Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Konzert Nr. 1 – „Traummusik“ – Stadtcasino Basel, 15.08.2021

Kammerorchester Basel
Heinz Holliger, Baptiste Lopez
Leitung
Jan Lisiecki Klavier

RUDOLF KELTERBORN: „Traummusik“, sechs Stücke für kleines Orchesters
WOLFGANG AMADEUS MOZART: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 20 d-Moll KV 466
E: III. Alla turca – Allegretto (aus Klaviersonate Nr. 11 A-Dur KV 331/300i)

FRANZ SCHUBERT: Sinfonie D-Dur D 936A (bearbeitet und hörbar gemacht von Roland Moser)

Das war es also, mein erstes richtiges Konzert seit ca. einem Jahr – halbwegs voller Saal, Impfzertifikate inkl. Ausweis beim Einlass geprüft, dafür zogen dann fast alle, die draussen beim Schlangstehen brav Maske trugen diese drinnen ab – immerhin war ich nicht der einzige, der sie aufbehielt. Pausengastronomie geht wohl vor etwas Vorsicht – aber gut, dass nur Geimpfte rein durften, war ja immerhin sehr in meinem Sinn. Doch das ist alles nur Beigemüse, im Gegenteil zur Ausstellung von Kara Walker, die ich mir davor im Kunstmuseum Basel anschaute, inkl. zweier Filme, zu denen Jason Moran und Alicia Hall Moran die Musik komponiert haben. Heftige Kost, für die ich zum Glück mehr als genug Zeit hatte. Ein richtiger „Kultur-Tag“, wie ich ihn vor der Pandemie wohl ein- bis zweimal monatlich einrichtete – und so gesehen eine grosse Wohltat.

Das Konzert fand im Stadtcasino Basel statt, in dem vor einem Jahr zur Neueröffnung nach dem Umbau bereits Heinz Holliger am Pult des KOB stand, um Schuberts „Unvollendete“ zu dirigieren – ein Konzert, für das ich an sich in der Saison 2019/20 eine Karte gehabt hätte. Zum Verschiebetermin im Sommer mochte ich nicht, da die Lage mir damals noch zu unklar war als dass ich mich für so ein frivoles Vergnügen in den – damals wohl sogar noch maskenlosen – Zug gesetzt hätte. Schade, aber als ich sah, dass die aktuelle Saison wieder mit einem um Schubert kreisenden Konzert mit Holliger öffnet und auch ein paar andere interessante Konzerte dabei sind, wagte ich den Kauf eines kleinen Wahlabos für die Saison 2020/21 des Kammerorchester Basels.

Los ging es mit einem ca. 13minütigen Werk von Rudolf Kelterborn. Holliger wandte sich davor mit ein paar Sätzen ans Publikum, weil ihm der im März verstorbene Kelterborn viel bedeutet hat, zeitweise ein Mitstreiter war, der auch in der Schweiz nicht gross gewürdigt wurde. Selbst in seiner Heimat Basel sei dieses Konzert Mitte August die erste Würdigung des Komponisten. Florian Hauser schreibt im Programmheft: „Musik soll aus sich selber heraus wirken, das war immer sein Credo. Sie braucht keine Zusätze. Da war Rudolf Kelterborn ganz alte Schule, und wenn heute die neue Musik der jungen Komponistinnen und Komponisten immer interdisziplinärer wird, wenn sie an den Rändern ausfranst und Allianzen mit anderen Disziplinen wie Theater und Tanz, Installation, Elektronik und Performance eingeht, dann hat Kelterborn das mit Interesse zur Kenntnis genommen. Seine Sache war es nicht. Die war etwas anderes.“

Die sechs Stücke, die grossteils ineinander fliessen, tauchen aus dem Nichts auf: zarte, leise Töne, ein Tremolo vielleicht? Andeutungen, ein Auftauchen und Verschwinden, Figurationen, die immer deutlicher werden, ein Schatten, ein Traum, und dann plötzlich wuchtige Töne, ein Grummeln und Brummen in den Tiefen. Uraufgeführt wurde das Stück schon 1972 vom Collegium Musicum Zürich, doch es klang tatsächlich enorm frisch. Kelterborn: „Der ‚Inhalt‘ meiner Musik wird bestimmt durch die oft schier unerträgliche Spannung zwischen den Schönheiten dieser Welt, den unerhörten Möglichkeiten des Lebens einerseits und den Ängsten, Schrecken und Nöten unserer Zeit andererseits.“ Auf Tagesaktualität hatte er es dabei nicht in erster Linie abgesehen: „Wichtig ist mir, dass mein Werk bei Zuschauern und Zuhörern etwas in Bewegung setzt. Mit ‚Bewegung‘ meine ich nicht eine nebulöse Gefühlsduselei, sondern das Gegenteil von Erstarrung“ (Programmheft). Das war in der Tat Musik, die zugleich sehr greifbar und konkret wirkte, aber zugleich nicht zu greifen war, Fragmente, die durch den Raum zogen, diesen kurz füllten, um wieder zu verklingen.

