Antwort auf: The Incredible Jimmy Smith at the Organ – James Oscar Smith (1925/28-2005)

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1960: Neue Working Band / Jam Session #3 / Enter Stanley Turrentine

Jimmy Smith – Crazy! Baby | Das Jahr 1959 war nach den Sessions für „Home Cookin'“ aufnahmetechnisch bereits wieder vorbei. Aber 1960 lief wieder mehr, und die erste Session, die schon am vierten Tag des Jahres stattfand, erschien auch bereits im selben Jahr auf Platte – eine der besten Platten aus Smiths Diskographie, wie ich finde (auch wenn die Frau auf dem Cover schlecht ausgeschnitten und aufgeklebt wurde).

Leonard Feather schreibt in seinen Liner Notes, das Album sei Smiths „first LP release in several months“ – das war also nach der schnellen Kadenz der Jahre davor erwähnenswert. Um diesbezüglich rasch die letzten Jahre zu summieren (nur bei Discogs geschaut, also mglw. nicht akkurat):

1958: Groovin‘ at Smalls‘ Paradise Vol. 1 & Vol. 2, House Party
1959: The Sermon!
1960: Crazy! Baby

Damit war das Tempo bei Smith in normale Bahnen gelenkt worden. 1961 und 1963 erschienen jeweils zwei Alben, 1962 und in den Jahren 1964-69 dann nochmal je eines. Ab 1962 brachte die Konkurrenz von Verve ja auch regelmässig neue Smith-Alben heraus, es scheint also sinnvoll, dass Blue Note sich etwas beschränkte (ein anderes Beispiel: Coltranes Prestige-Alben von 1957/58 erschienen auch noch bis 1964, und auch von den vier legendären Prestige-Alben des Miles Davis Quintet erschien das letzte erst 1961).

Neun Stücke nahm Smith am 4. Januar 1960 bei seiner ersten Session im neuen Studio Van Gelders in Englewood Cliffs auf, sieben davon landeten auf der LP, die zwei weiteren als Bonustracks auf der CD (1989). Los geht es mit dem fast neunminütigen „When Johnny Comes Marching Home“, eine unerwartete Wahl: „Here is a theme which, for all its antiquity and frequent use in what might be considered corny contexts, nevertheless has a harmonic basis well suited to jazz improvisation“. Los geht es „outside the induction center – ‚Marching in the street,‘ says Jimmy, ‚using an Oriental sound to blend with the rebel sound.‘ Next comes what Jimmy refers to as an ‚Irish vamp,‘ though to these ears the C-and-G pedal point seemed to suggest rather the advance of a Scots regiment. Then the trio settles into a regular tempo in C Minor. The beat moves a trifle too fast for marching, but never too fast for not swinging.“ (Leonard Feather in den Liner Notes)

Das erste Solo gehört dann Quentin Warren, dem neuen Gitarristen, dessen Ton ähnlicher dem von Kenny Burrell als dem seines Vorgängers Eddie McFadden – aber kleiner und mit etwas mehr Twang als bei Burrell. Er hält sein Solo kurz, dann übernimmt Smith für sein erstes langes Solo des Albums. Der Dritte im Bunde, Donald Bailey, hat schon im Intro ausgiebig sein Können zeigen dürfen und begleitet die Soli weiterhin abwechslungsreich, scheut nicht davor, abgedroschene Ideen abzuwandeln (der penetrante Rim-Shot auf 2, der relativ früh in Smiths Solo einsetzt, klingt eher wie ein Wood-Block als der Rahmen einer Trommel?). Warren findet in der Begleitung ebenfalls ein paar neue Wege, stellenweise rifft er hinter Smith, der, von Bailey angetrieben, ein phänomenales Solo spielt, das einmal mehr seine herausragende Stellung unter den Organisten demonstriert. Seinen Ton hält er in diesen Ideenflügen in der Regel recht schlank, streut ein paar hohe Triller ein, ein paar Dissonanzen – zu denen dann auch Warren noch etwas beiträgt, der offensichtlich gut zuhört und blitzschnell reagiert. Das ist atemberaubende Musik, und damit ist der Ton für den Rest des Albums gesetzt.

