Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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gypsy-tail-wind
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Zu Lacy und ob er jemals „schnell“ gewesen sei, wollte ich gestern auch noch was schreiben – kann es sein, dass er in der Hinsicht mit Dexter Gordon zu vergleichen ist? Dieser wirkte ebenfalls nie schnell, nicht mal in den halsbrecherischsten Bebop-Uptempo-Nummern. Das hat mit der Phrasierung und dem eigenen Beat – und natürlich auch mit Technik – zu tun, glaube ich.

Morgenmusik:

Alice Coltrane with Strings – World Galaxy | Durchgang Nr. 8 oder 9? Ich habe nicht mehr gezählt, jedenfalls kriege ich das Ding glaub ich allmählich zu fassen. Diese neue Version von „My Favorite Things“ (der Opener des Albums) ist schon irgendwie klasse, mit der Harfe und der Orgel, dazu dicke Streicher – Reggie Workman der neue Mann am Bass, Ben Riley zurück an den Drums und überhaupt nicht trocken, wie er hier spielt, im zweiten Stück kommen dann die Kesselpauken dazu, von Elayne Jones gespielt. Das dritte Stück, „Galaxy in Turiya“, beginnt dann nahezu pastoral, schon davor gab es zwischen dem Opener und dem zweiten Stück, „Galaxy Around Olodumare“ eine Öffnung/Entspannung bei gleichzeitigem Auftürmen weiterer Schichten. „Turiya“ ist dann lange ein Streicherteppich, inklusive grummelndem Bass (mir ist nicht klar, ob das nur Workman ist, wie ich vermute, oder ob einer der „strings players“ auch noch Kontrabass spielt, hab die bei Discogs alle durchgeklickt, die beiden Aarons sind auch dort nur als „strings players“ zu finden, alle anderen spielen Violine, Viola oder Cello). Wenn dann nach sechs Minuten ein Blasinstrument auftaucht, klingt das gar nicht wie der Kaputtspieler Frank Lowe am hübschen Sopransax sondern aufgrund des Settings fast eher wie eine sehr offen gespielte Oboe. Lowe wiederholt ein einfaches Motiv, während die Streicher pausieren, dann setzen sie wieder ein. Auf mich wirkt das alles – böse gesagt – ein wenig wie hübscher Muzak oder – nett gesagt – wie ein Schritt auf dem Weg in die Meditationsmusik. Das Brodelnde, Wilde, Ungetüme von „Universal Consciousness“ (und der Sun Ra Einfluss, den ich dort zu hören meine), sind hier kanalisiert, die Sounds sind grossteils immer noch da, aber werden nicht so überbordend und wild eingesetzt, hier wirkt zumindest in der ersten Hälfte eigentlich gar nichts spontan.

Der Übergang zu Seite B klingt am Rechner auch nur wie ein ganz kurzes Luftschnappen – doch die beiden folgenden, jeweils 10minütigen Stücke sind dann doch wieder etwas anders. Die Streicher führen zwar das Motiv aus „Turiya“ fort, doch eine Tamboura (auch von Coltrane gespielt) setzt im Intro einen weiteren Drone-Grundton (der dann von den Streichen gleich wieder aufgefressen wird. Coltrane spielt dieselben ereignislosen Harfenarpeggi wie im Stück davor – das ist eine Mischung aus Teppich- und Girlandenmusik. Selten finde ich im Jazz das Bonmot von Satie mit der „musique d’ameublement“ passender – und nein, ich meine das nicht als Fundamentalkritik … nach fünf Minuten blenden die Streicher aus, dafür übernimmt die Tamboura – und dann beginnt etwas Neues: Coltrane improvisiert an der Orgel, das wirkt zunächst wie ein Hereinbrechen von etwas Neuem, eine andere Tonalität, Riley bricht den Beat etwas anders auf, der Orgelbass kommt wohl auch zum Einsatz, es gibt ein paar ruppige Momente … und etwa eineinhalb Minuten später stürzt dann das Saxophon (erneut Sopran) von Frank Lowe herein, wie ein herabstürzender Raubvogel, doch auch dieses Solo bleibt kurz – und kaum ist es vorbei, übernehmen wieder die Streicher mit ihrem einen Motiv, das nach bald 20 Minuten eingesickert ist und dafür sorgt, dass man leicht die zeitliche Orientierung verlieren kann (klar, man musste dazwischen die Platte drehen, aber das war damals von der Konzeption her wohl ein notwendiges Übel, nicht etwa Plan). Nahtlos geht es über in das letzte Stück, die Streicher werden heruntergedimmt und begleiten zusammen mit Harfengirlanden den Guru, Swami Satchidananda, bei den Worten, die er in „A Love Supreme“ spricht (sie sind im Cover abgedruckt). Gegen Ende seiner Rezitation schiebt Coltane den Schalter, der Orgelbass kündet das Motiv von „A Love Supreme“ an, die Orgel spielt es, Riley fällt in einen umwerfenden Back Beat dazu (perfektes Material für Hip Hop eigentlich, wurde der gesamplet?) – und nun legt Coltrane an der Orgeln nochmal etwas los, bleibt bei einem kleinen Motiv, das für sich so simpel ist, wie das zugrundeliegende Bassmotiv, aber dennoch baut sich hier, zusammen mit Riley, etwas auf (Workman pausiert wohl, ich höre hier ein Duo plus Percussion (Beecken, Glockenbäume, sowas – Lowe und Coltrane spielen auf dem Album Percussion, ohne dass das bei letzterer, wo sonst pro Track Orgel und/oder Harfe sowie einmal die Tamboura vermerkt sind, angegeben wäre). In der Mitte taucht dann wieder Frank Lowe auf, ein paar Cries, jetzt am gequetschten Tenorsax (oder ist das eine schnarrende Bassklarinette? angegeben ist „saxophones“, also wohl eher nicht, aber er spielt so kurz, dass es gar nicht ganz klar wird). Dann übernimmt LeRoy Jenkins an der Violine und kriegt etwas mehr Raum. Über den Orgel/Drums-Groove, der sich ständig etwas wandelt, ohne weit zu gehen, improvisiert er ein ziemlich heisses Solo (er kannte seinen Stuff Smith bestimmt), das aber auch nichts entwickelt sondern im Riffen bleibt. Die Percussion scheint im Mix immer lauter zu werden, dann, eineinhalb Minuten vor Schluss, wird der Schalter wieder gekippt zum Auf- und Abebben der Streicher mit Harfen- und Orgelgirlanden drüber, und Satchidananda sagt dann noch einen kurzen, gebetsartigen Schlussgruss. Finis.

Und damit erlaube ich mir jetzt, zum nächsten Album weiterzublättern :-)

zuletzt geändert von gypsy-tail-wind

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