Dann grosser Umbau, der Flügel wird in die Mitte gerollt, an dem Hélène Grimaud hätte sitzen sollen. Ihre Rückkehr in die USA nach zahlreichen geplanten Konzerten in Europa konnte allerdings nicht gewährleistet werden, weswegen sie alles absagen musste. An ihrer Stelle trat Jan Lisiecki auf, für mich bisher bloss ein Name (ich kenne auch Grimaud nicht gut, habe sie nie im Konzert gesehen). Holliger pausierte, die Leitung übernahm der Konzertmeister des Abends, Baptiste Lopez, vom ersten Pult. Das Orchester legte mit viel Schwung los, klar und pointiert spielend – und Lisiecki spielte seinen ersten Lauf noch etwas unsicher, fand aber sehr schnell hinein in die Musik und tatsächlich auch in das Orchester, in dessen Klangwellen der Flügel im Kopfsatz immer wieder versank, um sich dann wieder herausschälen und zu brillieren. Die eigene, lange Kadenz gestaltete Lisiecki anfangs behutsam, nah am Material Mozarts, um gegen Ende in wilde Läufe auszubrechen, in denen ich einen Augenblick an Liszt denken musste – doch wie er zurückfand zu Mozarts Partitur war dann gerade so atemberaubend. Der zweite Satz wurde recht rasch gespielt, dünkte mich, das Klavier schien frei zum improvisieren, so locker phrasierte Lisiecki, dass es mir fast unvorstellbar schien, dass das alles vollständig notierte Musik ist (ein paar kleine Verzierungen waren es auch nicht, glaube ich?) – sehr faszinierend. Im dritten Satz ging es dann entsprechend rasant zur Sache, noch eine überraschende, hochvirtuose Solokadenz, und dann ein stringent angestrebter Schluss. Eine packende Interpretation, die mit grossem Applaus gewürdigt wurde – und als Zugabe folgte der dritte Satz aus der Sonate KV 331, „alla Turca“, in dem Lisiecki mindestens zwei Seelen in seiner Brust zu beherbergen schien, die rasanten Läufe im Fortissimo in einen Dialog mit unglaublich zarten, ganz leisen aber ebenso schnellen Passagen treten liess. Ein überzeugender Auftritt, auch die Zugabe fand ich am Ende beeindruckend, auch wenn ich mir anfangs eine andere gewünscht hätte.

Dann ging es an die Cüpli und die Canapés, ich nutzte die Pause, um den Saal ein wenig anzuschauen (vor einigen – zwölf, fünfzehn? – Jahren war ich dort mal einem Jazzkonzert, seither nicht wieder, die letzten Jahre wurde er renoviert und das Drumherum umgebaut) und einen Platz weiter hinten zu suchen, da meine Platzwahl etwas blöd ausfiel (noch für zwei weitere Konzerte, nunja, ich kannte den Saal halt noch nicht).

Danach erklang Roland Mosers Schubert-Bearbeitung, zu der es in der Einführung vor dem Konzert – mit Holliger und Moser und dem Orchester teils noch in T-Shirt und kurzen Hosen, es war über 30 Grad heiss – gegangen war. Drei Sätze sind fragmentarisch da: I. Allegro maestoso, II. Andante und III. Scherzo, ein Schlusssatz fehlt. Anscheinend sind davon nur Klavierskizzen vorhanden, die erst 1981 als Fragmente einer geplanten Sinfonie aus Schuberts letzten Lebenswochen erkannt wurden. Die Bearbeitungen, die im Programmheft erwähnt werden:
– Rudolf Leopold (Cellist), für 3 Celli und Kontrabass
– Klaus Arp (Komponist/Dirigent), für Bläseroktett
– Peter Gülke (Musikwissenschaftler), „Aktualisierung“
– Brian Newbould (Musikwissenschaftler)
– Pierre Bartholomée (Dirigent/Komponist) (revidierte Fassung von Newbould)
– Luciano Berio („Rendering“, neues Stück auf Basis Schuberts)

Und dann eben Roland Moser. Der hatte schon 1982 das Andante bearbeitet, als „fragmentarisches Klangbild“, das die Skizze des zweiten Satzes orchestrierte, aber nicht ausschmückte, nicht ergänzte – nicht versuchte, ein nie existierendes Original herzustellen (wie Newbould und Bartholomée), sondern „nach den Regeln heutiger Restaurierungskunst, die darin besteht, zum Beispiel bei einem nur teilweise erhaltenen oder beschädigten Fresco, auf keinen Fall das Original wiederherzustellen, sondern dessen ursprüngliche Gestalt allerhöchstens mit Umrissstrichen anzudeuten.“ (So Roman Brotbeck in den Liner Notes zur letzten CD des Schubert-Zyklus vom KOB mit Holliger, auf der dieses Andante zu finden ist, 2021 bei Sony erschienen – habe ich dann gleich beim Konzert noch gekauft.) Was Moser dabei herausstricht – und das betonte er auch in der Konzerteinführung wieder: die Kontrapunktik, die – kurz von dem Tod Schuberts „in eine völlig neue Welt“ weise (Brotbeck), wie sie schon im Beginn der „Unvollendeten“ angelegt sei. „Kurz vor seinem Tod führt Schubert die Zuhörenden an die geheimnisvolle, nie erklärbare Schwelle, die zu überschreiten keinem Lebenden je gegeben ist. Hier ist auch der Ort des geheimnisvollsten Sinfoniebeginns, der je von einem Komponisten gefunden worden ist“ (Holliger-Zitat in Brotbecks Liner Notes).

Für dieses Konzert – es handelte sich, soweit ich verstanden hatte, um eine Erstaufführung – hat Moser nun auch die Sätze I und III ergänzt. Moser beschreibt die Quelle (wenn ich richtig verstehe 1978 publiziert, aber erst 1981 als Sinfonie-Fragment erkannt) wie folgt: „Erhalten sind zwölf grosse, zweizeilig eng geschriebene Seiten mit drei Sätzen: einem ersten mit zwei Anfängen bis zum mittleren Doppelstrich, und danach nur einem rätselhaften Schluss zwischen Trauer und virtuosem Übermut. Der zweite, ein Andante in h-Moll erscheint fast nackt, ohne übliches Beiwerk, mit einem nachträglich durchgestrichenen Schluss. Der dritte Satz ist mit ‚Scherzo‘ überschrieben, aber in völlig neuer Sicht durchgeführt, ohne die üblichen Wiederholungen, in einem sich fortlaufend entwickelnden polyphonen Satz. Von einem Finale fehlt jede Spur.“ (Programmheft)

Moser wählte nun für jeden Satz eine andere „Hörbarmachung“ – das Andante von 1982 nannte er „ein fragmentarisches Klangbild“ – und beschreibt sein Vorgehen so: „Die komplette Exposition des ersten Satzes entspricht Schuberts früherer Instrumentationsweise. Statt der fehlenden Durchführung bildet eine neu komponierte leise, dünn instrumentierte Brücke den Übergang zu einer zunächst immer noch im Schatten liegenden kürzeren Reprise. Die Coda folgt wieder ganz Schuberts Schreibweise. Im traumhaften Andante wurden keine Stimmen für Übergänge hinzugefügt. Einzig eine kleine, nachträglich von Schubert eingefügte Fis-Dur-Episode wurde klanglich etwas hervorgehoben. Die durchgestrichene Coda wird bloss von einem einfach Streichquartett gespielt. Daran anschliessend wird der polyphone Scherzo-Satz an Stelle des Orchesters bis zum Schluss durchgehend von einem Streichquintett (mit zwei Celli) ausgeführt.“ (Programmheft)

Das Gehörte jetzt auch noch zu beschreiben fällt mir schwer – aber Moser macht tatsächlich das Fragmentarische erfahrbar, er zieht einen Vergleich: „ein Textfragment – etwa von Hölderlin – kann Gedanken auslösen nach Herkunft und möglichem Ziel. Und irgendwie gelingt es ihm, die Skizze, die ja in der Aufführung materialisiert werden muss, als Fragment erfahrbar zu belassen (ganz im Gegenteil zu den Fassungen von Newbould, von der mir in Gielens Einspielung das Andante vorliegt, oder der Bartholomée-Fassung, die noch so üppig ausfällt, dass ich eher an Romantik denn an Beethoven denke). Er geht im ersten Satz einen Mittelweg zwischen dem Versuch, den Satz „stilecht“ (in Schuberts Stil bzw. einem von dessen Stilen) zu orchestrieren und der Hörbarmachung des Fragments.

Im zweiten Satz steht dann quasi das Fragment eben als teilweise erhaltenes Fresco vor uns, als „fragmentarisches Klangbild“. Noch bevor der Satz verklingt, steigt Holliger vom Podest und setzt sich auf einen Stuhl neben dem Konzertmeister, hört, wie das ganze Orchester, für den Rest zu. „Aus dem Gemälde wird eine Zeichnung.“ – so Moser lapidar dazu. Den letzten Satz spielt dann ein Streichquintett mit zwei Celli, und diesen empfand ich wohl als Höhepunkt dieses „Sinfonie-Fragments“. Die fortlaufende Entwicklung des Satzes, die Reduktion des Materials und der Besetzung – eine enorme Stringenz bei zugleich grösster Transparenz.

Dass Luciano Berio den Tanzcharakter herausstreicht, dass bei ihm das Scherzo zu einem Rondo/Scherzo wird und stellenweise fast in einen Faux-Barock Fugen-Groove kippt, passt sehr gut, klingt für mich aber zugleich auch ziemlich aufgepfropft. Macht ja nichts, weil Berio sein „Rendering“ (ich höre es von der Tudor-CD „Schubert-Epilog“ der Bamberger Symphoniker unter Jonathan Nott) ja gleich ganz als eigenes Werk behauptet.

Wo ich längst aus dem Konzertbericht in die Coda gerutscht bin, füge ich – Florian Hausers Text aus dem Programmheft weiter ausschlachtend – noch ein paar Worte zu den anderen Bearbeitungen an. Zu jenen von Leopold und Arp steht da nichts weiter, aber zu Gülkes „Aktualisierung“ schon: „Er nahm sich das Sinfoniefragment vor, um Schubert zu rehabilitieren und zu beweisen, welch revolutionäres Potential in diesen Skizzen liegt. Der traditionelle Rahmen der Sonatenform werde, sagt Gülke, von innen heraus gesprengt, weil Schubert an substantielle Hindernisse gekommen sei: Tonarten widersprächen sich, Reprisen fänden nicht statt, kontrapunktische Verfahren bestimmten plötzlich den Satz, der in jeder Hinsicht weit in die Zukunft weise“. „Immerhin“, so Hauser lapidar und zu Newbould überleitend, „hat Gülke eine Spielbare Fassung hergestellt, wie das auch der britische Musikforscher Brian Newbould tat. Der griff dabei gehörig in die Substanz von Schuberts Skizzen ein, ergänzte hier und glättete dort, rekonstruierte nach eigenen Vermutungen, komponierte neu und gruppierte manche Elemente neu.“ Bartholomée nun habe Newboulds Vervollständigungen als „zu respektvoll und konservativ“ angeschaut, fügte das Scherzo des Sinfonie-Fragments D 708A als zusätzlichen dritten Satz ein und erweiterte das Fragment zu einer viersätzigen Form. Ausserdem setzte er chromatische Hörner und Trompeten ein und zeigte sich damit als nicht gerade historisch korrekt.“

Und mich irritiert gerade: die Version, die mir vorliegt, enthält dieses Scherzo gar nicht, ist aber als D 936A/780A [sic] angeschrieben – aus der Box zum 50. Geburtstag des Orchestre Philharmonique de Liège, mit dem Bartholomée seine Fassung für Ricercar eingespielt hat; die Original-Ausgabe war aber wirklich viersätzig, beim Discogs-Eintrag für die LP stimmt zusätzlich noch was mit den Zeitangaben nicht, aber auf den abgebildeten Plattenlabeln und der Rückseite stimmt es wohl wieder. Was weiter verwirrt ist, dass der dritte Satz von D 936A (der vierte der LP) „Allegro moderato“ heisst, wenn es doch ein Scherzo ist – das scheint auf Newbould zurückzugehen, den ihn schlicht umbenannte (vermutlich seiner Bearbeitung entsprechend).

Von allem gerade gehörten – II. Andante von SWR/Gielen (Newbould-Version), II. Andante von Holliger/KOB (Moser-Version, von der neuen CD), I/II/III (bzw IV, weil er ja III aus D 708A einschob) von Liège/Bartholomée (seine eigene Version) sowie Berios „Rendering“ (Bamberger/Nott) – finde ich tatsächlich Moser am interessanten und ansprechendsten. Er lässt dem Fragment seine Unfertigkeit, seiner Fassung wohnt eine Brüchigkeit inne, die mir sehr passend scheint. Umso schöner wäre es natürlich, wenn Holliger nach dem 2020 eingespielten zweiten Satz nun auch noch die dreisätzige Version einspielen würde, wie am Sonntag im Konzert zu erhören war.

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