„Makin‘ Whopee“ und „A Night in Tunisia“ sind danach auf der ersten Seite zu hören. In „Makin Whoopee“ kommt der Garner-Touch zum Einsatz, der Ton also dicker, altmodisch, aber das swingt auch hier wieder wahnsinnig, auch dank Warrens four-to-the-bar Begleitung. Feather denkt hier auch an Sy Oliver-Stücke wie „T’ain’t What You Do“, und auch das ist nicht von der Hand zu weisen. In „Tunisia“ kommt die übliche Routine zum Einsatz (mit dem Interlude – so hiess das Stück anfangs – und dem Solo-Break).

Auf Seite B sind vier etwas kürzere Stücke zu hören. „Sonnymoon for Two“ ist ein Feature für den damals gemäss Feather neunzehnjährigen Quentin Warren an der Gitarre. „Mack the Knife“ erschien als B-Seite der Single-Version von „Johnny“ und ist eine weitere an Garner erinnernde Nummer mit diesem jumpenden Swing und einer Four-to-the-Bar-Begleitung der Gitarre. „What’s New“ ist ein Balladenfeature für Smith (die Versionen von „Tunisia“ und „What’s New“ vom April 1958 waren damals noch nicht bekannt), der hier auch dick aufträgt, altmodisch, aber sehr sehr toll. „Alfredo“ ist eine Hommage an Alfred Lion, ein catchy Stück in Moll, das eigentlich auch fast von John Patton stammen könnte – Warren kriegt hier das erste Solo, Bailey haut hinter ihm Rim-Shots … das erste Album mit dem neuen Gitarristen, und gleich eins der besten Studio-Alben, die Smith überhaupt aufnahm. Für mich bleibt das ganz, ganz grosses Kino – eine Art Zwischenfazit von Smith, knapp vier Jahre nach dem ersten Album (und über ein Dutzend Alben später). Auch Donald Bailey ist hier ein paar Schritte weiter, und das sollte sich demnächst auszahlen.

Die Bonustracks sind „If I Should Lose You“ und „When Lights Are Low“ – ersteres ein damals noch recht oft gespielter Standard, hier als Ballade von Smith dargeboten, mit einem schönen kurzen Solo von Warren, letzteres ein Stück von Benny Carter, im mittelschnellen Tempo, und hier klingt Warren zu Beginn seines Solos ganz kurz fast wie sein Vorgänger.

Die CD-Ausgabe von 1989 sieht etwas anders aus (bei mir ist das Cover auch noch anders beschnitten, das Fenster vom Haus oben rechts ist angeschnitten und ich hatte es noch gar nie als solches zur Kenntnis genommen, weil nur die untere Hälfte zu sehen ist und ich mich nie drauf geachtet hatte):

Musik: Sternstunde / Cover: meh / Auto: schon ganz nett (Jaguar?), auch wenn Autos natürlich nicht so super …

Jimmy Smith – Open House | Ich erwähnte oben, dass Donald Baileys Entwicklung sich auszahlen sollte. Was ich meinte: am 22. März 1960, jetzt im neuen Studio von Rudy Van Gelder, das genügend Platz bot, fand die dritte und letzte grosse Jam-Session von Smith statt. Und geladen waren dieses Mal nur drei Bläser, Gitarre und Schlagzeug übernehmen die regulars, also Quentin Warren und Bailey. Und letzterer macht schon im Opener der ersten Scheibe, die 1968 herauskam, so viel Druck, dass das auch Art Blakey nicht viel besser gekonnt hätte (anders, klar). Die geladenen Bläser sind andere – der Generationenwechsel bei Blue Note kündet sich an (auch wenn Morgan, Mobley und Donaldson natürlich weiterhin zum „roster“ gehörten): Blue Mitchell, Jackie McLean und Ike Quebec sind an Bord und Mitchell spielt im mit 16 Minuten längsten Stück das erste Solo. McLean folgt mit einem funky BLues-Solo aus der Trickkiste von Charlie Parker und Bailey dreht hinter ihm richtig auf. Smith schiesst ihn dann mit einem seiner „Bremsmanöver“ quasi ab, das er dann beim letzten Solisten, Ike Quebec früh im Solo wiederholt. Jetzt sind Bailey und Smith völlig in Fahrt und Quebec scheint sich pudelwohl zu fühlen, ist – wie davor jeweils Lou Donaldson – noch im grössten Tumult die Ruhe selbst, haut eine tolle Linie nach der anderen raus, stets mit dem kernigst-möglichen Ton. Ein Beinah-Zitat der „Marseillaise“ bringt er auch noch unter gegen Ende – und ich habe das Gefühl, dass er Smiths Signal, er solle zu einem Ende kommen, ignoriert. Für diesen ist das Bett dann längst gemacht und er spielt ein klasse Blues-Solo, wie ich echt nur von ihm kenne. Warren fängt irgendwann hinter dem Leader zu riffen an und wir hören wieder das Trio in Topform. Die Bläser bringen das Stück nach einer Viertelstunde dann allmählich zu Ende, natürlich mal wieder mit einem Fade-Out.

„Old Folks“ ist das erde Balladenfeature auf den beiden Alben – und es ist ja eigentlich klar, wem der Song von Willard Robison [so heisst er, auch wenn fast alle, auch Hentoff in den Liner Notes, zumindest im Booklet des CD-Twofers, „Robinson“ schreiben] gehört, den Mildred Bailey 1938 populär machte: Ike Quebec natürlich, dem alten Mann hier, mit Jahrgang 1918 der älteste mitwirkende hier. Über die Güte von Quebecs Balladenspiel braucht nichts weiter gesagt werden. Smith spielt ein kurzes Intermezzo, getragen, nicht ohne ein paar typische Effekte, die er aber äusserst geschmackvoll und behutsam platziert.

Seite zwei läuft nach demselben Schema ab: „Sista Rebecca“ ist natürlich keine Nonne, sondern … ein Blues von Jimmy Smith, und netterweise verzichtet Leonard Feather hier auf Plattheiten, wie er sie sonst gerne mal raushaute. Einmal mehr ist die ganze Band dabei. Quebec, Mitchell, McLean, Smith ist die Reihenfolge hier, und alle sind hier phantastisch drauf, besonders auch Bailey, der nicht nur hinter Smith sehr aktiv agiert. Aktiver als auf dem Titelstück ist auch Warren an der Gitarre, der allerdings erneut kein Solo kriegt.

Zum Ausklang des ersten Albums ist das zweite Balladenfeature zu hören, „Embraceable You“. Nach einer kurzen Einleitung von Smith übernimmt McLean und auch sein Feature ist hervorragne. Warren setzt auch hier wieder aus (wenn ich mich nicht verhöre, spielt er auf keiner der vier Balladen dieser Session mit).

Jimmy Smith – Plain Talk | Auf dem zweiten Album wiederholt sich das Schema: zwei lange James, jeweils von einem Balladenfeature gefolgt. Los geht es mit einem typischen Smith-Groove, doch das Stück, „Big Fat Mama“, stammt von Lucky Millinder. Die Stimmung ist zu Beginn etwas zurückhaltender, weniger aufgekratzt. Quebec spielt das erste Solo, und es ist einmal mehr faszinierend, zu hören, wie er es gestaltet, mit langen Pausen, oft mit kurzen Linien, wie er dabei seinen Ton moduliert, mal eine dreckige Phrase einstreut, die ein wenig an Ben Webster erinnert – und dennoch ein völlig stimmiges, kohärentes Statement herauskommt. Blue Mitchell folgt und Bailey beginnt mit Rim-Shots und verdichtet sein Spiel phasenweise etwas. Dann übernimmt Smith, mit einem gehaltenen Ton erstmals, Bailey scheppert ein paar seiner schrägen Fills dazu … und die Gitarre, das wird jetzt endgültig klar, pausiert hier bisher. Bailey spielt irgendwann hinter Smith fast so viele Fills wie er Beat spielt, und die Gitarre taucht auch auf. Fast könnte man glauben, Smith habe inzwischen in Sachen Dramaturgie den Dreh auch bei grösseren Besetzungen allmählich raus. Sein Solo – McLean setzt hier aus – dauert fast die zweite Hälfte der elf Minuten, und dafür, dass dieses kleine Stücklein so harmlos begann, ist das einmal mehr beeindruckend, wohin Smith es führt. Das Thema am Ende bricht unvermittelt wie die Ruhe vor dem Sturm wieder herein und gehört einmal mehr Smith.

Das nächste Balladenfeature gehört dann natürlich Blue Mitchell, er spielt „My One and Only Love“ – für mich ein mit Coltrane/Hartman assoziiertes Stück, aber deren Einspielung folgte ja erst noch. Nat Hentoff meint in den Liner Notes passend: „He gets a quintessential brass tone – open and ringingly free – and his conception is of a lucidity and economical eloquence which remind me of the late Freddie Webster.“ Ein grosses Kompliment, das Mitchell sich für seinen Auftritt hier – der mit einer unbegleiteten Kadenz endet – auch wirklich verdient hat.

Auf der zweiten Seite geht es mit „Plain Talk“ von Smith los, dem Opener der Session. Hier sind wieder alle drei Bläser dabei, die Reihenfolge ist die gleiche wie in „Open House“: Mitchell, McLean, Quebec, und dann der Leader – und der hat schon im Thema Spass mit kleinen Fills und erweist sich einmal mehr – das habe ich wohl bei den Texten über die bisherigen Jam-Sessions zu wenig herausgestrichen – als hervorragender Begleiter.

Den Abschluss macht dann Ike Quebec, der ein zweites Feature kriegt: „Time After Time“. Das ist eher eine Walking Ballade, aber einmal mehr eine wunderbare Performance und ein würdiger Abschluss für eine Session, die wie mir scheint viel zu wenige bekannt ist. Da das Line-Up hier viel stabiler ist als bei den Aufnahmen von 1956-58, bin ich heute der Meinung, dass das hier von den Smith-Jams wohl der allerbeste ist. Und das überrascht mich gerade selbst am meisten – es ist wohl das Eingeständnis, dass die Session vom Februar 1958, so gut sie ist, einfach etwas weniger gelungen ist, Tina Brooks und „The Sermon“ hin oder her. Die beiden LPs „Open House“ und „Plain Talk“, die es bei Blue Note soweit ich sehe effektiv bloss einmal, 1992, auf CD (beide zusammen auf einem Twofer) gab, sind vermutlich auch weil sie erst mit so viel Verspätung erschienen sind, nicht sehr bekannt. Schade!

Die Abfolge der Session (gemäss jazzdisco.org):

1. tk.2 Plain Talk – Blue Note BST 84296
2. tk.3 Sister Rebecca – Blue Note BST 84269
3. tk.4 Embraceable You – Blue Note BST 84269
4. tk.6 Old Folks – Blue Note BST 84269
5. tk.7 Open House – Blue Note BST 84269
6. tk.8 My One And Only Love – Blue Note BST 84296
7. tk.10 Big Fat Mama – Blue Note BST 84296
8. tk.12 Time After Time – Blue Note BST 84296

* Blue Note BST 84296 Jimmy Smith – Plain Talk
* Blue Note BST 84269 The Incredible Jimmy Smith – Open House
[alles auf: Blue Note CDP 7 84269 2 The Incredible Jimmy Smith – Open House / Plain Talk]

Jimmy Smith – Midnight Special | Um 1960/61 herum, als dieses Album erschien, kristallisierte sich wohl die Standard-Formation für Orgeljazz heraus – zumindest gibt es sie um den Dreh herum z.B. bei Jack McDuff oder Johnny „Hammond“ Smith erstmals auf Platte. Smith, wir haben es gesehen, bevorzugte ein Trio ohne Saxophon. Doch als er am 25. April 1960 zu Van Gelder ging, war auch er mit der Formation unterwegs (wie zuvor bei der Session mit Percy France, klar, und davor im Rahmen grösserer Besetzungen immer wieder mit Lou Donaldson). Dass gleich zwei Alben in der Besetzung entstanden, ist aber doch bemerkenswert – und mit wem auch, denn das war das erste wichtige Unterfangen auf Blue Note, bei dem Stanley Turrentine zugegen war. Und im Gegensatz zur Session mit Percy France, deren Quartettmaterial keine ganze LP füllte (gut, es gab noch einen Outtake mit France …) passt hier alles, und es entstehen zwei LPs, die dann auch tatsächlich relativ zeitnah herauskamen.

„Midnight Special“ ist die erste davon, bei mir die zweite, und auch die, die immer hintangestanden hat. Heute läuft sie zum ersten Mal, ohne dass ich „Back at the Chicken Shack“, „Messy Bessie“, „When I Grow Too Old to Dream“ und „Minor Chant“ schon wieder im Ohr hätte. Kenny Burrell kam übrigens zu spät: von den zehn Stücken des Tages entstanden die ersten vier ohne ihn, er fehlt hier auf dem zweiten Stück, „A Subtle One“, einer Turrentine-Komposition, und auf „Why Was I Born“, einer wunderbaren Ballade, die auch Coltrane (mit Burrell – sogar im Duo!) aufgenommen hatte, aber die Aufnahme von 1958 erschien erst 1962. Los geht es mit dem Titelstück, einem zehnminütigen langsamen Blues von Smith, im dem auf Anhieb alles passt – ein langsam brennender „blues classic“, wie Bob Blumenthal in den Liner Notes zur RVG-Ausgabe meint (ich höre die alte CD, aus unbekannten Gründen habe ich von den zwei Alben jeweils beide Ausgaben).

