zitat aus „The Surivor’s Suite“, und das ganze wirkt auf mich auch mit einigem Abstand frisch und überhaupt nicht nach einem beliebigen Potpourri – da drückt halt die Working-Band mit dem grossen Repertoire und der Vertrautheit durch, auf deren Grundlage aber ein oft sehr wildes, spontanes Musizieren möglich ist. (Die ersten beiden der drei Russell-Alben – ECM 1455, ECM 1484 und ECM 1498 – liefen wohl seit zehn Jahren nicht mehr, die umwerfende „Hal Russell Story“ hörte ich vor kürzerer Zeit mal wieder an.)

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba