Antwort auf: Comic-Empfehlungen

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tezuka
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Zweimal wilhelminische Erziehung…und ein Titel der mich anmacht.

Im folgenden möchte ich zwei Comics vorstellen in denen die strenge Erziehung im Kaiserreich thematisiert wird – wobei eben diese Erziehung bei zwei unterschiedlichen Autoren völlig unterschiedliche Konsequenzen hat.

Zum einen Junker – Ein preussischer Blues des Belgiers Simon Spruyt. „Ein preussischer Blues“. „EIN PREUSSISCHER BLUES“. Was für ein genialer Subtitel! Und eben diesen Blues bekommt der Protagonist Ludwig von Schlitt auch (der in vielerlei Hinsicht Asanos Punpun gar nicht unähnlich ist, aber dies nur am Rande.) Ende des 19. Jahrhunderts als Sohn eines ostelbischen Gutsbesitzers geboren, steht der schüchterne Junge ganz im Schatten seines extrovertierten (rebellischen, standesbewussten )älteren Bruders Oswald. Der Vater ist ein im Deutsch-Französischen Krieg versehrter Veteran (hier tuen sich eventuell Parralelen zu Chris Wares „Jimmy Corrigan“ auf), Mutter Claudia – aus verarmten Adel stammend – ist von geradezu krankhaftem Standesdünkel, etwas was sie an ihren ältesten Sohn weitergibt. Und natürlich Gretchen, das Hausmädchen, wie es aussieht Ludwigs einzige Vertraute.

Ludwig nun – der ähnlich wie Punpun oder der ältere James Corrigan – nicht seinen Platz im Leben findet, ergeht sich in Tagträumereien, in denen ihm der Vater als einbeiniger Ordensritter erscheint (die Geschichte spielt wohl in Ostpreussen), eine Ente (Enten sind das bevorzugte Jagdwild in der Umgebung von Schlitt) und – immer wieder – der Kaiser. Kaiser Wilhelm. Kaiser Wilhelm das Arschloch. Kaiser Wilhelm, der ihn fragt wo er – Ludwig – war als Friedrich der Große die Armeen der Habsburger besiegte. Ludwig kommt mit seinem Bruder auf eine Kadettenanstalt – und auch dort ist sein Verhalten sehr uneindeutig. Einerseits findet er sich nicht mit dem militärischen Drill zurecht, andererseits ist er schnell bei seinen Vorgesetzten angesehener als sein vorlauter Bruder. Es sieht ganz so aus als ob er langsam aber sicher in die ihm angedachte Rolle hineinwächst. Doch dann…kommt es zu einer großen Frühjahrsparade…zu der wer der Ehrengast ist? Richtig, Kaiser Wilhelm höchstpersönlich! Was wird Ludwig tun? Vor dem Kaiser salutieren? Vor dem Kaiser in den Staub fallen? Den Kaiser stürzen und die Revolution ausrufen? Oder wird gar nichts aufsehenerregendes geschehen, die Parade ist zuende und das Leben geht weiter? Nun, wir wollen ja nicht spoilern, lest selbst! Nur soviel – das Ende wird euren Blick auf Geschichte ähnlich verändern wie Tarantinos „Inglorious Basterds“!

Eine anderen Weg geht die Münchner Zeichnerin Birgit Weyhe mit Im Himmel ist Jahrmarkt.

Birgit Weyhe ist ja sonst eher für „Madgermanes“ bekannt, aber diese Familienchronik spricht mich noch etwas mehr an. Viele interessante Figuren und Personenkonstellationen – so die kleine Birgit, die von ihrer exzentrischen Großmutter Hertha genervt ist, die beiden ungleichen Schwestern Marianne und Lea – die eine emanzipiert, die andere spießig – oder die skurrile Begegnung von Birgits Vater Michael mit seinem  Vater. Aber wir wollen dem Thema treu bleiben und uns auf die Brüder Edgar (Birgit Weyhes Großvater mütterlicherseits) und Carl Friedrich, genannt Ititi konzentrieren. Anders als Simon Spruyt räumt Weyhe den Eltern keinen großen Raum ein sondern konzentriert sich ganz auf die Brüder. Genauer auf den jüngeren Bruder, der anders als von seinen Eltern angedacht, nicht mit Bleisoldaten spielt, sondern mit Puppen. Ein Skandal, schließlich kann dann ja später nie ein richtiger Kerl aus ihm werden! Also werden seine Puppen auf einem Scheiterhaufen verbrannt, Carl Friedrich wird alles weibliche ausgetrieben. Schon in jungen Jahren gibt er die Verletzungen die er erleidet an andere weiter und verpfeift zum Beispiel Bruder Edgar bei den Eltern. Im Bild oben sehen wir wie er der kleinen Birgit den Spaß an einem selbstgestalten Schulranzen nimmt, er nimmt ihr auch jede Fantasie (Winnetou hats nie gegeben!). Während sein Bruder ein kulturell interessierter, im Leben stehender Frauenheld ist, ist Onkel Carl ein verbitterter, humorloser Miesepeter – aber Weyhe schafft es gekonnt uns sein Verhältnis irgendwie verständlich zu machen!

Fazit: Sowohl Spruyt als auch Weyhe verstehen es gekonnt die Gefühlskälte der wilhelminischen Epoche anschaulich darzustellen – während Spruyt allerdings eher allgemeiner und metaphorischer bleibt (Ludwigs Verhalten und Wesen wird nie so ganz klar), ist bei Weyhe alles etwas offentsichtlicher, alles klarer warum Carl Friedrich so ist wie er ist. Ausserdem ist der eine Bruder Oswald eine eher obskure, unsypathische, für seine Zeit typische Person, wärend Bruder Edgar eindeutig in seiner Normalität und in der Rolle die er  – im gestandenen Mannesalter – als vorbildlicher, lieber Opa ausfüllt, eindeutig Sympathieträger. Beiden Zeichnern ist zuzusprechen dass sie beid er bidnerischen Gestaltung ihrer Comics viel Wert auf Experiment legen – natürlich auch wieder auf völlig unterschiedlichen Wegen!

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