In „A Subtle One“ ist wunderbar zu hören, wie Turrentine seine Linien und vor allem seinen grossen, altmodischen Ton formt. Er ist, darin wohl Lou Donaldson vergleichbar, ein mit allen Wassern gewaschener Musiker, der aber sehr populäre Musik machte – ohne deswegen auf dumm oder simpel zu machen. Zwei Soli umrahmen den Beitrag von Smith und in beiden gibt es mehrere Höhepunkte, die er geschmackssicher anpeilt, ohne je „over the top“ zu gehen.

Die zweite Seite enthält drei Stücke. Los geht es mit „Jumpin‘ the Blues“ von Jay McShann, dem letzten Stück, ganz am Ende der Session entstanden ist – das Tempo ist schnell, aber an mir zieht das Stück etwas vorbei. „Why Was I Born“ ist dafür dann tatsächlich wunderbar, Turrentine beschleunigt im Solo, hat diese rockende Phrasierung drauf, die in sich schon swingt, auch ohne dass Smith drunter rollen und Bailey sein feines Doubletime auspacken würde (das er mit recht tiefen Trommelschlägen – Steh-Tom? – grundiert, ohne je laut zu werden). Als Closer gibt dann „One O’Clock Jump“ von Count Basie – auch das keine offensichtliche Wahl, und ebenfalls eine Performance, die mich nicht so richtig umhaut – das beschränkt sich hier auf den Titeltrack und die Ballade, und dann am ehesten noch auf „A Subtle One“ – mit der Musik ist überhaupt nichts falsch, aber Turrentines eigene Basie-Hommage (die Idee, das Stück hier zu spielen, mag also seine gewesen sein), „A Chip Off the Old Block“, ist wesentlich überzeugender (im Oktober 1963 aufgenommen und bei mir einer der Gewinner der Umfrage, wenngleich kein Top 30-Material).

Turrentine hatte übrigens davor schon mit Dizzy Reece aufgenommen: am 3. April 1960 mit Dizzy Reece. Doch diese Session blieb zusammen mit der letzten, die Reece für das Label machte (auch mit Turrentine), bis 1999 unveröffentlicht, als das Material auf der CD „Comin‘ On“ herauskam.

Jimmy Smith – Back at the Chicken Shack | Erst 1963 kam die zweite Platte mit Musik von der Session vom 25. April 1960 heraus. Dazwischen brauchte Blue Note noch das Anfang 1962 aufgenommene „Jimmy Smith Plays Fats Waller“ heraus. Hier stimmt für mich gleich von Beginn weg alles. Das Titelstück ist zugleich der Opener und ein weiterer der langsamen Blues-Meisterwerke von Smith. Burrell und Turrentine tragen tolle Soli bei, Bailey agiert inzwischen längst als überaus souveräner Begleiter (den man darob nur zu gerne vergisst). Im zweiten Stück der ersten Seite, einer zehnminütigen Version von „When I Grow Too Old to Dream“, ist das Tempo mittelschnell, und wird im Two-Beat präsentiert, wie Miles Davis es populär gemacht hatte. Ein ideales Tempo für alle vier Beteiligten. Turrentine legt vor, und da Burrell hier noch nicht dabei ist, läuft das Stück nach dem gleichen Schema wie „A Subtle One“ ab: nach Smith ist Turrentine gleich noch ein zweites Mal zu hören. Ohne Burrell zu beleidigen, der auch wegen dieser Sessions zu einem meiner liebsten Gitarristen wurde: die Gitarre fehlt keine Sekunde. Turrentine selbst hat mit Shirley Scott, seiner Ehefrau und musikalischen Partnerin an der Orgel in den Sechzigern (neben weiteren schönen Alben mit Burrell) auch ein Album ohne Gitarre gemacht („Dearly Beloved“), und John Patton hat mit Sax und Drums sein heftiges Album „Understanding“ eingespielt.

Die B-Seite besteht hier auch nur aus zwei Stücken, und das sind, genau wie die beiden auf der ersten Seite, seit vielen Jahren Lieblingsstücke von mir: „Minor Chant“ ist das zweite Original der Session und das vierte und letzte Stück, auf dem Burrell noch nicht zugegen ist. Turrentine nahm es zwei Monate später für sein eigenes Debut bei Blue Note, „Look Out!“, erneut auf, dann mit Horace Parlan am Klavier. Es handelt sich um ein 32taktiges Stück in Moll, catchy aber recht verhalten, doch eine tolle Vorlage für eine weitere heisse, mittelschnelle Performance. Turrentines Solo lässt die Temperatur ansteigen, er zitiert unterwegs den „Funeral March“. Smith übernimmt dann und das Zusammenspiel mit Bailey ist so toll, dass mir hier auch auch ein anderer Gedanke wieder einmal durch den Kopf geht: ein Duo-Album der beiden wäre schon auch super! (Das gibt es wohl noch seltener, aber Rhoda Scott arbeitet sogar bevorzugt in dem Format und hat auch Alben nur mit ihrer Orgel und Schlagzeug aufgenommen.) Am Ende gibt es noch Fours von Turrentine mit Bailey.

Den Ausklang macht dann das erste Stück mit Burrell, und auch das längste der Session: zwölfeinhalb Minuten dauert „Messy Bessie“, wir sind wieder im Blues-Territorium, obwohl es sich um ein 32taktiges Stück handelt, das harmonisch an „Confirmation“ erinnert, vom Groove her aber eher an Horace Silver („The Preacher“) denken lässt. Turrentine kriegt erneut den grössten Platz – und nutzt seine Chance einmal mehr souverän. Nach dem ersten Solo ist Burrell maximal entspannt, mit leicht gedämpften aber wunderbarem Ton, während Smith in der Begleitung und im Solo, wie überhaupt bei der gesamten Session, eine für seine Verhältnisse ziemlich aufgeräumte Klangpalette verwendet (die Garnerisms sind hier für einmal ganz verschwunden, die tauchten wohl in erster Linie dann auf, wenn er ganz auf sich gestellt bzw. nur im Trio unterwegs ist und für Abwechslung zu sorgen hat). Turrentine soliert auch hier am Ende ein zweites Mal – und er glänzt ein letztes Mal mit seinen vokalen, weit ausschwingenden Linien, seiner völlig eigenständigen Phrasierung. Das abschliessende Thema präsentiert dann wieder Smith, und es klingt ein wenig „messy“. Bob Blumenthal schreibt dazu, dass Smith dafür die Solo-Changes verwende, was ich so verstehe, dass das hier für die Solos nicht die Changes des Stückes genutzt werden, was mir aber überhaupt nicht klar. Jedenfalls klingt das hier so maximal entspannt aus, wie es davor schon zwölf Minuten lang ging.

Bei dieser einen Session entstand nicht nur genügen Material für die zwei obigen LPs sondern noch ein Stück mehr, eine schöne Version des Standards „On the Sunny Side of the Street“, der als Opener auf der LT-LP „On the Sunny Side erschien (der Rest der LP entstand schon 1958/59, siebe oben). Das Stück entstand direkt nach „Messy Bessie“, es passt insofern also gut als Bonustrack ans Ende von „Back at the Chicken Shack“. Illinois Jacquet spielte „Sunny Side“ sehr gerne, aber Turrentine eignet es sich hier ganz selbstverständlich an. Burrell spielt das erste Solo, danach wieder Turrentines Einstieg, der eng am Thema bleibt.


Kenny Burrell und Stanley Turrentine bei Burrells Session vom 8. Januar 1963

Die Session in ihrem Ablauf und mit den wichtigsten Releases (gemäss jazzdisco.org):

Van Gelder Studio, Englewood Cliffs, NJ, April 25, 1960
Stanley Turrentine, tenor sax; Jimmy Smith, organ; Kenny Burrell, guitar #5-10; Donald Bailey, drums.

1. tk.2 A Subtle One – Blue Note BLP 4078
2. tk.3 When I Grow Too Old To Dream – Blue Note BLP 4117
3. tk.5 Why Was I Born – Blue Note BLP 4078
4. tk.5A Minor Chant – Blue Note 45-1878, BLP 4117
5. tk.7 Messy Bassie – Blue Note BLP 4117
6. tk.10 On The Sunny Side Of The Street – Blue Note LT-1092, CDP 7 46402 2, (J) TOCJ-5941/44
7. tk.12 Midnight Special – Blue Note 45-1819, BLP 4078, BST 89901, BN-LA400-H2
8. tk.16 Back At The Chicken Shack – Blue Note 45-1877, BLP 4117, BST 89904, BST2 84429, BN-LA400-H2
9. tk.17 One O’Clock Jump – Blue Note 45-1820, BLP 4078
10. tk.19 Jumpin‘ The Blues – Blue Note 45-1820, BLP 4078, (J) BNJ-71106

* Blue Note BLP 4078, BST 84078, CDP 7 84078 2 The Incredible Jimmy Smith – Midnight Special
* Blue Note BLP 4117, BST 84117, CDP 7 46402 2 The Incredible Jimmy Smith – Back At The Chicken Shack
* Blue Note LT-1092 Jimmy Smith – On The Sunny Side
* Blue Note BST 89901 Jimmy Smith’s Greatest Hits!
* Blue Note BN-LA400-H2 Jimmy Smith
* Blue Note BST 89904 Various Artists – Blue Note’s Three Decades Of Jazz, Volume 1 – 1959-1969
= Blue Note BN-LA160-G2 Various Artists – A Decade Of Jazz, Volume Three – 1959-1969
* Blue Note BST2 84429 Various Artists – The Best Of Blue Note
* Blue Note (J) BNJ-71106 Various Artists – Soho Blue
* Blue Note (J) TOCJ-5941/44 Various Artists – Rare Tracks: The Other Side Of Blue Note 4000 Series
* Blue Note 45-1878 Jimmy Smith – Minor Chant, Part 1 & 2
* Blue Note 45-1819 Jimmy Smith – Midnight Special, Part 1 & 2
* Blue Note 45-1877 Jimmy Smith – Back At The Chicken Shack, Part 1 & 2
* Blue Note 45-1820 Jimmy Smith – Jumpin‘ The Blues / One O’Clock Jump

Coda: 13. Juni 1960 | Bei einer Session vom 13. Juni 1960 mit Stanley Turrentine, Quentin Warren, Sam Jones und Donald Bailey wurden nur zwei zufriedenstellende Stücke fertig gestellt: „Smith Walk“ und „Lonesome Road“. Sie erschienen erstmals 1984 auf der LP „Special Guests“ (diese enthält zudem je zwei Stücke von der Jam-Session vom August 1957 – dazu oben mehr – und zwei vom Album mit Grant Green von Anfang 1963 – dazu später mehr).

Smith mit einem Kontrabass ist Studio zu bringen mag zwar an Majestätsbeleidigung grenzen, aber Sam Jones klingt natürlich gut. Gemäss Bob Blumenthals Liner Notes zur RVG-Ausgabe, die ich gerade online nachlese (ich hatte „Prayer Meetin'“ längst, als die RVG herauskam – fand das Album nie richtig toll, bin aufs Wiederhören gespannt) sind das die einzigen Aufnahmen von Smith mit Kontrabass aus den Blue Note-Jahren.

Im ersten Stück, „Lonesome Road“, passt der Groove und Turrentine und Smith spielen lange, gute Soli (die Nummer dauert fast 9 Minuten), das zweite ist interessanter, aber weniger erfolgreich umgesetzt: ein Original von Smith namens „Smith Walk“, dessen interessante Changes wieder mal auf Smith den Modernisten hinweisen, der ja auch Musik von Gillespie oder Monk spielte, in dessen Band auch mal ein junger Coltrane ein paar wichtige Erfahrungen gemacht hat (leider nicht dokumentiert) … die Band navigiert relativ zögerlich durch das anspruchsvolle Stück, besonders Warrens Comping klingt so, als sei er sich nie ganz sicher, ob er richtig liegt. Dennoch eine schöne kleine Fussnote, bevor dann im Rahmen der vier letzten Alben, die Smith Ende Januar/Anfang Februar 1963 für Blue Note aufnahm, noch einmal zu einer erfolgreichen Begegnung mit Turrentine kam (eben „Prayer Meetin'“).


Donald Bailey bei der George Braith-Session vom 26. März 1963

(Alle Fotos stammen aus dem Booklet der RVG-Ausgabe von „Midnight Special“ und natürlich von Francis Wolff)

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